Angemessen, suffizient und sozial

Größer, dichter, wärmer? DGNB-Geschäftsführerin Christine Lemaitre beschreibt, wie wir die Fundamente des Planens erneuern können und damit sowohl den Klimazielen als auch den Bedürfnissen der Menschen wieder näher kommen.

Die große Verantwortung der Bau- und Immobilienbranche bei Themen wie Ressourcen- und Klimaschutz und dem Schutz der Biodiversität wird und wurde bereits zu Genüge kommuniziert. Was vielleicht nicht bekannt ist, ist, dass wir viel zu lange überlegt und diskutiert haben – damit meine ich uns in Deutschland, aber auch die Weltgemeinschaft – und das berühmte 1,5-Grad-Ziel eigentlich schon unerreichbar geworden ist. Unser Budget dafür reicht noch vier Jahre. In vier Jahren werden wir das alle leider nicht mehr schaffen. Umso mehr müssen wir nun alles tun, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen.

Generell ist die Bereitschaft der Marktteilnehmer mitzumachen meiner Auffassung nach oft schon sehr hoch und die Transformation der Planungs- und Baupraxis schreitet merklich voran. Leider bekommt man diesen Eindruck in einigen politischen Runden mit Verbandsvertretern so nicht. Das ist schade und macht einem auch Sorge, da dadurch die politischen Entscheidungsträger vielleicht oftmals nicht im Bilde sind, was eigentlich auf dem Markt schon passiert. Freilich benötigt eine fragmentierte und kleinteilige Branche wie diese unsere Zeit, um sichtbare Erfolge zu verbuchen. Zudem erstrecken sich die meisten Bauvorhaben von der Planung bis zur Fertigstellung über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Was heute fertiggestellt wird, hinkt seiner Zeit also auch bei einer grundsätzlich nachhaltigen Planung von vor einigen Jahren nicht selten hinterher. Aber auch das sollte sich im Zuge steigender Kompetenzen in der Architekten- und Planerschaft in Zukunft ändern.

Wir sollten uns wegbegeben von altbekannten, linearen Denkmustern hin zu mehr systemischem Denken und Planen, bei dem von Anfang an alle Beteiligte eingebunden sind, Zielkonflikte und Abhängigkeiten diskutiert und gemeinsam abgestimmte Ziele verfolgt werden. Bekanntlich ist der Weg das Ziel und dieser wird von immer mehr Architektur- und Bauschaffenden beschritten.

Es steht außer Frage, dass dieser nicht immer leicht zu gehen ist. Die Gleichzeitigkeit der Dinge, mit denen sich jeder Einzelne derzeit ausein­andersetzen muss, ist für uns alle mit einem Kraftakt verbunden. Es gilt nicht nur, die eigene Arbeits- und Herangehensweise zu überdenken, sondern auch Neues zu erproben, zu lernen, Zusammenhänge durchzudenken und zu verinnerlichen. Denn nur die ehrliche und zielgerichtete Auseinandersetzung mit alternativen Bauweisen und Materialien sowie Ansätzen wie Zirkularität, Lowtech und Suffizienz führen langfristig zum Gelingen. Wie der gesamte Entwurfs- und Planungsprozess zu Beginn der beruflichen Laufbahn müssen auch diese Themen erst verstanden, Handwerkszeug dafür entwickelt und Erfahrungen gesammelt werden, um sie unaufgeregt zu beherrschen.

Wie sieht der Maßstab im Jahr 2030 aus?

Um allen Beteiligten eine Orientierung darüber zu geben, was beim Bauen heute bereits möglich ist und um auszuloten, wo die relevanten Zielkonflikte stecken, haben wir zusammen mit unseren Mitgliedern das „DGNB System Zukunftsprojekt“ entwickelt. Ausgehend von der Frage, wo der Maßstab für zukunftssichere Gebäude im Jahr 2030 voraussichtlich liegt, zeigen wir in gerade einmal zehn Kriterien, wie wir Gebäude künftig planen, bauen, sanieren und betreiben müssen, um zukunftsfähig zu bleiben.

