Ein Werkstattbesuch bei Bjarke Ingels in Kopenhagen
Es ist ein dunkler Freitagabend im Oktober und das Atelier der Bjarke Ingels Group – BIG – wird zur Miniatur-Erlebniswelt. Die Arbeitstische mit Computern fallen kaum auf, sie sind umzingelt. Hinten in kleinen Kabinetten sind eine Schar von Arbeitsmodellen gestapelt. Vorn im Saal türmen sich Mini-Landschaften aus Styropor oder Legosteinen, als gelte es den Nachlass von Archigram zu verwalten.
Der Marathon-Mann
Wir Besucher sind nicht allein, der weite Loftraum geht direkt in die Küche über, dort stehen 40-50 schwarz gekleidete Gestalten im Kreis und umrahmen einen T-Shirt-Mann. Das Durchschnittsalter ist jung, sehr jung, der Chef hier entschuldigt sich gerade dafür, dass das die After Work Party anlässlich seines 35. Geburtstages sei. Fröhliches Gelächter, gutes Arbeitsklima. Es fließt viel Stoff aus grünen Carlsbergdosen und im Laufe des Abends scheinen die vielen Modellhäuser aus der Kulisse endgültig zu Gestalten zu mutieren, die etwas Menschliches haben.
Tatsächlich sehen BIGs Häuser anders aus als gewohnt; sie sind schwungvoll, schräg und gebirgig. Irgendwie erzeugen sie den unbedingten Eindruck, dass Architektur noch Spaß macht. Das mag mit dem Background des Prinzipalen zu tun haben. Das dänische Wunderkind Bjarke Ingels ist nordisch erzogen, aber international trainiert. Ein Global Player, der in Kopenhagen und in Barcelona studierte und später zwischen 1998 und 2001 bei Rem Koolhaas gelernt hat. Unter anderem, dass Architektur nicht autonom, sondern eng mit gesellschaftlichen Prozessen verbunden sei: „ Wir helfen der Gesellschaft sich durch Architektur auszudrücken!“ sagt er dazu. Heute ist Bjarke der Held der Generation Praktikant und nur wenig älter als jene, die bei ihm arbeiten. Das Büro hier ist ein Biotop für Formenjunkies. Nach eineinhalbstündigem Gespräch ist klar: Dieser Bjarke Ingels hat die Energie eines Marathon-Manns. Eines seiner aktuellen Projekte, das Big House in Kopenhagens Stadtteil Ørestad steht im Modell im Besprechungsraum und Bjarke hat eine Pendelverkehr zwischen seinem Laptop mit einer erfrischenden Powerpoint-Präsentation und dem drei Meter entfernten Modell eingerichtet. Dessen Baukörper hat BIG zu einer riesigen Acht geformt. Das Big House verfügt über eine Rennstrecke für Läufer und Radfahrer, die über Rampen die einzelnen Hausteile jeweils vor den Terrassen und Wohnzimmern miteinander verbindet. Und Bjarke scheint sie insgeheim schon gefahren zu sein, seine Körpersprache verrät es durch Anspannung. Das ist hier kein Wohnhaus, sondern ein Quartier mit bis zu zehn Geschossen und dem Geist einer Ansammlung von Reihenhausern mit Gemüsegarten auf der Etage. Ende 2010 sollen die letzen Wohnungen bezogen sein.
Marketing makes the world going around
Im laufenden Jahr 2009 – es waren die bösen Monate der Finanzkrise, nachdem sich beispielsweise das Projekt einer Isländischen Bank ins Nichts aufgelöst hatte, für die BIG das neue Hauptquartier wie einen „Eisberg“ wollte – ist die Bjarke Ingels Group in die Marketing Offensive angetreten. Das Dänische Architektur Zentrum zeigte dessen erste Einzelausstellung und die machte deutlich, wie BIGs Architektur heute über zehn Jahre nach Bilbao die Menschen aufrütteln soll: als Mix aus Icons, Website-Ästhetik und Comic. Der Ausstellungstitel lautete: „Yes is more“. Ein Schelm, der sich dabei denkt, dass wir neben Mies van der Rohe und Präsident Barack Obama es nun mit einem dritten Genie zu tun haben, sozusagen dem positivistischen Retter der Welt und der Form. Ingels turnte wie ein Gnom mit gallig klingenden Sprechblasen durch Displays, Tabellen, Bilder und Animationen: die Ausstellung als Architekturcomic eben. Beispiel Le Corbusier: „Das Haus ist eine Wohnmaschine!“ Bjarkes Kommentar: „Aber bei uns haben alle Korridore Ausblick und Tageslicht in zwei Richtungen!“ Der Mann ist virtuell wie real immer in Bewegung.
