Schulbau neu gedacht

OSZ Sozialwesen / Anna-Freud-Schule, Berlin

Vielleicht erkennt man zukunftsweisenden Schulbau auch daran, dass er sich der Vorstellungswelt des Bauherrn entzieht. Im vorliegenden Fall hatte eine Architektenjury einstimmig für einen Entwurf von BFM Architekten gestimmt, der am Ende dann nicht realisiert wurde. Es kam der übersichtlichere 4. Platz zum Zug.

Als wir uns mit unserem Heftpaten Tobias Wulf von wulf architekten, Stuttgart, in seinem Büro trafen, wollten wir wie immer über die zahlreich mitgebrachten realisierten Schulbauten diskutieren. Das taten wir auch und wunderten uns zunächst kurz, warum Tobias Wulf mit einem Mal ein Projekt von BFM Architekten auf den Tisch legte, das noch nicht gebaut ist. Und auch nicht gebaut werden wird. Der 1. Preis in einem nichtoffenen Wettbewerb 2016 zeigte den Entwurf eines neuen Schulgebäudes für das OSZ Sozialwesen / Anna-Freud-Schule in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf. Das hier könne, so Tobias Wulf, paradigmatisch für den Schulbau stehen, der die Zukunft sei. Wir vereinbarten ein Treffen. Mit Tobias Wulf und BFM Architekten in Berlin. Um darüber zu sprechen, was denn „neuer“ Schulbau ist, was davon in dem gescheiterten Vorschlag von BFM steckt und ob er möglicherweise genau daran scheiterte. Und wo – wenn schon nicht in Berlin – der deutsche Schulbau Vorbild sein könnte.

Es gibt keine Rezepte

Schulbau ist ein anspruchsvolles Ding. Die Anforderungen, die in Normen und Bauvorschriften, in den Produktekatalogen der Industrie und den Aktenvorlagen der Verwaltungen fixiert sind, sind hoch. Und teils widersprüchlich. Und auch: veraltet. Aber wenn das so ist, was bedeutet dann die Gewissheit, dass sich „jede Gesellschaft auch in einem Schulkonzept ausgedrückt.“? Für Donatella Fioretti, die mit
Tobias Wulf, dem Autor dieses Textes und später noch mit José Gutierrez Marquez im Besprechungsraum von BFM Architekten mit Blick auf die Spree zusammen saß, ist diese Gewissheit real. Und sie ist auch ein Hinweis darauf, dass sich die Schulbauarchitektur tatsächlich im steten Wandel befindet. Und nicht bloß nur die pädagogischen Konzepte, die sich dem zunehmendem Wandlungsdruck seitens der Ökonomie ausgesetzt sehen, die immer deutlicher ihre Ansprüche jenseits altehrwürdiger Curricula formuliert. „Wissensvermittlung“, so Donatella Fioretti, „hängt damit auch an den spezifischen Raumkonzepten.“ Tobias Wulf ergänzte: „Entweder man begreift Schulbau als Impuls für das Leben, oder Schulbau ist der Ausdruck eines reinen Zwecks. Die Schule wird bei letzterem zum Garanten, die Grundversorgung in der Bildung zu garantieren, mehr aber auch nicht.“ Aber würde das nicht schon ausreichend sein, eine Hülle für einen Zweck, dessen Erreichen vor Ort ausprobiert wird? Und wie hier etwas herstellen, das über die Zweckhülle hinausginge?

Einen Grund für die schleppende und teils der europäischen Entwicklung hinterherhinkende Entwicklung im deutschen Schulbau sieht der Stuttgarter Architekt im mangelhaften „Problembewusstsein bei den Auftraggebern. In der Regel sind das öffentliche Bauherren, die nicht in der Lage sind zu erkennen, welche Verantwortung sie an dieser Stelle für die Bildung übernehmen. Bildung ist unsere Zukunft. Wird das nicht verinnerlicht, dann stimmt mit der Gesellschaft etwas nicht, wenn hier nicht in Qualität und Innovation inves-tiert wird.“ Beinahe am Ende des Gesprächs, in dem vieles benannt wurde, was hier schiefläuft, kommt aber noch dieser Satz: „Es gibt keine Rezepte.“ Was auf den ersten Blick bedauerlich erscheint, auf den zweiten aber genau das meint, was Architekt und Architektin in dem Gespräch klarstellen.

