Lesevergnügen
Manchmal ist es von Vorteil, ein Buch in all seinen Aspekten zu inspizieren, also nicht nur Papier, Bindung, Schrifttype und Satz etc., selbstredend Sprache, Stringenz oder Wahrhaftigkeit. Vorworte sind teils ergiebiger als gedacht, Nachworte ein Stück Literatur, ein „Was ich noch sagen möchte“. Schauen sollte man immer ins Impressum oder Kolophon, hier finden sich häufig aufschlussreiche Informationen. So wie im hier vorliegenden Fall. Der beinahe durchgängig ins Deutsche übersetzte Briefwechsel ist derart, dass man sich wundern muss über das Hölzerne. Bis man unter „Editorische Notiz“ lesen kann, dass die Übersetzungen zeitgenössischer Art sind, also in gewisser Weise ganz eigene (und durchaus spracheigenartige) Originale.
Worum es geht? Um den heute so ganz allmählich verschwindenen Drang auf Auftraggeberseite, einen Architektenstar ins Projekt zu holen, dessen Name bereits elektrisiert. Das wären heute Rem Koolhaas, Peter Zumthor oder Bjarke Ingels, vor gut 50 Jahren war das Le Corbusier. Den wollte man für ein Wohnprojekt im Hansaviertel im Rahmen der Berliner Interbau 1957. Man wollte ebenfalls eine Unité d’Habitation, ein Echo auf die Cité Radieuse in Marseille oder Nantes-Rezé. Doch Wollen ist bis heute immer noch vom Möglichen abhängig. Denn der Meister gab den Meister, er wollte allein die reine LC-Lehre gelten lassen. Damit – zu niedrige Raumhöhen beispielsweise – war das Projekt im Kontext der geförderten Interbau obsolet; doch schnell wurde ein anderer Ort gesucht – und am Olympia-Stadion gefunden. Die Monate nach der Architekten- und Projektakquise waren reibungsvoll, hier der Star, da der begehrliche Bauherr, der auf Zeit-/Kosten-/Vorschriftenrahmen schaute und manches über den Architektenkopf hinweg selbst entschied.
Das alles in den mit „vorzüglicher Hochachtung“, „sehr ergeben“ etc. unterzeichneten Briefen nachzulesen ist unterhaltsam. Ob es dazu führt, die Projektgenese ganz neu zu betrachten oder ob gar die hier leider nicht begründete„Auswahl“ der Korrespondenz und der Zeitungsartikel als „grundlegende Quellen“ zu betrachten sind, kann bezweifelt werden (der Edition fehlt jeder wissenschaftliche Anspruch). Ein Lesevergnügen aber bereitet das kleine Büchlein definitiv und wer mehr will, dem steht die Welt der zum Berliner Projekt bereits gedruckten oder digital vorhandenen Werke offen! Be. K.
Unité d’Habitation, Typ Berlin. Briefwechsel 1955–1958. Hrsg . v. Marcus Nitschke. Treppe b, Berlin 22021, 168 S., einige sw-Abb.18 € ISBN 978-3-96551-012-8