Beinahe perfekt
Vor 50 Jahren war Winsor & Newton der Laden in London, in dem man (und durchaus auch royale Künstlerinnen) sämtliches Zeichenmaterial kaufte. Beste Qualität für gutes Geld. Den Laden gibt es heute noch, doch man ist mit der Zeit gegangen, die Beschränkung auf Papier, Stifte, Pinsel und Farben aller Sorten sowie wenige Accessoires hat sich gedreht. Wer heute bei W & N eintritt, sieht sich Sets gegenüber, Geschenkpräsentationen und manchmal sogar kleinen Gemäldeausstellungen.
Farben und Stifte, Pinsel und Papiere, alles das ist noch da, auch die kleinen Skizzenbücher, von denen Louis I. Kahn offenbar derart angetan war, dass er seine Notebooks für die Tasche meist von W & N kaufte, bei Taws Artist Materials & Studio in Philadelphia. So wohl auch das „Last Notebook“, dessen Faksimile nun bei Lars Müller erschienen ist. Anlass könnte der fünfzigste Todestag des Architekten sein oder einfach nur der Abschluss eines länger schon geplanten Publikationsprojekts.
Eine der Töchter Kahns, Sue Ann Kahn, war vor Jahren auf den Verleger Lars Müller zugegangen und hatte ihn um eine Zusammenarbeit gebeten. Warum sie das ausschließlich für das letzte Notizbuch wollte? Lars Müller hatte zuerst abgelehnt, zu schwierig erschien ihm der Nachbau des kleinen Buches, dessen bibeldruckdünne Blätter (50 gr/m²) auch noch beidseitig beschrieben, bemalt waren. Wie hier scannen? Wie das Original schadenfrei demontieren? Wie drucken auf Bogen, deren Blattstärke, deren Oberfläche, Farbigkeit etc. maschinellen Druck eher ausschließen?
Man holte sich Rat bei Experten und schließlich ging es. Mit Behelfen, denn so ganz dünn wurde das Papier nicht. Also reduzierte man den Umfang: 144 Seiten statt 192, womit die Buchdicke gleich blieb. Herausgelöste, also nicht mehr vorhandene Seiten wurden durch leere ersetzt/gekennzeichnet. Und konsequent wurde der nicht unerheblich große Teil des Buchs, den Kahn nicht mehr füllen konnte, als weiße, also leere Blätter mitgebunden. Wir kaufen damit sehr viel „Raum für Notizen“ (zu einem allerdings moderaten Preis). Dieser Freiraum aber, so die Tochter im Vorwort, solle nicht als etwas Unberührbares zu betrachten sein, im Gegenteil lädt sie alle ein, diesen Raum für eigene Zeichnungen, Gedanken, Geistesblitze zu nutzen. ... Aber kann man das? Eigenes Skizzenwerk direkt anschließend an das eines Meisters?
Die Publikation ist – wie schon die zum Skizzenbuch Le Corbusiers (Rezension in der DBZ 05|2024, „Wege ins Œuvre“) in zwei Teile gefasst: Einmal gibt es das beinahe perfekt gemachte Faksimile, dann einen Kommentar- und Transkriptionsband. „Beinahe perfekt“, weil der weinrote Einband mit aufgedruckten Flecken dann doch ein wenig zu frisch herüberkommt, die Bindung zu fest, zu stramm erscheint und man den transparenten Verlagseinband gleich wegwerfen möchte; und dann wieder nicht, schützt er doch das Neue, das das Alte sein soll.
Ohne das Beibuch in gleichem Format und mit dem Nachbau in einen Kunststoff Semi-Schuber gepackt, wäre das letzte Notizbuch nur sehr schwer zu entziffern. Doch das Transkript erlaubt Zugriff auf jedes noch so kleine Gekritzel.
Es erläutert den Hintergrund für das Hauptthema, die Arbeit Kahns am Franklin D. Roosevelt Memorial vor der Skyline von Manhattan, es stellt seine Notizen zu Vorträgen, aber auch spontane Adressnotate von damaligen Größen der Kulturszene vor. Mehrfarbig in Schrift und Zeichnung, kunstvoll und kryptisch und dann der schon genannte Abbruch bereits vor der Mitte des Buches: leere Seiten. Auf der letzten der beschriebenen Seiten die fast schon kindlich anmutende Zeichnung eines Schweifsterns (?), der alles bedeuten kann. Ausblick, Abschluss, Himmelfahrt?
Louis I. Kahn, der unbestreitbar zu den international einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts und wohl bis heute gezählt wird, hatte man am 17. März 1974 tot auf einer Bahnhofstoilette in New York gefunden. Drei Tage lang war er nicht zu identifizieren, niemand schien ihn gesucht zu haben. Damit bekommt der Titel „Last Notebook“ einen gewissen Geschmack von Enthüllung, jedenfalls hatte diesen Geschmack der Rezensent im Hirn.
Dass das letzte Notizbuch zum Persönlichen keinerlei Hinweise enthält, hebt es dann über das biografisch fokussierte und nicht selten manipulierte (geschönte) Tagebuch hinaus auf die Ebene des Vermächtnisses: Das Memorial brauchte noch Jahrzehnte bis zu seiner Realisierung. Und wie immer man zu solchen Gedenkorten steht: In ihm zu stehen, Manhattan gegenüber, ist erhebend und beschwichtigend zugleich. Es noch besser zu verstehen, dazu lädt das Studium dieses kleinen Notizbuchs ein, ob nun letztes oder vorletztes spielt in keiner Weise eine Rolle. Be. K.