Diese Kriterien sind abgeleitet von den übergeordneten Zielen, die in allen Branchen erreicht werden müssen. Übersetzt in gebäudebezogene Aktivitäten ergeben sich daraus Zielstellungen und Lösungsansätze, die dabei unterstützen, sinnvolle Entscheidungen über alle Lebenszyklusphasen von Gebäuden hinweg zu treffen.

Architektur- und Bauschaffende bekommen dadurch ebenso wie Bauherrschaften eine ver­lässliche ­Orientierung, um die vor uns liegenden ­Herausforderungen in puncto Nachhaltigkeit und Klimaschutz gemeinschaftlich zu meistern. Zudem wollen wir alle Beteiligten ermutigen, neuen Ansätzen und Ideen offen gegenüberzustehen, sich diese anzueignen und sie zum Einsatz zu bringen. Denn mit Hilfe des „DGNB Systems Zukunftsprojekt“ wollen wir richtungsweisende Projekte zu Impulsgebern machen, die sowohl zum Nachdenken als auch zum Nachahmen anregen – Projekte, die aktiv dazu beitragen, unsere Lebensgrund­lage zu schützen, den sozialen Zusammenhalt zu sichern und auch unsere Wirtschaftssysteme zukunftssicher zu transformieren.

Warum Suffizienz nicht gleich Verzicht ist

Das Thema Suffizienz treibt uns dabei als übergeordneter Ansatz besonders um. Leider wird der Begriff häufig mit Verzicht, also niedrigeren Standards und weniger Komfort gleichgesetzt. Doch das ist ein Irrglaube. Vielmehr führt der Ansatz zu einem Perspektivwechsel beim Planen und Bauen, der uns dazu bringt, zu erkennen, was der Mensch braucht, um sich in einem gut gebauten Haus wohlzufühlen.

Für ein gelungenes Zusammenspiel müssen Suffizienz, Effizienz und Konsistenz in jede Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen werden. Während sich Effizienz und Konsistenz primär auf technologische Lösungen beziehen, wird mithilfe von Suffizienz die Angemessenheit adressiert, mit der wir uns aktuell immer noch viel zu wenig auseinandersetzen.

Damit einher geht die ehrliche Selbstreflektion und das in Fragestellen von Marktstandards, die sich etabliert haben, ohne wirklich auf den Komfort der Nutzenden und die Themen der Nachhaltigkeit zu schauen. Und hier liegt mitunter das Problem. Im Zuge der „Höher, schneller, weiter“-Mentalität, die sich auch im Bausektor breitgemacht hat, haben wir verlernt, auf unsere wahren Bedürfnisse zu hören. Beispielsweise verlassen wir uns vollkommen auf die vermeintlichen Errungenschaften der Technik. Deren überbordender Einsatz führt unter anderem dazu, dass unsere sogenannten „modernen“ Gebäude auf dem immergleichen Niveau temperiert und belüftet sind. Mit etwas Abstand betrachtet, ist das doch kompletter Unfug.

Aus der Baugeschichte kennen wir genügend Beispiele, die belegen, dass wir in der Lage sind, durch passive Systeme ein angenehmes und gesundes Raumklima zu schaffen. Studien belegen, dass Menschen sich in Systemen mit einer natürlichen Klimatisierung nicht nur wohler fühlen, sondern auch weniger an Atemwegserkrankungen leiden. Unser Organismus ist nicht darauf ausgelegt, in einem auf theoretischen Berechnungen beruhenden, konstanten Klima zu sitzen, das meist noch nicht mal an die Außentemperatur angepasst ist. Mit Suffizienz einhergehende Lowtech-Ansätze führen also nicht nur zu einer Steigerung des Wohlbefindens, sondern auch zur notwendigen Reduktion von Energie und Materialien. Mit diesem Ansatz wird dann auch schnell klar, dass nachhaltiges Bauen nicht per se teurer ist.

Angemessener planen, ehrlich reflektieren

Suffizienz, betrachtet als Gerechtigkeitsstrategie, bedeutet auch, die tatsächlichen Bedarfe vor der Umsetzung einer Baumaßnahme ehrlich zu reflektieren und am Ende nur das zu bauen, was wirklich gebraucht wird. Die entscheidenden Fragen müssen lauten: Für wen baue ich? Warum baue ich? Wie viel muss ich bauen? Muss ich neu bauen?

