Fondazione Prada, Mailand/I
Zwischen den Welten – Vom Industrieareal zum Kulturkomplex
Räume zwischen Zeiten und Welten ziehen Literaten, Filmemacher und Künstler gleichermaßen in ihren Bann. Der am 9. Mai eröffnete Ausstellungskomplex der Fondazione Prada in einem ehemaligen Industriequartier in Largo Isarco im Süden von Mailand verkörpert eine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit von Atmosphären, Materialien und Nutzungen. Entworfen vom Office for Metropolitan Architektur (OMA) umfasst das umfangreiche Raumprogramm neben flexiblen Ausstellungs- und Tagungsräumen einen wandelbaren Kinosaal, eine Bibliothek, mehrere Appartements für Künstler und einen Empfangsbereich mit der „Mafia-Bar“.
Im Jahr 2000 erwarb der Modekonzern Prada die Spirituosen-Brennerei „Società Italiana Spiriti“, welche mit Gebäuden aus dem Jahr 1910 und später, also mit Laboratorien, Lagerhallen, Zisternen und Silos, einige Innenhöfe mit stadträumlicher Qualität einrahmt. Zunächst als Lager genutzt, wurde OMA im Jahr 2007 beauftragt, das introvertierte Industriequartier mit einer vielfältigen Sequenz von architektonischen Räumen für die Kunstsammlung der Fondazione Prada umzugestalten. Unter der Leitung von Rem Koolhaas und Chris van Duijn fügten die Architekten das Raumprogramm behutsam in die bestehende Struktur ein.
Heute verbindet sich der morbide Charme der historischen Industrieanlage mit den mondänen Details von Ergänzungsbauten wie dem Kino, der Ausstellungshalle und dem Turm zu einer Einheit mit kontinuierlich interagierenden Gegensätzen.
Besucher, die sich von Süden über die Via Orobia dem Komplex nähern, blicken auf ein fast unverändert erscheinendes Gebäudeensemble, dessen rauer, sorgfältig ergänzter Putz von längst vergangenen Zeiten erzählt. In der städtebaulichen Silhouette zieht das mit insgesamt drei Kilogramm Blattgold überzogene, mehrstöckige „Haunted House“ alle Blicke auf sich, in dem Kunstwerke von Robert Gober und Louise Bourgeois zu sehen sind. Das hauchdünne Edelmetall umhüllt den unebenen historischen Putz wie auch alltägliche Geländer und Dachrinnen mit einem entmaterialisierenden Glanz, der auf die umliegenden Räume ausstrahlt.
Industrieller Glanz, flexible Räume
Beim Zugang über das Werkstor fällt der Blick der Besucher unmittelbar in die Halle des zweigeschossigen Ausstellungspavillons. Fassadenplatten aus erstarrtem Aluminiumschaum erinnern von Ferne an Travertin- oder Waschbetonplatten und umgeben die Ausstellungshalle auf den Wand- und Dachflächen fugenlos. Materialien wie Polykarbonat-Stegplatten, Stahlgitter und Aluminium-Lochbleche unterstreichen die industrielle Anmutung der Ergänzungsbauten, zu denen auch der noch nicht fertiggestellte Ausstellungsturm zählt. Gestapelte Travertin- oder Acrylglasplatten formen eine Ausstellungslandschaft, die wie eine Bühne mit mobilen Verschattungselementen immer wieder neu arrangiert werden kann.
Mehr als zwanzig Jahre nach seiner Gründung verfügt die Fondazione Prada mit dem Kulturkomplex in Mailand und dem venezianischen Palast Ca’ Corner della Regina am Canal Grande über zwei international bedeutende Ausstellungsorte. Zeitgleich mit dem Beginn der 56. Internationalen Kunstbiennale von Venedig eröffnete die Fondazione Prada die Doppelausstellung „Serial Classic“ am 9. Mai in Mailand und Venedig mit mehr als 70 antiken Kunstwerken. Die aktuellen Ausstellungen „In Part“ und „An Introduction“ in den flankierenden Altbautrakten, Lagerhallen und Silos thematisieren in einem intimen Rahmen den fragmentarischen Körper als bedeutendes Sujet der Gegenwartskunst.
Neben dem internationalen Publikum soll das Kulturquartier in Largo Isarco mit Literaturlesungen und Filmvorführungen auch Menschen aus dem umgebenen Stadtquartier anziehen. Blicke von der Dachterrasse des vergoldeten „Haunted House“ verdeutlichen, wie im Zuge der fortschreitenden Stadtsanierung Neubauten den Ausstellungskomplex mehr und mehr umschließen.
Mit seiner baulichen Fortschreibung spiegelt das umgenutzte Industrieareal wie ein Palimpsest die Schichten seiner Geschichte wie auch die Positionen der internationalen Kunstszene wider. Die vielfältigen, oft gegensätzlichen räumlichen Variablen entsprechen dem offenen Programm mit experimentellem Anspruch der Fondazione Prada, in dem Kunst und Architektur von den gegenseitigen Herausforderungen profitieren.
Bettina Schürkamp