Kollision mit Normen und Vorschriften

Was machen, wenn man etwas Neues machen will? Vor allem anderen braucht man dafür – so Tobias Wulf – den Willen aller, „neue Wege zu gehen, Genehmigungsbehörden, Brandschützer. Die sich zunächst immer erst einmal abwehrend äußern. Wie auch hier beim OSZ: ‚Diese riesigen Glaswände, die kann doch – weil F90-Glas – kein Mensch bezahlen!‘“ Aber
genau das ist der Punkt: Die Glaswände waren natürlich nicht als F90 geplant, das wäre „sehr dilettantisch und eben unbezahlbar!“, so Donatella Fioretti. „Wir arbeiten immer innerhalb
der gültigen Normen, wo wir mit hervorragenden Fachplanern das Optimum ausloten! Das Grundprinzip unseres Entwurfs basiert ja eben darauf, dass in den Obergeschossen die Rettungswege auf Rettungsbalkone, d. h. im Freien geführt werden. Das führt u. a. dazu, dass
die innen liegende Erschließung nicht als Rettungsweg genutzt werden muss. Die höheren Anforderungen an die großen, Geschosse übergreifenden Hallen, in denen Rettungswege
in Schulen geführt werden dürfen, mussten daher nicht umgesetzt werden.“

Also warum nicht einfach auf Bauherrenseite einmal innehalten und Luft holen und „dann damit beginnen, sich in das Konzept einzuarbeiten und es möglicherweise sogar mit zu entwickeln“? Tatsächlich ist der Siegerentwurf (man muss das immer wieder einmal schreiben) auf den ersten Blick gewagt: ein Sichtbetonstützenraster wie im Industrie- oder Werkstattbau, das eine Flexibilität verspricht, die gar nicht mal so gemeint ist. Das Raster ermöglicht vor allem offene, weite Ebenen, die nicht bloß in der Horizontalen sehr durchlässig sind. Dann diese überbreiten Flure, die keine Flure, sondern „informelle Räume“ sein sollen, also Alleskönner. Kein Lehrerzimmer irgendwo zentral gelegen, sondern ein Konferenzraum, für alle. Lehrerstationen auf jeder Ebene. Gruppenräume statt Klassenzimmer und dann noch Räume für die besonderen Schülerbedürfnisse: hier für Berufsschüler die Laufbahn- und Drogenberatung.

Brandschutz mit Lernlandschaft? Das geht!

Neben, ja vor den Debatten zu Kosten und Energie steht im Schulbau der Brandschutz. Wer hier nicht liefert, ist raus. Nun haben BFM Architekten mit ihrem Konzept der Lernlandschaft – das viele offene Räume mit möglichen Brandlasten beinhaltet – etwas sehr Schwieriges versucht: Ihr Konzept der fließenden Räume kollidiert scheinbar mit sämtlichen Regeln des Brandschutzes. Was auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist: Die Architekten haben für ihr Konzept zahlreiche Entfluchtungskonzepte neu entwickelt, um genau diesem Widerspruch zu begegnen. So haben sie den kompakten Baukörper in den Obergeschossen mit durchlaufenden Fluchtbalkonen versehen. Vier Treppenhäuser, in jeder Gebäudeecke eins, sowie die beiden zentralen auf der jeweiligen Längsseite ermöglichen die Flucht vor Brand. Die Balkone sind ohne Brüstung oder Geländer gesichert, ein Stahlnetz über die komplette Geschosshöhe begrenzt den Balkonraum, ohne ihn zu schließen. „Menschen hinter Gittern“ (Donatella Fioretti), auch ein – allerdings eher irrationaler, emotionaler – Grund, warum der Siegerentwurf möglicherweise beim Bauherrn infrage gestellt wurde (2007 hatten Fink und Jocher den Deutschen Architekturpreis für ihr Studentenwohnheim in Garching gewonnen, mit umlaufenden, durch ein Drahtnetz begrenzten Balkonen).

