Leuchtender Kristall am Perlfluss
Guangzhou International Finance Center/CN
438,60 m Höhe misst der Turm des neuen Guangzhou International Finance Center, mit dem Wilkinson Eyre Architects und Arup Engineering den Beweis erbrachten, dass die Aufgabe Wolkenkratzer durchaus noch neu gedacht werden kann. So enstand für 880 Mio € im Delta des Perlflusses nicht nur der derzeit elfthöchste, sondern auch einer der schönsten Wolkenkratzer der Welt.
Ungebrochen scheint der Drang der Menschen, in die Höhe zu bauen. Noch vor einem Jahrzehnt von Vielen als Dinosaurier der Architekturwelt abgetan, erlebt der Bau immer höherer Wolkenkratzer heute wieder weltweit einen Boom. Und zwar weniger in den USA, dem Land der ersten Wolkenkratzer, des Empire State-Buildings oder des so tragisch zerstörten World Trade Centers, sondern in Europa, wie z.B. in London und Moskau oder noch viel mehr in Asien bzw. am Persischen Golf.
Für Chris Wilkinson, dessen Büro Wilkinson Eyre Architects nun in Guangzhou einen der schönsten Wolkenkratzer der Welt baute, ist der Drang des Menschen in die Höhe zu bauen fast schon eine Conditio Humana.
Die Minarette und Kuppeln Arabiens, die mittelalterlichen Türme San Gimignanos oder auch nur die Stadtveduten Canalettos aus dem 18.Jahrhundert führt der Architekt gern an, wenn er darüber spricht, dass Türme immer schon jede Stadt von Rang ausgezeichnet hätten. Die immer zahlreicher werdende Menschheit mit ihren gewachsenen Möglichkeiten sieht Wilkinson heute aber auch in noch stärkerer Verantwortung das Überleben der Spezies, wenn nicht sogar des ganzen Planeten, mit möglichst nachhaltigen Gebäuden zu sichern. Deshalb bauten Wilkinson Eyre Architects mit dem Hongkonger Büro von ARUP in Guangzhou einen Wolkenkratzer, der auch mit seinem schonenden Ressourcenmanagement beeindruckt. So sehr, dass er, kaum fertig gestellt, nun schon zwei renommierte Preise erhielt: den CTBUH Award 2011 und den Lubetkin Prize 2012.
Eigentlich hätten in Guangzhou, der Achtmillionen-Metropole Südchinas, die Vielen besser unter dem Namen Kanton bekannt ist, zwei Zwillingstürme entstehen sollen. So zumindest sah das Ergebnis des 2004 entschiedenen Wettbewerbs us, das zwei Türme mit 110 Stockwerken am Ende von Guangzhous neuer, gewaltiger Parkachse zum Ufer des Perlflusses hin vorsah, um die herum innerhalb weniger Jahre die Downtown völlig neu entstand. Zusammen mit dem 2010 eingeweihten Guangzhou Opernhaus von Zaha Hadid sollten die Türme dem neuen Stadtviertel ein unverwechselbares Gesicht verleihen. Doch finanzielle Probleme veranlassten den Auftraggeber „Yuexiu Property Group” zunächst auf einen Turm des „International Finance Centers“ zu verzichten, der nun doch von Kohn Pedersen Fox Architects mit einer ganz anderen Architektur und noch viel größerer Höhe gebaut werden soll.
Der Qualität des gebauten Turms, für dessen 448.00 m² Fläche Wilkinson Eyre ein unverwechselbares architektonisches Konzept besaßen, tut diese Einschränkung jedoch kein Abbruch. Von der Nutzung her ein Hybrid, ist seine Architektur vor allem aus der Konstruktion heraus entwickelt, einem monumentalen Stahlröhren-Diagonalraster, das integral alle verschiedenen Teile zu einem attraktiven Fokus des sehr heterogenen Quartiers zu verdichten versteht. Diese tragende Konstruktion umhüllt über den vier Turm-Untergeschossen mit U-Bahnstation und Geschäftspassagen ein weites 3-geschossiges Eingangsfoyer sowie von der zweiten bis 66ten Etage Büros und darüber ein Four-Seasons-Hotel mit einem 100 m hohen Atrium – dazu noch eigene Geschosse für Technik und Küchen, einen Fitness-Club, zwei Geschosse einer öffentlich zugänglichen Skylobby sowie nicht zuletzt noch einen Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.
Die Konstruktion
Sicherheit und Effizienz standen bei der Konzeption des International Finance Centers an erster Stelle. Vor allem um die Windlasten im Taifun gefährdeten Guangzhou auf den 438,60 m hohen Turm entscheidend zu reduzieren, fiel die Wahl auf die Form eines sphärischen Dreikants mit abgerundeten Ecken, dessen Querschnitt sich zuerst bis zum ersten Drittel des Turms kontinuierlich ausdehnt, um sich dann wieder stark zu verjüngen. Seine drei doppelt gekrümmten Fassadensegmente wurden dazu mit einem Radius von 5,1 km als sehr transparente wie tragende Filter entwickelt, die nun vor allem den Blick auf die Konstruktion des Turms frei geben: Ein gewaltiges Diagonaltragwerk (Diagrid) von Stahlröhren in Windkanaluntersuchungen optimiert, das monumentale Rautenfelder, von den Architekten als „Diamonds“ bezeichnet, über 12 Geschosse hinweg ausbildet.
