Architektur und Sorgearbeit
Elke Krasny ist Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie ist feministische Kulturtheoretikerin sowie Stadtforscherin und widmet ihre wissenschaftliche Arbeit unter anderem der Gerechtigkeit mit einem Fokus auf sorgetragenden Praktiken in Architektur und im Urbanismus. Im Interview sprachen wir über die Bedeutung der Architektur für eine gerechtere Stadt.
Frau Krasny, was heißt es, intersektional über Architektur nachzudenken?
Raum und urbane öffentliche Räume sind nie neutral. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die anknüpfend an Henri Lefebvres Buch „The social production of space“ in den Diskursen der Stadtforschung schneller als in den Diskursen der Architekturtheorie, auch post`68 Recht-auf-Stadt-Bewegungen aufgegriffen worden sind. Was man anknüpfend an Lefebvre feststellen kann, ist, dass Stadt immer reproduziert, also gepflegt und aufrechterhalten werden muss. Wir müssen, wenn wir über Stadt nachdenken, mitdenken, wer diese reproduktive Arbeit leistet. Das heißt, wer die Räume pflegt, reinigt und wer dafür sorgt, dass z. B. die Infrastrukturen funktionieren. Einerseits muss der physisch gebaute Raum die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzenden einbeziehen, andererseits muss auch die Aufrechterhaltung intersektional gedacht werden. Gerade im öffentlichen Raum, der eigentlich allen in der Stadt gleichermaßen zur Verfügung stehen soll und den wir als ein Allgemeingut begreifen, müssen die Aufrechterhaltung mitdenken. Das heißt, die Arbeitsbedingungen dieser Menschen anzuschauen oder, wie die gebaute Umwelt ihre Arbeit erschwert, beispielsweise wie Materialien bestimmte Formen der Reinigungen erfordern. Diese Fragen stehen in der Planung oft nicht nur nicht im Vordergrund, sondern werden gar nicht mitgeplant.
Was sind die Themen, die Sie gerade in ihrer Forschung beschäftigen?
Zum einen ist es die Intersektionalität. Es geht darum, wie Kategorien wie Gender, Race, Class, Ablebodyness, aber auch andere Zugehörigkeiten, wie Religion oder kulturelle Praxen, dazu führen, dass öffentliche Räume nicht gleichermaßen für alle Menschen offenstehen, obwohl sie als zugänglich gelten. Das muss man auch über die Dimension Zeit denken, denn städtische Räume sind zu verschiedenen Zeiten für unterschiedliche Menschen anders zugänglich. Was Intersektionalität aber nicht gut umfasst und was wir aber auch mitdenken sollten, ist die Kategorie Umwelt, also die Bedürfnisse in Bezug auf das, was Natur genannt wird. Ich halte es für nötig, Intersektionalität auf jene Wesen zu erweitern, die keine menschlichen Wesen sind, die aber auch in Stadträumen leben.
Ein zweites Thema, das mich gerade sehr beschäftigt, ist feministische Infrastrukturkritik. Also die Frage, wie man öffentliche Infrastrukturen vor allem in ihrer Benutzung besser begreifen kann, um zu erkennen, dass sie Ungerechtigkeiten auch vertiefen, perpetuieren und weiter fortsetzen können.
Und das Dritte ist die Frage nach der Gewaltförmigkeit des öffentlichen Raums. Wir sprechen bei dem Thema Intersektionalität immer auch über „access“, also Zugang. Aber es ist zugleich festzuhalten, dass öffentlicher Raum nie ein Safe Space ist. Zumindest nicht in der aktivistischen Definition, dass Menschen keinen Vorurteilen und keiner physischen Gewalt ausgesetzt sind. Ich setze hier einen sehr weiten Gewaltbegriff an, der auch Formen von materieller, immaterieller, ökonomischer und physischer Gewalt zusammenbringt. Mich beschäftigt die Frage, wie öffentliche urbane Räume gewaltfreie Räume werden könnten und was das mit Planung zu tun hat.
Haben Architekt:innen Einfluss darauf, ob ein Raum gewaltfrei sein wird?