Insbesondere die Antwort auf die letzte Frage führt unweigerlich dazu, dass im Regelfall anstelle eines Neubaus der Bestand erhalten bleibt, gegebenenfalls saniert oder in eine neue Nutzung überführt wird. Und genau da müssen wir hin! Jeder Quadratmeter, den wir nicht neu bauen, bedeutet eine enorme Einsparung an grauen ­Energien, Fläche, CO2 und wertvollen Ressourcen.

Zur Aufgabe der Stunde gehört es also, den Bestand zu wertschätzen und unsere Produkte und Lösungen daran anzupassen. Es ist keine Neuigkeit, dass der Leerstand hierzulande viel Potential mit sich bringt. Zahlreiche Gebäude, deren Funktionen nicht mehr benötigt werden, sind frei. Das fängt bei Büro- und Industriebauten an, geht über Ladenflächen und hört angesichts schrumpfender Mitgliederzahlen bei ungenutzten Kirchengebäuden auf. All diese Bauten prägen ihr Umfeld und somit auch die Identität des jeweiligen Ortes. Wir alle kennen ausreichend Projekte, die den Beweis antreten, dass es auch unter Einhaltung geltender Bauvorschriften und mit kleinem Budget möglich ist, Vorhandenes zu revitalisieren und in eine neue Nutzung zu überführen. Der besondere Reiz liegt im Erforschen der Zeitschichten, dem Herausarbeiten vorhandener Qualitäten und dem respektvollen Umgang mit dem Vorhandenen. Zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Nutzenden entstehen daraus dann neue und auf ihr Umfeld reagierende Orte mit viel Charme.

Ganz ohne Neubau werden wir auch in Zukunft nicht auskommen. Allerdings in Maßen und ausgelegt auf lange Nutzungsdauer. Fest steht aber auch, dass wir nicht weiterhin zulassen dürfen, dass Immobilien als begehbare Kapitalanlage verstanden werden, die schnell und günstig hochgezogen und möglichst gewinnbringend weitergegeben werden. Bauen ist kein Selbstzweck. Gute Architektur hat bekanntermaßen mit Beständigkeit, Angemessenheit und Qualität zu tun und stellt den Menschen als Nutzer in den Mittelpunkt.

Soziale Wirksamkeit in der gebauten Realität

Apropos Mensch: Die Frage, inwieweit die Transformation der gebauten Umwelt hin zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz auf eine sozial gerechte Weise erfolgt, ist etwas, das bislang in den Debatten oft zu kurz kommt. Dabei geht es nicht allein um die Frage, ob sich die Nutzer in den Räumen wohlfühlen, gesund und produktiv sein können. Es geht genauso darum, ob die Menschen partizipativ in die Planung und Umsetzung einbezogen wurden. Ob die vorhandenen sozialen Strukturen gestärkt werden und niemand zurückgelassen wird. Es geht um Inklusion ebenso wie um sozioökonomische und kulturelle Vielfalt, um Lebensqualität und Gestaltungsorte für alle, um den Zugang zu sozialen Infrastrukturen, um gewalt- und diskriminierungsfreie Orte des Miteinanders, um Sicherheit in all ihren Facetten und natürlich auch um die Frage nach der Verfügbarkeit von angemessenem, bezahlbarem Wohnraum.

All diese Aspekte lassen sich bereits in der Planung mitdenken. Es geht darum, Gebäude und öffentliche Räume zu schaffen, die nicht losgelöst von den Menschen vor Ort entworfen sind. Dies gelingt nur, wenn man sich mit dem auseinandersetzt, was bereits vorhanden ist. In zahlreichen Projekten mag dies bereits als gängige Praxis passieren. In der breiten Masse der aktuellen Bau­tätigkeiten ist es aber sicher noch keine Selbstverständlichkeit.

Damit aber nicht genug. Denn valide Aussagen über den sozialen Mehrwert eines Bauprojekts erhalten wir nur, wenn hinterher überprüft wird, inwieweit die geplanten Maßnahmen auch tatsächlich wirksam waren. Oder ob vielleicht ein Gegensteuern notwendig ist, weil aus der gut gemeinten Idee zur Stärkung der Gemeinschaft keine soziale Realität geworden ist.