Die Konstruktion stützt sich auf mit Beton gefüllte, diagonale Stahlröhren, deren Durchmesser sich von unten nach oben von 180 cm auf 90 cm allmählich reduzieren und alle 12 Geschosse bzw. 54 m in Knotenverbindungen münden.
Als eine gewaltige Röhre funktioniert dabei das Diagonaltragwerk, welches als geschlossener Ring die meisten axialen Kräfte des Gebäudes aufnimmt. Äußere Stahl- und innere Betonröhre teilen sich so, über Bodenträger verbunden, bis zur 67 ten Etage nach dem Prinzip „Röhre in einer Röhre“ alle Lasten gemeinsam.
Darüber trägt fast allein das Diagrid die letzten 43 Stockwerke, um dem Hotel ein 100 m hohes Atrium zu ermöglichen, über dessen Galerien alle 344 Hotelzimmer erschlossen werden.
Dank der hohen Belastbarkeit des mit Michael Kwok von Arup/Hongkong entwickelten Diagonaltragwerks als auch seiner inhärenten Steifigkeit konnten der Materialeinsatz und damit die Lasten erheblich reduziert werden. Das Finance Center ist so 20% leichter als vergleichbare Wolkenkratzer. Die Form eines transparenten Dreikants erlaubte darüber hinaus sehr angenehme Geschosstiefen für die Büroetagen von 11 bis 15 m, welche nun optimal das Tageslicht nutzen können und damit Energie für künstliche Belichtung einzusparen helfen. Als eines von derzeit 48 Gebäuden in der Volksrepublik China erhielt das Projekt so dank Wärme- und Luftrückgewinnung sowie solarer Warmwasseraufbereitung auch eine LEED-Zertifizierung mit 69 Punkten.
Dabei gelang den Architekten und Ingenieuren auch Erstaunliches in Sachen Brandschutz, wie etwa die Tatsache, dass das Hotelatrium dank elaborierter Entrauchung als nur ein Brandabschnitt genehmigt wurde. Zwei Stunden Feuerbeständigkeit waren für den Wolkenkratzer verlangt und sind gewährleistet – mit Fluchtetagen nicht wie nach den chinesischen Baubestimmungen alle 15, sondern nur alle 17 Etagen.
Ein neues Stadtwahrzeichen
Mit faszinierender Souveränität erhebt sich Wilkinson Eyres schlanke Spindel nicht nur zum nahen Ufer des Perlflusses, sondern auch über alle architektonischen Verirrungen der neuen Downtown Guangzhou.
Elegant verändert sich stetig seine Erscheinung mit dem Licht, mit den Entfernungen und Richtungen, aus denen man den Turm sieht: Einmal eher gedrungen rund wie eine konische Röhre, einmal sehr schlank und dynamisch wie der Flügel eines Airbus; einmal als distanzierter dunkler Körper und dann ein paar Meter weiter wieder als ein überraschend durchlässiger Kristall mit monumentalen Facettenfeldern.
Dem konvektionierten Einerlei seiner Umgebung verweigert sich dieses Haus, dessen Form, Raum und Konstruktion integral zusammen gedacht und entwickelt wurde, erfreulich erfolgreich. Und noch mehr besticht dabei sein trotz gewaltiger Dimensionen erfolgreiches Ringen um humane Maßstäblichkeit. Wie von den gewaltigen Dimensionen des Baukörpers das Große zum Kleinen durchdacht und klar durchdekliniert gestaltet wurde! Wie sich alles kongenial zueinander fügt, vom Baukörper über die monumentalen Röhrenrauten und das einladende Eingangsfoyer zu den doppelgeschossigen Glaslamellenbändern seiner horizontalen Teilabschnitte, um am Ende jede Etage, ja sogar die einzelnen Räume des Gebäudes von außen noch ablesbar zu gestalten!
Einladend offen, nicht hermetisch geschlossen ist so außen wie innen das Erlebnis dieses neuen Wolkenkratzers, der das ganze Können des britischen Architekturbüros demonstriert. Ein Können, das sich nicht zuletzt weit über der Stadt im 100 m hohen Atrium des Hotels erweist, einem Kristall im Kristall, dessen gefaltete Galerien effektvoll beleuchtet den Blick auf den Himmel über Guangzhou frei geben. So wie nachts in der Stadt nun auch die gewaltige Röhren des Diagrids hervortreten dank vieler LEDs, welche dann zugleich den Turm in sehr geheimnisvolle Lichtstimmungen tauchen – ganz so, wie es heute jedem wahrhaften Stadtwahrzeichen weltweit gebührt.