In ihrem Brandschutzkonzept konnten die Architekten nachweisen, dass neben der einfachen wie plausiblen Entfluchtung über die kurzen Wege auch die klassische Lösung mit Brandabschnitten möglich ist, ohne das gestalterische oder nutzerspezifische Nachteile in Kauf genommen werden. „Alles ist in sich stimmig“, so die Architektin, „aber wenig entspricht der Normalität. Das ist wohl das Problem.“ „Ich glaube“, so Donatella Fioretti weiter, „die Nutzer sind viel weiter als die, die das Geld geben. Auf Nutzerseite gibt es sehr präzise Vorstellungen von den Räumen, von einem Mix unterschiedlicher pädagogischer Konzepte etc. Zum Beispiel wünschen sich viele nicht mehr nur den einen Klassenraum, der nur von einer Klasse genutzt wird, nein, dieser Raum muss auch für andere zusätzlich oder alternativ nutzbar sein. Oder nehmen wir die vielzitierten ‚Lernlandschaften‘: Wie die aussehen könnten, wie die genutzt werden, was man mit ihnen machen kann, das ist meiner Meinung nach auf der Nutzerseite viel gegenwärtiger, als auf der Seite der Bauherren.“

Schulbau im Umbruch / Intelligente Gesprächspartner sind nötig

„Der Schulbau“, so Tobias Wulf, „ist im Umbruch und das ist auch bei den öffentlichen Auftraggebern angekommen. Beispielsweise macht die Stadt München nur noch Schulneubau nach dem ‚Lernhausprinzip‘. Das hat der Münchener Stadtrat so beschlossen. Dieser Schultyp ist nicht vergleichbar mit einer herkömmlichen Flurschule. Oder einer Reihenschule. Das Konzept bedeutet, dass es eine Zahl von Klassen gibt, die zusammengehören, die aber über den Tag alle Flächen nutzen. Verkehrsflächen werden hier zu offenen Lernflächen. Auch wir haben hier die umlaufen­den Balkone realisiert, die den komplizierten Brandschutzanforderungen eine einfache wie effektive Lösung anbietet. Wir brauchen mehr innere Transparenz, z. B. Glaswände, mehr Flächen für die Lehrer, die jetzt verteilt über die Flächen kleine Büros haben“. Dazu merkt Donatella Fioretti an, dass sie beim OSZ trotz extensiverer Flächennutzung den vorgegebenen Rahmen eingehalten haben.

„Das Problem im Umgang mit einen neuen Flächenmanagement sind die alten Kennwerte, nach denen“, so Tobias Wulf, „die Wirtschaftlichkeit beurteilt wird: Verkehrsflächen zu Nutzflächen oder Bruttorauminhalt zu Hauptnutzfläche, eine Viergeschossigkeit darf nicht überschritten werden etc. und dann die Kostenwerte dazu!“

Auf die Frage, ob man nicht dennoch einen Bauherrn über eine intelligente Projektplanung von der Wirtschaftlichkeit der Architektur überzeugen könnte, die sich vordergründig in den Kennwerten nicht widerspiegelt, antwortete Donatella Fioretti: „Aber natürlich geht das! Vorausgesetzt allerdings, man sitzt intelligenten Gesprächspartnern gegenüber. Partnern, die auch bereit sind, einmal andere Wege zu gehen. Die sich trauen, auch eine Fachmeinung dazu holen, die sich beraten lassen … Ich habe das Gefühl, dass man mehr und mehr dabei ist, über das Format der Workshops, der Werkstattgespräche beispielsweise Nutzer, Fachleute und alle möglichen weiteren Betroffenen im Vorfeld der konkreteren Planung an einen Tisch zu holen. Idealerweise sollten im Schulbereich mit dabei sein: Pädagogen, Energieberater, Architekten, Bauherren, Schüler, Eltern … Aber Vorsicht: Nicht allen sollte man einen Bleistift in die Hand geben, dass sie selbst kreativ entwerfen! Den Laien muss man, je nach Einbindung in den Entwurfsprozess, aber in jedem Fall eine Fachsprache zur Verfügung stellen, damit sie auf Augenhöhe am Diskurs teilhaben können.“

Mehr öffentlicher Anteil, mehr Qualität

Bei der Frage nach der städtebaulichen Einbindung zukunftsweisender Schulbauten
waren wir schnell bei den Grenzen des Möglichen. Klar, der von öffentlichen Bauten besetzte Platz sollte in irgendeiner Weise kompensiert werden. Doch in Deutschland sind Schulen meist geschlossene (Schutz)Räume, die, so Donatella Fioretti, „zu schwarzen Flecken im Stadtgrundriss [werden], [zu] undurchsichtigem Gelände.“ Man kann in Deutschland nicht so einfach das Erdgeschoss einer Schule in den Stadtraum öffnen, schnell spielen Aufsichts- und damit Versicherungsfragen eine Rolle. „Öffentlichkeit zu schaffen ist dabei“, so Tobias Wulf, „gar nicht unbedingt nur eine Frage der Architektur, sondern auch die, ob der Hausmeister bereit ist, die Türen offen zu halten oder nicht!“