Man sollte allerdings weder aus den endlosen Modellen im Atelier noch aus der Ausstellung falsche Schlüsse ziehen. Hinter dem Schein steckt harte Arbeit: „Wir quälen uns mit endlosen Modellalternativen bis wir zu einem Ergebnis kommen. Dabei sind wir diskussionsfreudig und interaktiv“, so Barke Ingels: „Stadt bauen ist ein mühsamer Prozess, wir suchen die richtige Alternative!“ BIGs Architektur hat mit der Neuaufstellung der Metropole zu tun. Seine Baufelder sind die neuen Glamourprospekte der Welt, zwischen Dubai oder China. Und sie wollen sich auch dem Klimawandel stellen. In Shenzen glänzen sie mit einem nachhaltigen Hochhaus, das auch wirklich eine sehr gute Realisierungschance hat. Die im BIG-Stil aufwändig gefaltete Fassadenhaut schützt nicht nur vor direkter Sonneneinstrahlung, sondern erzeugt durch Solarzellen Energie. Bjarke glaubt, dass das Gebäude eine subtile Mutation eines klassischen Wolkenkratzers für das 21. Jahrhundert sei.
Hybride Stadtbaukunst
Die seriöse Überprüfung der BIG-Architektur können nur fertige Objekte liefern. Die liegen in Kopenhagen-Ørestad, der Stadterweiterung mit neuer Philharmonie (Architekt Jean Nouvel), Universitäts-Campus und Danske Radio, Im sonstigen Sammelsurium von missratenden Beherbergungs- und Bürohausmonstern steht am U-Bahnhof Bella Centerdas VM – House, das Bjarke neben dem Kopenhagener Ocean Bath auf die Landkarte der Weltarchitektur gehoben hat (2005). Von Google Earth (!) aus betrachtet sind die Baukörper des Hauses den Buchstaben und V und M nachempfunden, draußen erhielt die transparente Fassade gläserne Nasen für Balkone und Loggien. Die Bilder gingen um die Welt. So baut man Landmarken. Wichtiger ist aber, dass es unter den 225 Wohnungen 80 verschiedene Grundrisse gibt: „Wenn die Menschen so verschieden sind, warum nicht auch ihre Wohnungen?“ fragt sich Bjarke.
Vielfalt, Komplexität und Reihung scheinen ihn zu begeistern, fast zu hypnotisieren und dabei kann man schon einmal den Maßstab verlieren. Denn aus dem überschaubaren VM House sind Utopien geworden wie die BAT Battery oder die Lego Tower. Beide sind für Kopenhagen geplant und beide gelten sie als Wohngebirge der utopischen Art. Neben dem VM House liegen bereits realisierte Mountain Dwellings und die sehen so aus, wie es der Name verspricht. Zwei Drittel des Projekts wird für ein Parkhaus mit Büros aufgebraucht und das letzte Drittel dann einem darauf gesetzten terrassierten Wohnhügel geschenkt. An einer Parkhausseite ist das Bauwerk mit einer Lochblechfassade geschützt, auf die der Mount Everest abgedruckt ist. Was die hölzernen „Berghütten“ on Top betrifft, stehen sie im Mittelpunkt der heutigen Architekturdiskussion für den Gedanken der Rückkehr in die Stadt und im speziellen für neue Wohnformen. Die Mountain Dwellings vereinen zwei Welten: Sie liefern Verbindung mit der Innenstadt in der Expressgeschwindigkeit der neuen U-Bahn und wirklich dänisch-ländliche Qualitäten: Barbeque auf Holzterrassen, mit Blick auf die Ostsee und die Malmöbrücke . Ein typologischer Zugewinn für die Architekturdebatte und der Beweis dafür, wie Styroporträume humane Wirklichkeit werden können. Dabei sind Detailqualität und Ausbaustandard überzeugend. Es wird deutlich: Das BIG-Team kann bauen!
Es wird ein BIG-Grundsatz sichtbar: Bjarke Ingels vernetzt sehr gern unterschiedliche Dinge, und baut hybride Häuser, also solche für unterschiedliche Nutzer. Das Berghaus ist gleichzeitig ein Parkhaus, auf dem Wohnhäuser mit Holzfassaden thronen. Und in den Schnittstellen, in dunkleren Bereichen, wo Wohnen nicht zugemutet werden kann, liegen auch Büros. Aber das Hybride ist auch darin zu finden, dass BIG Stadtteile unter Dach baut. Wie eben auch den dritten im Ørestad-Bund der progressiven Wohnhäuser, das Big House an der nächsten U-Bahnstation, der Endhaltestelle.
Der Berg ruft!
