Im Gespräch mit … Prof. Christian Schlüter, ACMS, Wuppertal

Abends um 18:00 Uhr ist Schluss. Oder?

Als wir uns im April 2023 in München zur Aufnahme des DBZ Podcast trafen – kurz vor der Verleihung des Balthasar Neumann Preises – kamen seitens des ausgezeichneten Architekten, Prof. Christian Schlüter von ACMS Architekten, Stichworte, denen wir in diesem dem Podcast nachfolgenden Gespräch noch einmal nachgehen: Variantenuntersuchung, Vertrauen, Brot-und-Butter-Architektur und die Wandlung der Architekturpreise. Und auch: Kompromisslinie! Ein wild wucherndes Gespräch.
Interview: Benedikt Kraft/ DBZ
Prof. Christian Schlüter,
ACMS, Wuppertal
www.acms-architekten.de
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Prof. Christian Schlüter,
ACMS, Wuppertal
www.acms-architekten.de
Foto: Benedikt Kraft / DBZ

Lieber Christian, wir hatten auf der BAU in München schon miteinander gesprochen, im Zusammenhang mit dem Balthasar Neumann Preis 2023, den ihr im Team mit anderen gewonnen habt. Dabei gab es, wie am Rande, ein paar Stichworte, die wir hier weiterbesprechen wollen: Der erste Punkt für unser Gespräch heute ist die „Variantenuntersuchung“. Was genau kann ich mir darunter vorstellen?

Christian Schlüter: Zuallererst suchen wir immer gute Lösungen. Und um gute Lösungen zu finden, brauchen wir Varianz. Meistens sind wir doch alle, wenn wir endlich die eine Lösung haben, davon überzeugt, dass es die beste ist. Aber es ist durchaus schlau, sich mögliche Varianten anzuschauen. Erst dann hat man eine Vergleichsmöglichkeit und kann die Qualität der Lösung einschätzen.

Fängt man dennoch, nach all der Prüfung im Einzelnen, nicht immer wieder von vorne an?

Ja, mit jedem Projekt fängt man auch immer wieder von vorne an. Natürlich fließt in all das die Erfahrung aus den anderen Projekten ein, aber jedes hat ja neue und andere Fragestellungen. So sehe ich das gerade so sehr gefeierte serielle Bauen auch kritisch, denn es gibt keine Lösung, die immer richtig ist. Der Schlüssel bei der Suche nach mehr Qualität in den Projekten liegt darin, in Varianten zu denken.

Bei unserem Gewinnerprojekt, dem CampusRO, wollte der Bauherr unbedingt einen Holzbau umsetzen. Also haben wir unterschiedliche Holzbauvarianten untersucht. Mit allen denkbaren Zielkonflikten, Stichwort Wirtschaftlichkeit. Oder CO2-Emmissionen, Schallschutz, Oberflächen-, Detailqualitäten, die immer zu Zielkonflikten führen. Um es noch mal zu sagen: Es gibt nicht die eine, immer beste Lösung.

Uns interessiert neben der CO2-Speicherung oder CO2-Einsparung vor allem die Frage, was kostet die Tonne eingespartes CO2? Wir rechnen das oft für uns aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wo es Sinn macht, mit den begrenzten Budgets einen möglichst großen Impact zu erzeugen.

Nachhaltiges Bauen ist am Anfang teurer, das sollte jeder verstehen. Mir fehlt in der Diskussion ein wesentlicher, sicher zu Konflikten führender Aspekt, nämlich weniger zu bauen.

Die Nachhaltigkeitsfrage adressiert auch – und ich denke zurecht – die ökonomischen Fragen. Wenn wir in die Bewertungssysteme schauen und sagen, ich erfülle nun alles das, was ökologisch am besten ist, und bin damit viel teurer, habe ich unter Umständen eine schlechtere Bewertung. Weil meine ökonomische Bewertung eben viel schlechter wird. Und das entspricht auch der Lebenswirklichkeit, die wir im Moment wahrnehmen. Ich habe noch keinen Bauherrn gefunden, der gesagt hat, baue so CO2-neutral, wie es nur geht, ganz egal, was es kostet. Das Weniger Bauen, von dem du sprichst, ist die einfachste Antwort, um Geld und CO2 zu sparen. Es wird aber selten gelingen bei den komplexen sozialen Fragen.

Muss man nicht auch grundsätzlich die aktuellen Bewertungssysteme hinterfragen?

Man sollte sowieso kritisch auf vieles schauen, auch Bewertungssysteme kann man hinterfragen. Ich bin selber Gründungsmitglied in der DGNB und erachte es als richtig, zu sagen, dass wir über konkrete Bewertungen über die Allgemeinplätze zur Nachhaltigkeit hinaus kommen. Der DGNB-Ansatz ist, verschiedene relevante Aspekte gleichrangig nebeneinanderzustellen. Also ökologische Fragen, ökonomische und soziale Fragen. Aber brauchen wir nicht eher ein Vorrangmodell, müssen wir nicht die ökologische Frage als die wichtigere deklarieren? Ich denke, ja.