Erschwert werden das Durchlässigmachen und das Verweben von Schulbauten in den Stadtraum „auch dadurch“, so Tobias Wulf weiter, „dass wenn man einen öffentlichen Versammlungsort in einem Schulbau plant, man sofort in neue Normbereiche kommt. Wir brauchen eine Übereinkunft, die eine Grundqualität sichert. Sonst haben wir immer irgendwann ein WDVS, das uns nach Jahren als Sanierungsfall einholt. Oder: Wie sind die Wände!? Muss das immer Gipskarton sein?! Wie oft wird gespart und am Ende kommt immer das gleiche dabei heraus. Muss das sein? Ich denke nein. Natürlich werden Schulen intensiv genutzt. Wenn die nach fünf Jahren verbraucht sind, liegt das an der fehlenden Qualität, ihrer mangelhaften Robustheit.“

Fazit

Dass Architekten darauf hinweisen, dass es zu wenig Bewusstsein für eine hinreichende Qualität im Schulbau gebe, erscheint so logisch wie irgendwie auch banal; wenn man dieses Thema nicht zu einer Frage des (auch ökonomischen) Überlebens macht. Was vor allem aber in unserem Gespräch herausgekommen ist, dessen Anlass ein ausgezeichneter Schulbauentwurf war, der aus den oben genannten Gründen (möglicherweise) nicht zur Realisierung kommt, ist, dass uns neben allem Geld zweierlei fehlt: ein geeignetes („wirkliches“ DF) Format, mit dessen Hilfe die Planer Bauherren und Nutzer von ungewohnten, ungewöhnlichen Gedanken anschaulich überzeugen können. Öffentlicher Workshop? Experten-Werkstatt? Exkursion?

Und es fehlt die Zeit: „Gute Projekte“, so Donatella Fioretti, „entstehen in einem Prozess … Den gibt es heute immer weniger ausgeprägt. Heute sind die Dinge schon konfektioniert, alles ist fertig. Um weiter zu kommen in unserem Denken über neuen Schulbau, brauchen wir aber das Unfertige, von dem aus wir wieder ganz neu denken können.“ „Man muss einem Projekt mehr Zeit gegen, dass es reifen kann. Schauen, was geht und was nicht. Auch einmal drüber schlafen ... “, so Tobias Wulf abschließend.

Dass die Berliner Senatsverwaltung möglicherweise auch mal über die Entwürfe des Wettbewerbs geschlafen hat, ist nicht auszuschließen. Sicherlich hat sie mit ihrem Nein aber keinen Schritt nach vorne gemacht im Berliner Schulbau. Aber ist der nicht mittlerweile auch höchst relevant im Wettbewerb der Städte?! Be. K.

Objekt: 1. Preis im nichtoffenen Wettbewerb OSZ

Sozialwesen / Anna-Freud-Schule, Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf, entschieden am 7. September 2016 (Juryvorsitz: Bettina Götz, Mitglied Tobias Wulf u. a.)
Standort: Halemweg 24 13627 Berlin
Wettbewerbsaufgabe: Entwurf eines neuen Schulgebäudes für das OSZ Sozialwesen / Anna-Freud-Schule
Bauherr: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Berlin
Architekten: Bruno Fioretti Marquez Architekten,
Berlin. Verfasser: Piero Bruno. Mitarbeit: Simon Palme, Sergey Kolesow www.bfm-architekten.de
Landschaftsarchitektur: cappatti staubach, Berlin www.capattistaubach.de

Fachplaner

Tragwerksplanung: ifb-Frohloff, Staffa, Kühl, Ecker, Berlin www.ifb-berlin.de
Brandschutzkonzept: Peter Stanek – Sachverständiger für vorbeugenden Brandschutz, Berlin

Projektdaten

Nutzfläche Schule: 9 070 m²
Nutzfläche Sporthalle: 1 410 m²
Überbaute Fläche: 3 370 m²
BGF: 17 981 m²
BRI: 79 321 m³
BGF / NF = 1,72
BRI/NF = 7,57
A/V = 0,19

Baukosten

KG 300 – 400: 30 Mio. €
KG 300 – 500: 33,3 Mio. €

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