Ausschuss als Ansichtssache

Reallabor Scrap Material Façade – Digitale Werkzeuge für den Entwurf und die Planung von Fassadenbekleidungen aus Ausschuss-Material

Fassadenbekleidungen aus Restmaterial haben das Potenzial, ein Baustein des nachhaltigen und ressourcenschonenden Baues zu werden. Besonders im Hinblick auf energetische Sanierungen und Renovierungen von Bestandsgebäuden, aber auch im zirkulären Neubau, bieten sich Chancen, auf bereits produzierte Baustoffe zurückzugreifen. Dafür ist zum einen die Weiterentwicklung der gängigen Planungs-, Kommunikations- und Baupraxis der Beteiligten aus Bauindustrie, ausführenden Betrieben und Architekturschaffenden notwendig. Zum anderen bedarf es effektiver digitaler Werkzeuge, um die in diesem Kontext spezifischen Herausforderungen im architektonischen Entwurf und im Planungs- und Umsetzungsprozess zu meistern.

Wenn vor dem Hintergrund des Klimawandels nach Alternativen zu energieintensiven Massivbauweisen mit Mauerwerk und Stahlbeton gesucht wird, taucht im urbanen Holzbau – insbesondere im Kontext bestehender städtischer Strukturen – die Fragestellung nach der Wahl einer adäquaten Fassadenbekleidung auf. Die Gebäudehülle sollte sich architektonisch in den Kontext einfügen können und zudem die besonderen Brandschutzanforderungen im urbanen Holzbau erfüllen. Werden Holzbauteile wie die Untersichten von Decken und Balkonplatten aus ästhetischen und ökonomischen Gründen holzsichtig ausgeführt, ist die Nicht-Brennbarkeit der Fassadenbekleidung ein möglicher Baustein der Anforderungen des Brandschutzkonzepts an die Bauteile.

Darüber hinaus ist das Thema der Wartungs­intensität und Standzeit von Fassaden im mehrgeschossigen Bauen ein Kriterium bei der Auswahl von geeigneten Materialien für die Bekleidung. Hier schneiden in der Regel andere Materialien als Holz besser ab. Pilotprojekte wie 3xGrün in Berlin vom Institut für urbanen Holzbau oder der Lifecycle Tower in Dornbirn von Kaufmann Architekten demonstrieren dies durch die Verwendung von hinterlüfteten Bekleidungen aus Faserzement- respektive Aluminiumtafeln. Diese Baustoffe sind jedoch energieintensiv in der Herstellung und haben in Bezug auf ihre Ökobilanz anders als nachwachsende Rohstoffe ein entsprechend hohes globales Erwärmungspotenzial.

Das Reallabor Scrap Material Façade ist ein Ansatz, eine für den urbanen Holzbau adäquate Fassade durch die Verwendung von Ausschuss-Material klimafreundlich zu entwerfen und zu realisieren. Im Rahmen eines Forschungs- und Praxissemesters an der Fachhochschule Erfurt konnte 2023-24 im Lehrgebiet Entwerfen und energieeffizientes Bauen (Prof. Philipp Krebs) ein Seminar in der Fachrichtung Architektur mit einem in der Umsetzung befindlichen Praxisprojekt Suffizienzhaus U10 in Kassel verknüpft werden. Die seit der Realisierung eines Experimentalbaus mit Formteilen aus Faserzement Anfang der 2000er-Jahre (Egon-Eiermann-Preis) und der späteren kooperativen Entwicklung von Fassadensystemen bestehenden Kontakte zum Hersteller Etex, konnten vom Lehrstuhl für die Konzeption des Reallabors im Sinne einer trans-
disziplinären Kooperation genutzt werden.

Ursprünglich war geplant, die Bekleidung aus ­Verschnittresten auszuführen. Es zeigte sich nach Besuchen im Werk und dem Austausch mit Zuschnittbetrieben, dass durch entsprechende Nesting-Verfahren (CNC-Optimierung im Zuschnitt) die Formate der anfallenden kleinteiligen Abschnitte für die Planung einer Fassadenbekleidung in architektonischer und ökonomischer Hinsicht nicht geeignet sind.

Im Zuge von Recherchen zu nachhaltigen Lösungen von Fassadenbekleidungen aus Faser­zement wurden Projekte wie das Reyclinghaus von Cityförster in Hannover evaluiert. Hier wurde der Weg der Wiederverwendung von Bauteilen gewählt. Der Rückbau und die Aufarbeitung der bereits verbauten Tafeln mit neuem passendem Zuschnitt und egalisierender Farbbeschichtung wurde in diesem Projekt experimentell getestet.