Was zu höheren Preisen führt und in der Folge zu einer beeinträchtigten Sozialverträglichkeit?

Natürlich. Gerade im Hinblick auf den Klimawandel stellt sich auch global gesehen vor allem eine Verteilungsfrage im Hinblick auf Ressourcen. Wir werden die ökologischen Fragen nicht lösen, ohne Gerechtigkeitsfragen anzugehen. Das macht es so kompliziert, deswegen dauert die Diskussion so lange. Und erst sehr langsam verstehen wir, dass wir zuerst noch ganz andere, grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens und der Ressourcenverteilung stellen müssen.

Beim Thema Variantenuntersuchung denke ich auch an KI. Die könnte sehr effizient ein breites Spektrum von Möglichkeiten erstellen … Die Frage wäre: Wann ist das Optimum erreicht, wann macht man, macht ihr Schluss?

Abends um 18 Uhr.

Doch so früh schon?!

Irgendwann ist Feierabend, 18 Uhr könnte der erreicht sein. Natürlich prüfen wir nicht alles in der gleichen Tiefe, eine gute KI würde das auch nicht tun. Schachprogramme rechnen nicht mehr jeden möglichen Zug aus, die schauen auf Effektivität. So etwa gehen wir auch vor. Auf einer oberen Ebene sagen wir, bestimmte Entscheidungen sind Unsinn, die müssen wir nicht weiter im Detail prüfen. Wir fokussieren uns und gehen dann sukzessive weiter ins Detail.

Aber wann wisst ihr, ob ihr fertig seid?

Ganz fertig sind wir nie. Manchmal bei einzelnen Fragestellungen. Und klar, wir arbeiten immer nach unserem aktuellen Kenntnisstand. Wir finden in jedem Projekt neue Varianten, weil wir uns Fragen neu stellen und versuchen anders zu beantworten. Was hat sich geändert? Was haben wir was dazugelernt, wie hat sich unser Erfahrungsmaßstab verändert?

Beim CampusRO gab es am Ende sechs Varian­ten, die wir ausgearbeitet haben. Die Wahl des Bauherrn war am Ende vielleicht nicht die ökologisch beste Lösung, aber ziemlich nah dran. Der Bauherr muss eben auch auf das Ökonomische schauen … Wir auch, aber wohl anders!

„Ziemlich nah dran“ … Was wäre passiert, wenn es eher „sehr weit weg“ gewesen wäre?

Wenn wir für einen reinen Massivbau beauftragt worden wären, hätten wir es vermutlich nicht gemacht. Aber diese Lösung war nicht Teil unseres Variantenspektrums! Aber klar, wir erkennen schon früh, ob ein Auftraggeber ähnlich tickt wie wir. Wenn in einem frühen Stadium, nach vielen Gesprächen klar wird, dass man nicht gut zusammen kommt, dann trennt man sich wieder, was durchaus gut ist für beide Seiten.

Im Podcast fiel häufiger das Stichwort Vertrauen …

Ohne Vertrauen läuft gar nichts, oder später nur über Anwälte. Das mit dem Vertrauen ging in unserem Campus-Projekt schon recht früh los, der Bauherr hatte sich früh entschieden zu sagen, mit wem er bauen wollte, die Auswahl erfolgt auf Vertrauensbasis. Ein neues, spannendes Wort, jedenfalls im Baubereich!

Der Bauherr also vertraute dem Holzbauunternehmen, dem am Ende ja auch wir sowie die uns vertrauen mussten. In Deutschland haften die Architekten gesamtschuldnerisch mit den ausführenden Unternehmen, ein großes Problem in der ganzen Planungsbranche. An vielen Stellen sind wir auf Industrieprodukte und deren Regeln angewiesen und müssen dafür die Haftung mit übernehmen. Und insofern basiert diese kooperative Zusammenarbeit mit dem Bauunternehmen beim Projekt in Rosenheim auf einer Vertrauensbasis, wo wir uns auf einem hohen fachlichen Niveau austauschen konnten. Und auch darüber streiten mussten, warum etwas richtig ist oder nicht und wo Risiken sind. Hier haben wir auch den Bauherrn mit eingebunden. Hierfür muss er sich Zeit nehmen, um die Risiken zu erkennen, sie für sich zu bewerten und den Weg gemeinsam bis zur Bauübergabe mit zu gehen.

Es gab Kompromisse. Welche?

Es gab vor allem Kompromisslinien wenn uns klar wurde, dass wir es nicht schaffen, den jeweilig anderen auf die eigene Seite zu ziehen.

Dann braucht man einen Moderator. Wer hat moderiert?