Ich glaube, dass das nicht ausschließlich mit Planung zu lösen ist, aber dass Planung und rechtliche Parameter Nutzungen verändern können. Im Sinne von Sarah Ahmet und ihrem Buch „What‘s the Use? On the Uses of Use“, in dem sie von Praxen und Gewohnheiten bzw. „habits“ spricht, kann man die Gewalt als „bad habit“ sehen. Diese schlechten Gewohnheiten können durch Planungen unterbrochen werden. Aber dazu braucht es mehr Forschung, mehr kritische Lehre und auch eine andere Gesprächskultur zwischen Kommunen und Architektenbüros. Ich denke, der erste Schritt ist, dass eine Frage überhaupt als eine Frage erkannt wird und damit Planungsrelevanz erhält. Gewaltfreiheit sollte planungsrelevant werden. Wir sollten darüber nachdenken, dass Städte sorgetragende Umwelten zur Verfügung stellen und dass Nutzende die Luft, den Boden und das Wasser und die umweltlichen Infrastrukturen in einer Art und Weise benutzen können sollten, die ihrem Körper nicht abträglich ist.
Wie können wir zu einer sorgetragenden Architektur gelangen?
Die Kritik an einer den modernistischen Gedanken verpflichteten Architektur ist ja schon sehr alt. Ich denke, dass Architekt:innen sich gerne als Generalistinnen bezeichnen – und ich sehe das so, dass Architektur ein sehr breites Verständnis von vielen unterschiedlichen Dingen erfordert – nicht weiterhin den Anspruch erheben müssen, alle diese Dinge in ihrer Tiefe zu durchdringen. Es geht eher darum, dass die Art und Weise, wie Architektur produziert wird, ökonomische Möglichkeiten zur Verfügung stellen sollte, dass die Kenntnisse von anderen, die notwendig sind, um die Komplexität dieser Dinge zu begreifen, in die Architekturproduktion hineingelangen können. Es ist also zentral, nicht die Alleinlösungskompetenz bei einer Profession zu sehen.
Ein zweiter Punkt ist die politische Dimension von Architektur als lebensunterstützende und langfristige Sorgearbeit. Ich verstehe also Architektur als eine Form von Sorgearbeit, weil sie Wesen darin unterstützt, existieren zu können. Das ist eine extrem politische Aufgabe, die mit allen Komplexitäten wie der Klimakatastrophe, den Ökonomien, der Produktion und der Materialitäten zutiefst verschränkt ist. Und wenn wir sehen, dass der Wiederaufbau nach Kriegen hauptsächlich aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet wird, weil sie dem Kapitalismus und der Bauwirtschaft gut tun, dann ist das sicher ein drittes großes Feld. Dem Druck von Finanzialisierung entgegen zu arbeiten, ist ein Teil von der politischen Aufgabe, eine künftig besser sorgetragende Architekturproduktion in Gang zu setzen.
Ist Architektur abseits von Umwälzungen durch Krieg und Umweltkatastrophen als
solche aber zu starr und trägt deshalb zur erhaltung ungerechter struktureller Verhältnisse bei?
Architektur ist zu einem großen Ausmaß systemerhaltend und reproduziert hegemonial herrschende Verhältnisse; auch solche, die man Intersektional analysieren kann. Zum Beispiel, wenn man sich Grundrisse historisch anschaut. Die Quadratmeteranzahl von Grundrissen auf ihre Geschlechterdimension hin anzuschauen, war eines der ersten Dinge, die feministischen Architekt:innen getan haben. Und genauso kann man sich die Grundrisse hinsichtlich klassischer Einkommensverhältnisse und in Bezug auf Kategorien von Herkunft, Ethnizität oder Race anschauen. Dann kann man sich anschauen, wer wo wie viel Raum in Wohnungen zur Verfügung hat und wie diese Ungerechtigkeit durch Standardgrundrisse und Normen reproduziert wird. Darin sehe ich die Starrheit von Architektur. Durch Architektur werden Verhältnisse und Vorstellungen, die immer auch soziale Ordnungen sind, oft viel länger reproduziert. Gleichzeitig ist es etwas Gutes, wenn Architektur kein Wegwerfartikel ist. Da es an der Zeit ist, Architektur langlebig zu sehen und mit dem Bestand zu arbeiten, müssen wir eine intersektionale Perspektive an den Bestand anlegen und nicht nur neue gerechte Räume planen. Es ist noch viel Umbau zu leisten, um ein größeres Ausmaß von Raumgerechtigkeit zu erreichen.
Wie kann der Umbau der Stadt zu mehr Gerechtigkeit gelingen?
