„Wir sind nah an unseren Anwendern“
Digitale Prozesse leisten einen entscheidenden Beitrag dazu, das Bauen nachhaltiger und kreislauffähiger zu machen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Echtzeitdaten ermöglicht die gleichberechtigte Partizipation aller am Planungsprozess Beteiligten. Bauteilattribute in entsprechender Informationsart und -tiefe sorgen dafür, dass die Lebenszyklusbetrachtung von Gebäuden vorankommt, der Betrieb vereinfacht und ein Rückbau sowie die Aufbereitung und der Neueinsatz von Materialien und Produkten möglich wird. Der Entwicklung und dem Einsatz von entsprechenden Software-Lösungen kommt damit eine entscheidende Bedeutung zu. Wir sprachen dazu mit Carlos Cordeiro, selbst Bauingenieur und Leiter des Produktmanagements im Bereich Ingenieurwesen bei Graphisoft.
Carlos Cordeiro
Foto: Tim Westphal
Carlos, als Produktmanager müssen Sie die Bedarfe Ihrer Zielgruppe gut kennen. Wie eng arbeiten Sie mit den Ingenieuren und Architekten zusammen?
Sehr eng. Der Grund dafür ist einfach. Graphisoft hat eine 40-jährige Geschichte in der Zusammenarbeit mit Architekten (mit Archicad) und TGA-Ingenieuren (mit DDScad). Aber um die richtigen Produkte für das gemeinsame Zielsegment zu entwickeln, haben wir vor etwa vier Jahren begonnen, den Austausch mit multidisziplinär arbeitenden Planungsunternehmen zu intensivieren. Dabei richteten wir uns ursprünglich an Tragwerksplaner und seit einiger Zeit auch an TGA-Ingenieure. Wir haben bereits seit etwa zehn Jahren einige TGA-Tools in Archicad integriert, aber das geschah immer aus der Architekturperspektive. Das haben wir jetzt verändert und erstellen bzw. verbessern die Tools aus Sicht der TGA-Planung. Um die Bedarfe zu verstehen ist eine enge Zusammenarbeit mit dieser Zielgruppe unerlässlich. Denn obwohl wir immer von Anwendungen in der AEC-Branche sprechen, sind die Denkweisen der einzelnen Zielgruppen unserer Software doch sehr unterschiedlich.
Wo sehen Sie die Hauptunterschiede zwischen diesen Denkweisen?
Ich sehe das natürlich aus Unternehmenssicht und da geht es vor allem um die Art der Zielgruppenansprache. Architekten wünschen sich eher einen abstrakteren Zugang. Sie wollen die Geschichte hinter dem, was wir tun, verstehen. Die Ingenieure sind pragmatischer, sie interessieren sich für einzelne Details, die sie und ihre Arbeit konkret betreffen, wollen direkt auf den Punkt kommen. Das ist für uns sehr spannend und hat großen Einfluss auf unsere Verkaufsmechanismen. Hier müssen wir umdenken.
Sie haben all diese Bedürfnisse in eine einzige Software implementiert. Das ist Archicad, oder?
Das stimmt zum Teil. Vor knapp zwei Jahren haben wir Graphisoft mit DDScad zusammengeführt. DDScad ist eine Software für TGA-Ingenieure, vom Entwurf bis hin zu Berechnungen auf hohem Niveau für alle Aspekte der Gebäudetechnik. Durch den Zusammenschluss ergänzen sich Archicad und DDScad nun optimal. Je nachdem in welchem Stadium des Entwurfsprozesses man ist, kann man das eine oder das andere Programm besser nutzen. Wir haben die Modellierung von Gebäudetechnik, den Datenzugriff und die Kollaboration verbessert, um eine Lösung anzubieten, die anpassbar und nachhaltig für die Zukunft ist. So wird Architektinnen und Architekten geholfen, ingenieurstechnische Lösungen zu entwickeln.
Carlos Cordeiro, Leiter Produktmanagement im Bereich Ingenieurswesen bei Graphisoft
Foto: Tim Westphal
Welche Rolle spielen nachhaltige Bauprozesse, wie z. B. eine Lebenszyklusanalyse, in Ihren Produkten?
Das Nachhaltigkeitsthema ist für uns sehr wichtig. Ich persönlich sage gern, dass wir als Softwareanbieter die soziale Verantwortung haben, tatsächlich eine Lösung anzubieten, die auf diese Probleme eingeht. Es gibt hier verschiedene Ebenen. Wir haben z. B. eine sehr gute Anbindung von Archicad an eine in Skandinavien entwickelten Lösung, die One Click LCA heißt, und die für die Lebenszyklusanalyse genutzt wird. Die benötigten Informationen können als IFC-, gbXML-Daten oder direkt aus der Tabellenkalkulation in One Click LCA importiert werden. Für Archicad 26 gibt es auch ein plugin auf Windows. So erhält man beispielsweise die CO2-Bilanz eines Bauwerks.
