Call to Action oder wie stressig wird unsere Zukunft?

Dass „die Welt der Architektur“ nach Venedig schaut, ist eine Floskel. Vielleicht wird ihre Verwendung relevant, wenn es um das Überleben der Menschheit geht, für das die Architektur, die Baubranche insgesamt, nachweislich mitverantwortlich ist. Die Wege zum Gebauten, Fragen nach den Obergrenzen der Produktion, all das kann sich in den internationalen Beiträgen zu Venedigs Architekturbiennale widerspiegeln. Der deutsche Beitrag ist hier zunehmend weniger stolze Leistungsschau, sondern mehr und mehr ein eher pädagogisch durchdrungener Call to Action. Typisch deutsch? Mit „Stresstest“ werden ab Mai Besucherinnen persönliche Hitzeerfahrung machen und Erholungsräumen erleben sowie ein breites Rahmenprogramm.

Als das „Team Stresstest“ nach Berlin zur Pressekonferenz einlud, war nicht klar, dass an diesem Tag die Hauptstadt von einer schneeweißen Glitzerdecke bedeckt sein würde. Kalt war es draußen, drinnen war die Rede von Hitzestau, Hitzenächten, Hitzetoten. Ohnehin in dieser ­Region nur schwer vorstellbar, machte das Schneeweiße und die kalte Zugluft von der nicht ordentlich schließenden Tür die Reden vom Kata­strophalen in nächster Zukunft eher abstrakt. Und wer wollte bestreiten, dass der Klimawandel für die meisten, sogar für die, die ihn mit Zahlen belegt vorhersagen, ein Abstraktum ist? Allein der häufig berichtete und längst beobachtbare Anstieg der mittleren Jahrestemperaturen auf mittlerweile über 1,5 °C bewirkt eher nichts. Wir alle glauben, wir hätten noch Zeit und Möglichkeiten, den Klimawandel, wenn nicht aufzuhalten, so doch aushaltbarer zu machen.

Tatsächlich zielen die meisten Strategien in der Bauwirtschaft auf Langfristigkeit: Man werde in den kommenden Jahrzehnten die Bauwende schaffen. Die Produktion der für nachhaltig erklärten Produkte werde nachhaltiger, die Materialien kreislauffähig, die Produktions-, Transport-, Unterhalt- und auch Rückbau-Energie immer mehr zu einer regenerierbaren. Das ist die eine Seite. Die andere: Die neuen, nachhaltigen Bauten werden dringend benötigt, um das Wirtschaftsgefüge, auf dem unser Wohlstand ruht, zu erhalten. Der Ruf der Politik wie auch der Bauwirtschaft, es würde viel zu wenig gebaut, ist auch ein Ruf nach mehr. Mehr Material, mehr Versiegelung und mehr Dichte in den Städten, von denen nun die Rede sein soll.

Denn: Die Städte werden wärmer, manche heizen sich im Sommer dramatisch auf. Während in den südlichen Ländern Europas die Städte längst die Sommerhitze kennen und Straßen beispielsweise eng, bewegt und größtenteils Schattenräume sind, durchziehen unsere Städte nicht selten mehrspurige Verkehrsschneisen mit Feigenblatt-Grün. Selbst Nebenstraßen sind, mit Parkstreifen vor den Häusern, mit Fahrbahn und Bürgersteigen, viel zu breit. Oder die anliegende Bebauung ist zu niedrig für eine Verschattung auch bei hochstehender Sonne. Oberflächenwasser wird zügig abgeführt, Verdunstungskühlung findet – wenn überhaupt – nur noch im Park statt, zu weit weg für eine Kühlung des Wohnquartiers. Straßenbäume stehen – bis zum Holz von Asphalt eingefasst – gestresst im trocken rieselnden Feinstaub, die Abwärme der wegen zunehmender Hitze im Haus installierten Klimaanlagen tut ein Weiteres. Urban Heat Island-Effekte nennt man diese Faktoren, zu denen reflektierende Fassaden gehören und massenhaft mobile Heizkörper (Verbrennermotoren), deren Knacken beim Abkühlen hörbar ist für den, der hören will. Und weil wir die Erwärmung nicht kurzfristig stoppen können, machen wir uns Gedanken darüber, wie es in der Klimakatastrophe aushaltbar wäre; in vielen südlichen Ländern geht es wohl sogar ums Überleben! Denn: Die Zahl der Hitzetoten steigt kontinuierlich. Dass wir mit dieser Einstellung bisher alle anstehenden Probleme nicht haben lösen, sondern immer nur verlagern können, das ist ein anderes Thema.