In Wien ist der gesamte Stadtplan von Straßennetzen durchzogen, die zum allergrößten Teil nach Männern benannt sind. Ganz wenig findet man Namen von Frauen oder von Menschen, die einen diasporischen oder migrantischen Hintergrund haben. Ein Beispiel: Es entsteht gerade ein neuer Stadtteil, in dem es mehr Benennungen mit Frauennamen gibt. Damit ist allerdings nicht das Problem der bestehenden Stadt gelöst worden; nur weil etwas hinzugefügt worden ist, das anders ist. Ein kritischer Umgang mit dem Bestand müsste so aussehen, dass diese Arbeit auch im Materiellen und Immateriellen geleistet wird. Diese Ökonomien des Eingreifens, des Umbauens, des langfristigen Reparierens sind aber nur schwer mit den Anforderungen des Kapitalismus zusammenzubringen, da sie ursächlich, wenn man so möchte, in Widersprüchen zueinander stehen.
Dieser kritische Umgang mit dem Bestand, der intersektional ansetzt, muss meines Erachtens noch an vielen Stellen erlernt werden. Ich sehe das als keine leichte Aufgabe für Architekt:innen, diese vielfältigen Perspektiven mitzudenken …
Es gibt ganz unterschiedliche Ansätze, wie man sich damit auseinandersetzen kann. Das Royal Insitute of British Architects (RIBA) hat sich dieser Frage systematisch gewidmet und bereitet Wissen zu intersektionalen Planungsansätzen auf, auch Maßnahmen zur Weiterbildung. Ich lehre an einer Universität, insofern bin ich davon überzeugt, dass die Dinge durch das Lernen veränderbar sind. Es gibt auch schon sehr viele Beispiele von Lehrenden, die sich diesen Themen widmen, die vor 35 Jahren überhaupt nicht Thema in der Architekturausbildung waren. Diese Prozesse sind sehr langsam und man kann damit auch nicht aufhören. Das Patriarchat schläft nicht; auch der Kapitalismus, Formen von Neokolonialismus, die sind sehr wendig, erfinden sich auch neu und entwickeln andere Formen von Ungerechtigkeit, Gewalt und Extraktion. Man muss neue Umgangsformen mit dem Bestand finden, aber auch neue Kämpfe führen gegen das, was sich auch wendig und agil reproduziert.
Wie sehen Sie die Rolle der Architektur in Zeiten von Krisen? Gerade die Fragestellungen der Sorgearbeit haben sich beispielsweise in der Pandemie stark gewandelt.
Ich denke nicht, dass die Fragestellungen so viel anders waren. Die Pandemie hat viele Dinge sichtbar gemacht, die auch vorher so waren. Sie hat im Grunde das politische Augenmerk für den Zeitraum März 2020 und Oktober 2023 auf das gelenkt, was im deutschsprachigen Kontext als systemerhaltende Arbeit und im Anglophonen als „essential work“ bezeichnet wird. Was sich postpandemisch nicht verändert hat, sind die Arbeitsbedingungen für diese Berufe. Es hat viel mit der Re-Verunsichtbarung systemerhaltender Arbeit zu tun, dass die Pandemie politisch keine Präsenz mehr hat und aus meiner Sicht verdrängt wurde. Dabei haben viele Menschen nach wie vor Covid und Post-Covid Symptome. Man kann sagen, die Pandemie lebt in den Körpern weiter und auch in gesellschaftlichen Verhältnissen.
Welche Bedeutung hat die Sichtbarkeit von solidarischen, sorgetragenden Netzwerken für die Architektur?
Ich bin mir unsicher, ob Sichtbarkeit immer der erste Schritt ist und immer zu der Form von Anerkennung führt, die ihr zugeschrieben wird. Sichtbarkeit kann auch eine Gefahr bedeuten. Das Opake, das nicht durch die Sichtbarkeit Durchdringbare, kann manchmal einen viel geschützteren Raum bieten. Da gibt es keine klaren Antworten. Es ist wichtig, dass man füreinander sichtbar wird, damit sich Initiativen mit ihrem Wissen stärken können. Etwas sichtbar zu machen, ist Teil einer politischen Arbeit, ist aber nicht die Lösung des Problems. Sichtbarkeit steht weder für Macht, noch ist es eine Antwort auf bestehende Probleme, die mit epistemischer, politischer, sozialer und ökonomischer Verunsichtbarung zu tun haben. Antworten wären neue Arbeitsbedingungen, andere Raumkonfigurationen und andere Vorstellung davon, was es bedeutet, Räume zu teilen und Praxen, um bestehende Räume gewaltfrei zu nutzen.
Interview: Natalie Scholder/ DBZ