Es wird ein Schlüsselmotiv deutlich: Der Berg ruft! Hügel, sanfte Modulationen, Spitzen, Schrägen, Hänge: Titel wie Mountain Dwellings oder Alpenwiese weisen daraufhin – dieser Bjarke Ingels scheint ein Trauma zu haben. Auf seine Berg- und Hügel-Manie angesprochen, fühlt er sich nicht ertappt, sondern bekennt sich dazu, als dänischer Flachländer eine Liebe für die Berge zu haben. Schon eines seiner ersten realisierten Projekte, das Kopenhagener Harbour Bath, das Bjarke 2003 mit seinem Vorgängerbüro Plot zusammen mit Julien de Smedt realisierte, wird durch klippenartige Schwimmkörper geprägt, das Maritime Youth House durch Dünnenlandschaften aus Holz. Für Azarbadjan plant BIG gleich sieben Hügel, und dabei nimmt jeder eine kleine Stadt in der Größenordnung eines kleinen Märkischen Viertels auf, allerdings in „natürlicher Topografie“. Wie es sich darin leben wird? Die Antwort fällt in das Kapitel unerfüllte Träume, denn inzwischen baut man auch in Azarbadjan kleiner.
Die Alpen im Hafen
Da hat hingegen ein Entwurf, der im Rahmen der Hamburger IBA auf der Harburger Schloss-insel entstand, größere Chancen. Das rund 2,2 ha große Planareal am Kaufhauskanal ist Teil des Harburger Binnenhafens, es grenzt an die Elbinsel Wilhelmsburg an und zeigt etliche Potenziale, die die Hamburger Stadtentwicklung heute zum städtischen Wohnen ausnutzen will: Wasserlage, Nähe zur (Harburger) Innenstadt, Hafenromantik. Für den Kaufhauskanal haben BIG die Zusammenarbeit mit den Berliner Landschaftsarchitekten Topotek 1 gesucht.
Dieser Entwurf verbindet Hamburger Milieu – Ziegel, einen innigen Bezug zum Wasser – mit stark geneigten Dächern. Und auch hier wird wie beim VM-House und den Mountain Dwellings das gedachte Ordnungssystem von Google-Kameras und –Sateliten verdeutlicht werden können.
Denn wie in einem Schachbrett lösen sich Felder der Bebauung und Freiräume ab. Es entstehen 200 Wohneinheiten für Singles, berufstätige Paare und Homeworker – BIG baut für die eigene Generation.
Allerdings wird noch ein Investor gesucht, wie auch für die Alpenwiese, die bald im Hamburger Hafen schwimmen kann. Entstanden ist die Idee im Hamburger Architektursommer 2009. Der Biotop soll in Form eines präzisen quadratischen Ausschnitts einer Alpenwiese in die Hafencity transplantiert werden. „Die nach Süden orientierte Alpenwiese wird ein Ort zum Relaxen und Sonnenbaden: Fluss-Sonnenuntergänge untermalt vom Plätschern eines Bergbaches“, so BIG, dessen Absicht es ist, ein Stück alpiner Atmosphäre, mit Elektro- und W-Lan-Anschlüssen zu paaren, so dass die Arbeit, der Laptop oder die Lieblingsleselampe mit auf die Wiese gebracht werden können. Unter der Alpenwiese befindet sich ein 300 m² großer Raum, dessen Charakter durch das Tragwerk bestimmt wird und unterschiedliche Nutzungen zulässt.
Es war nur eine klitzekleine Idee, wie man in der HafenCity so etwas wie Globalität inszeniert, in dem man in die Hafenlandschaft das scheinbare meist Entfernte und Absurde zeigt. Der Erfolg war überraschend, denn die Medien machte die Alpenwiese zum Brand des Architektursommers. So funktioniert heute Architektur und passt zu BIG, das jedes seiner Projekte durch ein Icon kennzeichnet.
Die Kinder von OMA
Die Zeiten sind schlecht, die Zeiten sind gut – für Experimente, für (Galgen-) Humor; Man hat schon so seinen Spaß bei BIG – etwa dann wenn die Idee die kleine Meerjungfrau im Rahmen der EXPO 2010 nach Shanghai zu translozieren, und dabei das dänische Parlament in einer zweistündigen Debatte mit der Frage zu blockieren, ob man das darf (Man darf laut Folketing). Insgesamt ist BIG wohl auch über den Krisenberg und besteht aus über 60 Leuten aus nahezu 20 Ländern. Projekte in Kopenhagen, China, in Kasachstan (Nationalbibliothek) und in der Nähe des Stockholmer Flughafens Arlanda sollen jetzt verwirklicht werden. Dort übrigens entsteht ein Hotel mit einer Fassade, bei der, wenn man richtig hinschaut, das Gesicht der schwedischen Kronprinzessin sichtbar wird. Alles zu viel Show? Zu viel Marketing, Ikonographie und Propaganda? Nein – und nicht vergessen: Hier baut die Generation nach Rem Koolhaas für sich selbst. Sie darf das, wenn sie die Klienten dafür findet. Yes is more!
Dirk Meyhoefer,Hamburg