Also Problemlösung. „Stresstest“ propagiert ein radikales Umdenken in der Städteplanung. Das diesjährige Kuratorenteam mit Nicola Borgmann (Architekturgalerie München), Prof. Elisabeth Endres (TU Braunschweig), Prof. Dr. Daniele Santucci (RWTH Aachen) und Prof. Gabriele G. Kiefer (TU Braunschweig) möchte im und am deutschen Pavillon in den schattigen Giardini eine Call to Action-Situation schaffen, die die Besucherinnen physisch mit der Realität extremer Temperaturen konfrontiert. Eine Sauna im ohnehin heißen Venedig? Das Ausstellungskonzept wird, so war sehr abstrakt zu erfahren, den deutschen Pavillon in zwei gegensätzliche Bereiche unterteilen: zunächst die Stresserfahrung, dann die Entspannung. In den Stress-Räumen sollen die Besucher Hitze am eigenen Leib erleben. In den folgenden Destress-Räumen werden die Kuratorinnen Gegenentwürfe zu hitzegestressten Städten prä­sentieren: viel Grün, viel intelligentes (Low)Tech sowie eine klimagerechte Architektur. Die Städte sollen, anders als in den Zeiten bisher, in denen sie überwiegend auf funktionale Anforderungen reagierten, integrales Mitglied eines urbanen Ökosystems werden. Unterstützt werden soll solcherart Stadtplanung durch die Interpretation digitaler Daten, ein Forschungsfeld, in dem der Kurator der Gesamtbiennale, Carlo Ratti, längst unterwegs ist. Wir werden anschaulich erleben, wie digitale Simulationen Temperaturentwicklungen in Stadträumen analysieren, um darauf stadtraumbezogen zu reagieren.

Mehr Stress, mehr Studien: Call to Visit

Das Konzept angemessen zu interpretieren/zu kommentieren, fällt schwer angesichts der wegen des größeren Eröffnungseffekts wie immer nachvollziehbaren Geheimniskrämerei. Immerhin hatten sich die vier Kuratorinnen bereiterklärt, mit uns vor Ort noch ein Podcast zu machen (aktuell auf DBZ.de,
Podcast). Völlig unabhängig sei man vom Geldgeber BMWSB, was vielleicht nicht ganz stimmt, immerhin hat dieses Minis-terium im letzten Jahr mit „Hitzeschutz. Eine Handlungsstrategie für die Stadtentwicklung und das Bauwesen“ einen längeren Bericht vorgelegt, vergleichbar in der Thematik. Aber auch im Fokus?

Ebenfalls länger schon gibt es die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) 2018 herausgegebene Untersuchung „Stresstest Stadt“, ein Projekt des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“. Hier wird „Hitze“ in der Stadt mit „thermischer Belastung“ gleichgesetzt, Belastungen für „Senioren und Kleinkinder sowie für die entsprechenden sozioökonomischen Infrastrukturen (Kindergarten, Seniorenheime etc.). […] Indirekt können sich Hitzewellen zudem auf die Elektrizitäts- (durch den Ausbau von Klimaanlagen) und die Wasserversorgung (durch längere Trockenperioden) einer Stadt auswirken.“

Dass die Politik dem Stress mehr Aufmerksamkeit widmet, ist angesicht zunehmender, auch international wirksamer Stressfaktoren nachvollziehbar. Das BMI legte 2022 die „Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen (Resilienzstrategie)“ vor, die ein staatliches Reagieren auf Stress von innen wie außen strategisch zu beantworten sucht.

In Venedig wird es konkreter. Vielleicht wirkt der Call to Action sogar im Kreise der Nachbarn, die ebenfalls Aufrufe starten und Perspektiven geben wollen bei der Suche nach einer besser gebauten Zukunft.

Womit wir beim Call to Visit wären, denn alles Reden hilft nichts. Wir brauchen die Anschauung, das Erleben der Veränderung, des Stresses, den wir mit Sicherheit bekommen, mit dem wir umzugehen haben … Wie, das zeigt vielleicht der deutsche Beitrag! Benedikt Kraft/ DBZ

www.stresstest.world

19. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia unter dem Leitthema „Intelligens: Natural, Artificial, Collective“. Kurator: Carlo Ratti, Carlo Ratti Associati, Turin/IT

Deutscher Pavillon mit „STRESSTEST“

Kuratorinnen: Nicola Borgmann, Elisabeth Endres, Gabriele G. Kiefer, Daniele Santucci. In den Giardini della Biennale, Venedig

10. Mai – 23. November 2025

Organisator deutscher Pavillon: Architekturgalerie München e. V. im Auftrag des BMWSB; www.stresstest.world

Der Katalog für den deutschen Pavillon (im DISTANZ Verlag, Berlin, 30,00 €) erscheint am 25. Mai 2025.

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