Könnte mir die Software also helfen, eine Entscheidung für ein bestimmtes Produkt zu treffen oder verschiedene Entwürfe anhand von verschiedenen Parametern zu vergleichen?
Genau. Sie sprechen einen sehr interessanten Punkt an, denn im Bereich der Architektur haben wir den Entwurfsprozess, der hier sehr gut passt. Als Architekt kann man verschiedene Optionen direkt in eine LCA-Software einspielen und fragen: „Welche ist die nachhaltigste Lösung?“ Diese Auswertung ist jetzt sehr einfach durchzuführen. Wenn wir in den Ingenieurbereich wechseln, gibt es verschiedene Wege, die wir verfolgen. Wenn wir beispielsweise an gbXML denken, ein Dateiformat zur Analyse des nachhaltigen Bauens, das ist implementiert. Man kann diese gbXML-Datei exportieren, um zugehörige Lösungen, etwa zur Wärmedämmung oder den Heizungssystemen, zu erhalten. Damit wird architektonisches und ingenieurstechnisches Wissen berücksichtigt und die Art, wie diese beiden Dinge zusammenwirken.
Ist es denn geplant, Archicad und DDScad in Zukunft noch stärker zusammenzuführen?
Ich denke, damit kommen wir nochmal auf Ihre ursprüngliche Frage zurück, wie nah wir an unseren Anwendern sind. Da wir tatsächlich sehr nah an ihnen dran sind, verstehen wir die Bedürfnisse der unterschiedlichen Disziplinen. Aktuell haben wir zwei Lösungen, die sehr gut zusammen funktionieren. Letztendlich dienen sie trotzdem verschiedenen Zielgruppen. Es gibt keine Pläne, alles zusammenzupacken. Aber wir haben schon verstanden, dass es in den frühen Entwurfsphasen, in denen multidisziplinäre Teams eng miteinander arbeiten, die TGA-Planung spezifische Anforderungen hat, die von Archicad nicht erfüllt wird, sondern von DDScad. Perspektivisch soll es eine Lösung geben, die bestimmte Funktionsweisen von DDScad ebenfalls in Archicad implementiert. Es wird also weitere Verbesserungen geben, aber keine große einheitliche Lösung. Das geht an den Bedürfnissen des Marktes vorbei.
Modellbasierte Darstellung einer Entwurfsidee mithilfe von KI
Visualisierung: Graphisoft
Ein letzter Aspekt: Das Thema der KI rückt zunehmend in den Fokus. Welchen Einfluss wird KI in Zukunft in der Branche und in Ihrem Unternehmen haben?
Ich glaube, wir müssen vorsichtig sein, müssen verstehen, was nur eine Mode ist und was tatsächlich nachhaltigen Mehrwert bringt. Meiner Meinung nach befindet sich die KI gerade in einer Phase, in der sie bereits Teil unseres täglichen Lebens geworden ist. Daher beschäftigen wir uns im Unternehmen natürlich auch intensiv mit der Frage, wo und wie uns KI im Arbeitsprozess helfen kann. Aber ich denke nicht, dass KI den Architekten ersetzen wird – auch wenn es im Internet dazu bereits eine spannende Diskussion gibt. Unser Anliegen ist es vor allem, Architekten und Ingenieure dabei zu unterstützen, durch den Einsatz von KI besser und schneller zu arbeiten, Routineaufgaben zu verlagern und sich wichtigeren Fragestellungen zu widmen. Ich kann zwei praktische Beispiele nennen: Wir implementieren ein Werkzeug, das eine modellbasierte Darstellung einer Entwurfsidee mithilfe von KI erstellt. Das kann der Architekt als Inspirationsquelle für seine weitere Durcharbeitung nutzen. Für eine erste Idee könnte man z. B. einfach nur Volumen wie Würfel oder Pyramiden in die KI eingeben sowie eine Anweisung: „Ein modernes Wohngebäude aus Beton.“ Die KI erstellt daraufhin eine Darstellung basierend auf dieser Anweisung und den vorgegebenen Geometrien. Bei den Ingenieuren wiederum wird es beim KI-Einsatz mehr um Optimierung gehen. Hier experimentieren wir gerade, um zu sehen, wie wir KI nutzen können, um uns bei der Implementierung von Gebäudetechniksystemen in komplexe Gebäude helfen zu lassen. Man könnte die KI z. B. fragen, wo in einem definierten Raum Leitungen optimal liegen, um weniger Material zu verwenden. Oder auch die Frage stellen, wo es weniger Komplikationen in der Ausführung gibt. Indem wir solche Technologien implementieren, helfen wir Architekten und Ingenieuren dabei, mehr Zeit für ihre wirklich wichtige Arbeit zu gewinnen – das Entwerfen großartiger Gebäude!
Carlos Cordeiro im Gespräch mit Katja Reich
Foto: Tim Westphal