Vor 35 Jahren in Ulm: ein Stadthaus
Was macht eigentlich Richard Meier? Der US-amerikanische Architekt, der wie kein anderer für die Farbe Weiß steht, baut schon länger nichts mehr. Der mittlerweile 87-Jährige hat sich als Architekt zurückgezogen und auch das Richard-Meier-Weiß, Reinweiß oder RAL 9010, wollte er offenbar nicht mehr für jede Architektur gelten lassen. Das eigene Wohnhaus hatte er vor Jahren davon befreit.
Doch für seine Hauptwerke – das Athenaeum (1975-1979), das Paul Getty Center (1984-1997), das Rathaus in San Jose (2002-2005), alle in den USA, das MACBA (Museum für Zeitgenössische Kunst; 1992-1995) in Barcelona oder das Stadthaus Ulm (1986-1993) und viele andere – gilt diese strahlende Farbe bis heute als wesentlicher Ausdruck seiner modernen/postmodernen Architektursprache.
Richard Alan Meier, Pritzkerpreisträger mit fränkischen Wurzeln, hat einen nicht unerheblichen Teil seiner Bauten in Deutschland realisiert, darunter mehrere Museen, einige Privathäuser. Aber vielleicht ist das Stadthaus in Ulm, das in diesem Jahr seinen 35. Geburtstag feiern kann, dasjenige, das mehr zeigt, als bloßes Formenspiel unter RAL 9010. Denn mit dem Freiräumen des Kirchplatzes durch den Abriss des Barfüsser Klosters 1878, kurz vor Vollendung des bis heute weltweit höchsten Kirchturms, sollte die Einzigartigkeit des Bauwerks herausgestrichen werden: Weite Blickachsen ermöglichen seitdem die Inaugenscheinnahme des spätgotischen Baukunstwerks, ohne Nackenstarre befürchten zu müssen.
Schon 1924 hatte es einen großen Architekturwettbewerb für diesen Ort gegeben. 478 deutsche Architekten hatten ihre Vorschläge eingereicht, keiner wurde umgesetzt. Es folgten viele weitere, sämtlich ohne Realisierungen. Dann gab es in den 1980er-Jahren konkrete Überlegungen, den vom Autoverkehr bestimmten Platz komplett neu zu definieren und schließlich, 1986, lobte die Stadt noch einmal einen Wettbewerb aus; der sollte die Lösung bringen. Am 15. November 1986 entschied die Jury für den Entwurf Richard Meiers. Der definierte den Platz, ohne die Kathedrale zu bedrängen. Er bildet im Südwesten eine neue Gasse, sein runder Kopfbau vermittelt zwischen Platz und anliegenden Straßenräumen und schließt das Ungefähre des vorher irgendwie auslaufenden Müns-terplatzes nach Westen. Ungewöhnlich für Meier sind die Satteldächer auf dem Rundbau, die auf die giebelständigen Neuinterpretationen der ehemaligen mittelalterlichen Stadthäuserreihe reagieren. Die Skulptur, gegen die die Bürgerschaft nach Bekanntgabe des Gewinnerprojekts einen Bürgerentscheid mit ablehnendem Ergebnis anstrengten – ohne jedoch das nötige Quorum zu erreichen –, ist heute in das Stadtbild eingewachsen und belegt damit deutlich, dass Neubauten das Potential haben, auch mit historischen Architekturgranden in einen Dialog auf Augenhöhe zu treten; naja, fast Augenhöhe! Der Bau des Stadthauses, das 2019 unter Denkmalschutz gestellt wurde, ist aber in jedem Fall als Nukleus für die bis heute andauernde Gestaltung der so genannten „Neuen Mitte“ Ulms zu verstehen. Vielen Dank dafür Mr Meier! Be. K.