Suffizienzhaus U10 – Fassadenbekleidung statt Ausschuss

Für die Entwicklung einer nachhaltigen Fassadenbekleidung im Rahmen eines urbanen Holzbau-Projekts des Kasseler Büros foundation 5+ architekten, einer Baulückenschließung mit dem programmatischen Projekttitel Suffizienzhaus U10, wurde ein neuer Weg gewählt. Dafür mussten die Bauauftraggebenden und der Hersteller überzeugt werden, statt makellosem neuen Material, Faserzementtafeln für die Gebäudehülle des mehrgeschossigen Holzbaus zu nutzen, die zwar technisch einwandfrei sind, jedoch produktionsbedingt Fehler in der Oberflächenbeschichtung ausweisen. Solche Platten werden in bisher gängiger Praxis als Ausschuss entsorgt oder RC-Schottergemischen beigemengt – ein klassisches Downcycling.

Experimentelle Anwendung digitaler Werkzeuge für den Entwurf und die Planung – Reallabor im Kontext der Hochschullehre an der Fachhochschule Erfurt: Die Herausforderung für den Entwurf und die Planung einer Fassadenbekleidung aus Restmaterial entstehen u. a. aus der Art und Ausprägung der Fehler sowie der farblichen Zusammenstellung, die im Vorhinein eruiert werden müssen. Um dies zu meistern, wurden das konkrete Bauprojekt in Kassel mit der Lehre und Forschung an der Fachhochschule Erfurt zu einem Reallabor verknüpft. Im Rahmen des Hochschulseminars wurden für die besonderen Problemstellungen im Projekt digitale Entwurfs- und Planungswerkzeuge gesucht, die auch im Kontext der Hochschullehre innovative Methoden experimentell vermitteln und in der Anwendung getes-tet werden können. Für dieses Lehrkonzept konnte als Praxispartner Softwareentwickler Lukas Fritzsche mit Expertise im Bereich der Zuschnitt-optimierung und Verschnittvermeidung gewonnen werden. In dem Seminar wurde ein Werkzeugkasten aus den digitalen Anwendungen Excel, Grasshopper und Rhino genutzt und um eine projektspezifische Toolentwicklung ergänzt, um die Nutzung von aus den Restmaterialien resultierenden Beschränkungen zu vermindern und einen flexiblen Entwurfsprozess zu ermöglichen.

Im Januar 2024 wurde eine Exkursion mit den Studierenden zur Produktionsstätte der Faser­zementtafeln nach Beckum veranstaltet. Die Studierenden konnten hier die Herstellung, die Beschichtung und den Zuschnitt der Tafeln praxisnah studieren. In einer Lehrwerkstatt wurden die Prinzipien der Planung und Montage von Unterkonstruktionen, Fugenausbildungen, Befestigungssystemen im Rahmen eines Workshops vermittelt. Schließlich wurden die Tafeln, die im Vorfeld aufgrund von Produktionsfehlern in der Oberflächenbeschichtung als Ausschussmaterial aussortiert worden waren, vollständig gesichtet, die Farbtöne und Fehler dokumentiert und anschließend digital katalogisiert.

An der Hochschule in Erfurt wurden daraufhin in dialogischen Workshops die Anforderungen an das digitale Werkzeug zur Fassadengestaltung erarbeitet und in quantifizierbare Parameter überführt. Das baukonstruktive und planerische Wissen um die Abmessungen der Tafeln, die Statik der Unterkonstruktion, Befestigungstechnik und die Fugenausbildung fand hier eine direkte Anwendung. Dabei stand die Fassadentesselierung und die damit verbundene Ästhetik des Fugenbildes und der Farbverteilungen im Fokus. Verschiedene Muster, sowohl in vertikaler als auch horizontaler Richtung, wurden dabei ebenso betrachtet wie Regeln zu Farbauswahl und Stoßverteilung.

Das auf Grasshopper basierende Tool bietet eine visuell orientierte Programmierumgebung   und erlaubt das Generieren verschiedener Entwürfe in Abhängigkeit der gesetzten Parameter und unter Berücksichtigung des vorhandenen Materials. Ein an das spezifische Eingabeformat angepasste Modul erlaubte das automatisierte Einlesen der in Excel katalogisierten Materiallisten, sodass die Fassadentafeln mit ihren spezifischen Farbaus-prägungen und präziser Bemaßung direkt in der 3D-Modellierungssoftware Rhino zur Verfügung standen. Durch die Programmierung sogenannter benutzerdefinierter Komponenten konnten die definierten Vorgaben an die Fassadengestaltung in ein Design umgesetzt werden.

