Schützt die Mauerreste – bevor die Investoren kommen!

Anlässlich des 50. Jahrestages des Mauerbaus mahnt TU-Professor Johannes Cramer, die Reste der Grenze zu erhalten

Die Teilung Deutschlands hat zwei unterschiedliche Gesellschaften generiert, die seit gut zwei Jahrzehnten zusammen wachsen (sollen). Die Wunde Deutschlands, eine brutale Grenze mittendurch, ist längst nicht verheilt, doch länger schon beginnt die Erinnerung an sie zu schwinden. Grund: Spurenlöschung. Dem widersetzten sich immer wieder Fachleute und Prominente, zuletzt beim Abriss des Palastes der Republik. Doch nun gibt es weiteren Grund, gegen das schleichende Vergessen zu arbeiten. Und es gibt ein dickes Buch.

„Der 13. August 2011, der 50. Jahrestag der Teilung Berlins sollte Veranlassung sein, noch einmal und noch gründlicher darüber nachzudenken, was konkret von der Grenze rund um West-Berlin erhalten und dem Besucher erklärt werden muss, um zukünftigen Generationen das Verständnis für dieses Phänomen der Zeitgeschichte zu ermöglichen und zu erhalten.“ Das fordert Prof. Dr. Johannes Cramer, der an der TU Berlin Baugeschichte und Stadtbaugeschichte lehrt, in einem Beitrag für „TU intern“, die Hochschulzeitung der TU Berlin.
 
Willkürliche und überflüssige Zerstörungen, wie sie etwa für die Erschließung der O2-Arena genehmigt wurden, müssten zukünftig unterbleiben. Restaurierungen müssten diesen Namen verdienen, so Johannes Cramer. „Die Maßnahme an der ‚East Side Gallery‘ am Ostbahnhof ist keine Restaurierung. Die Gestaltung des öffentlichen Raums muss den Schrecken, den die Grenze für jeden wahrnehmbar verbreitete, heute und auch in Zukunft transportieren. Die grüne Rasenfläche der Gedenklandschaft an der Bernauer Straße kann das kaum“, schreibt der Wissenschaftler.
 
Johannes Cramer mahnt vor allem, alle jene fragilen Bestandteile des Grenzregimes unter Schutz zu stellen, die tatsächlich den größten Teil der Grenzanlagen ausmachten und die heute fast vollständig vergessen und verschwunden sind: Die Draht- und Gitterzäune, die Höckersperren, die Grenzgeländer, die Laternen und Wandleuchten der Lichttrasse, die Reste der technischen Melde-Einrichtungen oder auch die geheimnisvollen Dachkämmerchen. Alles das habe heute nur deswegen zufällig überlebt, so Cramer, weil die Investitionen noch nicht in diese Winkel des Grenzstreifens vorgedrungen seien, was aber demnächst passieren werde. Es sei die Verantwortung der Berliner, den Verlust dieser sprechenden Sachzeugnisse zu verhindern.
 
Cramers Forderungen zum Schutz der Mauer beruhen auf seinen umfassenden Forschungen zum Grenzregime. Erstmals haben Wissenschaftler unter seiner Leitung die Geschichte des Mauerbaus minutiös dokumentiert. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit an der TU Berlin liegen in dem Band „Die Baugeschichte der Berliner Mauer“ vor.  
„Wir haben mit diesem Band die Grenzanlagen so beschrieben, wie sie im Jahr 1961 aussahen, wie sie bis 1989  durch die Grenztruppen kontinuierlich perfektioniert wurden und wie daraus schließlich die Grenzanlagen wurden, die 1990 abgerissen wurden und die die Vorstellung von der Berliner Mauer bis heute prägen“, sagt Johannes Cramer.   
Die wissenschaftlichen Untersuchungen der TU-Bauhistoriker zeigen, dass bisherige Erkenntnisse über den Mauerbau revidiert werden müssen: So weist das Team um Johannes Cramer nach, dass die Mauer nicht in vier, sondern in sechs unterschiedlichen Stufen ausgebaut wurde. Weiterhin konnten die Wissenschaftler darlegen, dass die Grenze, so wie sie 1990 abgerissen wurde, sich über weite Strecken noch im Zustand der sechziger Jahre befand und keinesfalls eine perfekte, modernisierte Grenze war. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass die Grenzanlagen mit immer perfideren Details ausgestattet wurden, um Fluchtversuche zu verhindern. „Der Flüchtende musste bis zu 15 unterschiedliche Hindernisse überwinden, bis er den Westen erreicht hatte“, so Cramer.  
Zur wissenschaftlichen Genauigkeit gehört auch, dass die TU-Bauhistoriker darauf verweisen, dass eine wirkliche Mauer erst am 15. August 1961 gebaut wurde und dass die Mauer in den weniger wahrgenommenen Außenbezirken bis zuletzt hauptsächlich aus Zäunen bestand. Das Verdienst von Cramers Team besteht unter anderem auch darin, nicht nur die innerstädtische Grenze erforscht zu haben, sondern die gesamten Grenzanlagen rund um West-Berlin, die heute fast vollständig verschwunden sind.  
Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert: Der erste beschäftigt sich mit der Baugeschichte der Grenzanlagen und Grenzübergänge, der zweite mit den Hintergründen zur Planung und Infrastruktur und der dritte mit dem Mauerfall und dem Mauergedenken.  
„Die TU Berlin hat mit diesem Projekt für eine Neubewertung der historischen Bedeutung der Mauer eine Grundlage geschaffen. Jetzt ist es an der Politik, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen“, sagt Johannes Cramer.

Johannes Cramer, Tobias Rütenik, Philipp Speiser, Gabri van Tussenbroek, Peter Boeger, Die Baugeschichte der Berliner Mauer, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, 447 Seiten, 475 meist farbige Fotos, 36 Karten und mehr als 150 Zeichnungen, ISBN 978-3-86568-498-1, 69 Euro

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