Als DGNB werden wir uns diesem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit künftig noch viel stärker widmen. Weil wir davon überzeugt sind, dass es das Hinschauen und Begleiten braucht. Dass soziale Wirksamkeit kein Lippenbekenntnis sein darf, sondern konsequent nachverfolgt werden muss. Zumindest, wenn es uns ernst ist mit der Aussage, dass wir für Menschen bauen. Denn Zukunft ohne soziale Teilhabe und ein positives Miteinander ist wenig wert.

DGNB System Zukunftsprojekt: Soziale Komponente

Gebäude und ihre zugehörigen Außenräume sind zentrale Orte für das Zusammenleben, das Zusammenkommen und das Zusammenwirken von Menschen. Durch die Zunahme sozialer Ungleichheiten, Migration sowie große gesellschaftliche Veränderungen wie demografischer Wandel, Reurbanisierung, Individualisierung und Digitalisierung verändern sich die Anforderungen an zukunftsfähige Gebäude und ihre Außenräume. Alle Menschen streben ein gesundes Leben an, welches in dem Sustainable Development Goal „Gesundheit und Wohlergehen“ verankert ist. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie strebt eine Halbierung von definierten Luftschadstoffemissionen bis 2030 gegenüber 2005 an. Das Wohn- und Arbeitsumfeld soll laut Bundesregierung vor allem einen Beitrag zur Gesundheitsprävention leisten. Zum Abbau der Ungleichbehandlung behinderter Menschen fordert Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt und nennt explizit die Beseitigung von Zugangshindernissen in Gebäuden, Straßen, Transportmitteln und Einrichtungen in Gebäuden und im Freien. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie formuliert das Ziel offener und fordert, dass sich alle frei von Restriktionen begegnen können sollen. Sie zeigt das allgemeine Zielbild einer inklusiven, sicheren, widerstandsfähigen und nachhaltig gestalteten Siedlung und Stadt. Teilaspekte davon sind die zeitgemäße Partizipation, sozial ausgewogene und gemischte Stadtquartiere sowie verfügbarer, bezahlbarer Wohnraum. Die gesellschaftlichen Veränderungen bedürfen, allgemein formuliert, neuer und weiterer Wohn- und Arbeitsformen, die auf die veränderten Bedürfnisse und Rahmenbedingungen adäquat eingehen. In der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist das Ziel für 2030 verankert, den Anteil der Menschen, die durch Wohnkosten finanziell überlastet sind, auf 13 Prozent zu senken:

– Gesundheitsfördernde Aufenthaltsqualitäten: Gebäude stärken und schützen die Gesundheit und das Wohlbefinden der Nutzenden, Freiräume bieten ihnen hohe Aufenthaltsqualitäten und Naturerfahrungen werden sowohl innen als auch außen erlebt.

– Inklusiv für alle: Offen für unsere vielfältige Gesellschaft sind Gebäude und deren Freiräume inklusiv von allen nutzbar und schließen niemanden durch bauliche Aspekte aus.

– Durchmischung am Standort: Die Nutzung von Gebäuden und Freiräumen und ihrer Angebote und die Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen, fördern ein auf die lokalen Begebenheiten ausgerichtetes ausgeglichenes, verbindendes, durchmischtes Mit- und Nebeneinander, welches z. B. auf die soziale, kulturelle, herkunftsbedingte Vielfalt der Nutzenden und ihre Bedürfnisse in verschiedenen Lebensphasen und Lebensstilen eingeht und diese fördert.

– Divers und flexibel nutzbar: Verschiedenartige und flexibel nutzbare Flächenformen und Flächentypologien erfüllen die heutigen und erwartbare Bedarfe der Nutzenden und ermöglichen – aktiv unterstützt – eine intensive Nutzung aller Gebäudeflächen.

– Wohnraum für alle schaffen: Wo er fehlt, wird er bevorzugt im Bestand neu geschaffen und diskriminierungsfrei und erschwinglich denjenigen Menschen zugänglich gemacht und zur Nutzung bereitgestellt, für die es im lokalen Umfeld Versorgungsdefizite gibt.

Kostenloser Dowload des Dokuments „DGNB System Zukunftsprojekt, Version 2030“: www.dgnb.de/zukunftsprojekt

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