Die intuitive und visuelle Programmierschnittstelle erwies sich als besonders geeignet, um den Prozess an Studierende zu vermitteln und die komplexen Zusammenhänge von Entwurf und Materialplanung nachvollziehbar zu machen. Im weiteren Projektverlauf wurde der Bedarf eines 2-phasigen Tools zur Entwurfs- und Produktionsunterstützung deutlich.

Entwurfsphase: In dieser Phase ermöglicht das Werkzeug durch Anpassung von Parametern in Echtzeit verschiedene Fassadenvarianten zu generieren und zu visualisieren. Dabei werden sowohl die Fassadenansicht als auch die zugehörigen Schnittpläne mit dem resultierenden Materialverbrauch dargestellt. Diese direkte Rückkopplung erlaubt es Gestaltern, verschiedene Entwürfe ganzheitlich hinsichtlich hoher Ansprüche an Ästhetik, konstruktive Umsetzbarkeit und nachhaltigem Materialverbrauch zu evaluieren und Entwurfsentscheidungen zu treffen.

Produktionsplanung: In dieser Phase unterstützt das Tool die automatisierte Erstellung von Schnittbildern und deren Zuordnung zu einem Katalog an bestehenden Tafeln. So kann der Entwurf hinsichtlich der Machbarkeit mit den vorhandenen Werkstoffen validiert werden. Opti­mierungs-Algorithmen zur effizienten Schnitt­­-
planerstellung (Nesting) werden eingesetzt, die den Materialverbrauch hinsichtlich der Verteilung auf der Fassadenfläche minimieren und die Nutzung der verfügbaren Tafeln maximieren.

Der finale Entwurf kann dann im für die Produktion erforderlichen Format exportiert werden. Dazu werden Zuschnittlisten im Excel-Format für alle benötigten Fassadentafeln mit Angaben zu Bohrungen, Kantenbehandlung und Farbtönen erzeugt.

So erlaubt das entwickelte Toolset einen kontinuierlichen digitalen Prozess, ohne Datenbrüche vom Katalogisieren des vorhandenen Materials über die Erstellung des Entwurfs bis hin zur Produktionsabwicklung. Solche digitalen Agenten können in Zukunft Architektinnen und Architekten bei der Planung über verschiedene Phasen hinweg bis hin zur Realisierung begleiten.

Fazit

Das Projekt hat demonstriert, wie eine flexible Planung und nahtlose Produktionsvorbereitung dank eines digitalen Werkzeugkastens dazu beitragen können, eine Fassadenbekleidung aus Ausschussmaterialien in die Anwendung zu bringen. Der Planungsoverhead wurde auf ein mit konventioneller Planung vergleichbares Niveau begrenzt, gleichzeitig konnten Freiheitsgrade im Entwurf zurückgewonnen werden. Im Zuge der Toolentwicklung wurden verschiedene Metriken der Fassadengestaltung entwickelt und evaluiert und bieten so einen Anschluss für nachfolgende Projekte. Darüber hinaus konnten Studierende durch das praxisnahe Lehrkonzept – transdisziplinär mit der Bauindustrie und der Kooperation mit Software Ingenieuren – in einem realistischen Szenario an die Herausforderungen komplexer Planung herangeführt werden. Die Verknüpfung von Bauforschung und Lehre an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften ist hier gelungen.

Das Projekt bietet ebenso Anlass, die bisherige Praxis von Entwurfsprozessen zu reflektieren. Anders als bei einem Fassadenentwurf mit Neuware wird hier Material mit spezifischen Eigenschaften – bisher als optische Fehler bezeichnet – vorgefunden. Vor diesem Hintergrund wurden im Reallabor Projekt mit Hilfe digitaler Werkzeuge ganzheitlich ästhetische und technische Lösungsstrategien getestet und untersucht. Im Ergebnis des realisierten Baus ist die kleinteilige, patchworkartige Struktur das Resultat einer variantenreichen Versuchsreihe, welche Farbverteilung, das Egalisieren von „Oberflächen-Fehlern“ auf den Tafeln, die Zuschnittoptimierung und die Montagefreundlichkeit zu einem Fassadenbild verknüpft, das auch dem Anspruch an eine angemessene Einfügung in den städtebaulichen Kontext gerecht werden kann. Das Reallabor Scrap Material Façade – Digitale Werkzeuge für den Entwurf und die Planung von Fassadenbekleidungen aus Ausschuss-Material – zeigt Chancen für die Bauindustrie sowie Planungsbeteiligte auf und zeigt, wie wir gemeinsam zu einer neuen Ästhetik und Planungskultur im nachhaltigen Planen und Bauen finden können.

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