Das konnten wir zusammen tun. Wenn man zwei sehr unterschiedliche Positionen hat, kann man gemeinsam eine dritte aufbauen, die dann tragfähig ist. Und diese dritte Position, die vielleicht sogar eine ganz neue Lösung darstellt, wäre ohne die erste Differenz gar nicht entstanden. Insofern ist die anstrengende Suche nach Kompromissen ein spannender Prozess. Hier kann es gelingen, über den Tellerrand zu schauen und sich zu entwickeln. Das macht auch Spaß, deswegen lohnen sich solche auch mal zähen Prozesse.

Das ist dann der Teil der Projektarbeit, der nicht über die HOAI abgebildet wird!?

Die HOAI ist der Versuch, nach bestimmten Parametern eine Pauschalierung vorzunehmen. Das hat mit dem Planungsaufwand nicht immer was zu tun. Manchmal geht die Pauschalierung auf, dann verdienen wir Geld. Manchmal verdient man mit dem Zugewinn von Know-how. Insofern stellen wir uns immer die Frage, welcher Mehrwert ein Projekt für uns hat. Der beziffert sich nicht immer in Euro.

Was nehmt ihr aus dem Campus-Projekt mit in die weitere Projektearbeit?

Viel an Erfahrung! OK, auch ein paar Euro. Wir haben jedenfalls gelernt, wie groß der Vorfertigungsgrad sein muss, um die Fragen nach effizienten und effektiven Abläufen auf der Baustelle zu lösen. Wann z. B. kommen die Sanitärzellen wie mit den Deckensystemen am besten zusammen? Was wir noch mitnehmen ist die Erkenntnis, dass tatsächlich die Schallschutzfragen, insbesondere im Holzbau, fast die größte Relevanz im Wohnungsbau haben. Die meisten denken immer noch, die größte Problematik beim Holzbau sei der Brandschutz. Aber das Thema war schnell geklärt, das haben mittlerweile auch die meisten Feuerwehren verstanden. Aber die Schallschutzfragen haben wirklich eine besondere Bedeutung. Und zwar auf zwei Ebenen: auf der gesetzlich normativen, aber auch in den Köpfen der Bewohner:innen. Wir könnten nun, auch aus ökologischen Gründen, die Grenzwerte absenken, doch es bleibt die Frage, sind die Menschen damit einverstanden?

Wohl kaum. Die hohen Anforderungen an Schallschutz im Wohnungsbau beruhen auf Klageverfahren und den daraus folgenden Urteilen.

Ja, aber unabhängig von der juristischen Frage stelle ich fest, dass selbst dann, wenn alle Normwerte erreicht sind, manche Leute immer noch unzufrieden sind. Weil man natürlich beim besten Schallschutz doch noch die Nachbarn hört, und sei es, weil wir das Ohr auf die Wand legen! Wir sollten daher zur Vermeidung hoher Ressourceneinsätze auch über noch angemessene Erwartungshaltungen diskutieren.

Fast am Ende unseres Gesprächs das Stichwort „Wettbewerb“. Du hast dich positiv dazu geäußert, dass der Balthasar Neumann Preis mehr und mehr auf Alltagsarchitektur fokussiert, du hast es „Brot-und-Butter-Architektur“ genannt. Wenn wir nun einen Preis neu erfinden müssten, was müsste der loben, was auszeichnen?

Ich denke nicht, dass wir einen neuen Preis erfinden müssten. Wir hatten uns gewundert, dass wir mit unserem Projekt – einer Student:innenwohnsiedlung – einen renommierten Preis gewinnen. Die allgemeine Wahrnehmung ist doch die, dass ein Architekturpreis immer etwas sehr Besonderes kommunizieren will, im Sinne von Höher, Schneller, Weiter. Die Botschaft, die man offensichtlich über den Balthasar Neumann Preis jetzt in die Welt sendet, ist, zu sagen, schaut auf das alltägliche Baugeschehen und versucht, das möglichst gut zu machen; in Bezug auf die Nachhaltigkeitsfragen und die sozialen Aspekte. Das empfinde ich als eine sehr positive Entwicklung.

Für die Zukunft wünsche ich mir, euer Preis – aber auch andere – würde gar keine Neubauten mehr auszeichnen. Neubauten sind doch im Moment überhaupt nicht die Aufgabe. Architekturpreise sollten – zumindest einstweilen – grundsätzlich nur noch Projekte auszeichnen, die sich im Bestand bewegen. Und da gibt es heute schon die wunderbarsten und preiswürdigsten!

Das nehmen wir mit in die nächste Preisausgabe 2025. Danke schön.

Sehr gerne!

Mit Christian Schlüter, Geschäftsführender Gesellschafter bei ACMS Architekten, Wuppertal, unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 4. Mai 2023 im Wuppertaler Büro.

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