Modellprojekt "In der Heimat wohnen", Teuschnitz

Barrierefrei im Kontext
Modellprojekt „In der Heimat wohnen“, Teuschnitz

Mit dem Konzept „In der Heimat wohnen“ will der Architekt Ulrich Müller gemeinsam mit dem Bauherrn, dem Caritasverband für die Erzdiözese Bamberg e.V., den ländlichen Raum aufwerten. In Teuschnitz entstand eines der Projekte, das neue Impulse für alternative Wohnformen im Alter geben möchte.

Auf einer Tagung zum Thema „Wohnen im Alter“, die das Bayerische Sozialministerium im November vergangenen Jahres in Nürnberg veranstaltete, sagte der Bochumer Soziologe Rolf G. Heinze: „Es geht primär nicht um die Wohnung, sondern um das Wohnen und das bedeutet sozialräumliche Vernetzung und Quartiersorientierung.“

Prototyp: selbstbestimmtes Wohnen ganzheitlich gedacht

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das städtebauliche und generationsübergreifende Modellprojekt „Lebensraum Teuschnitz“, das barrierefreies Bauen mit einer niedrigschwelligen lokalen Versorgung aus professioneller und nachbarschaftlicher Hilfe verbindet. Es stellt darüber hinaus den Versuch dar, einer weiteren Abwanderungswelle vom Land in die Stadt entgegenzuwirken. Es ist ein Prototyp, in dessen Zentrum ein selbstbestimmtes Wohnen trotz altersbedingter Einschränkungen steht. Denn Architektur ist nur ein Teil eines umfassenden Konzepts. Und, das konzediert auch der verantwortliche Architekt Uli Müller, bei der Architektur des Gebäudes ist noch Luft nach oben. ­Andererseits ist dieses im Rahmen des Wohnmodells „In der Heimat wohnen“ ausgeführte Pilotprojekt ein Versuch, das Thema Barrierefreiheit ganzheitlich zu denken. Denn auch eine detailgetreue Erfüllung der DIN 18024 bzw. 18040 wird die vielfältigen Raumprobleme, die sich aus dem demografischen Wandel und der Überalterung der Gesellschaft ergeben, nicht lösen. Zumal, wie Uli Müller anhand von Beispielen überzeugend darstellen kann, barrierefrei nicht barrierefrei sein muss.

Teuschnitz liegt auf den Höhen des Frankenwaldes, unmittelbar an der Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Seit der Wende erlebte die 2000-Seelen-Kommune einen dramatischen Niedergang: Nach dem Wegfall der Zonenrandförderung schloss ein Industriebetrieb nach dem anderen oder zog weg. Von 1990 bis 2010 sanken die Gewerbesteuereinnahmen um mehr als das Sechsfache, in demselben Zeitraum reduzierte sich die Bevölkerung um 20 %. Die Folgen sind deutlich sichtbar: Leerstände sogar an der Hauptstraße. Auch die ­Infrastruktur bricht weg. Und nun droht wie in vielen kleinen Gemeinden im ländlichen Raum eine neue Abwanderungswelle: Weil Senioren keinen angepassten Wohnraum finden, müssen sie ins Altersheim – und das ist nicht am Ort, sondern, wenn überhaupt, in der nächsten Kleinstadt. Seit knapp zehn Jahren versuchen die Erzdiözese Bamberg, ihr Caritasverband und das kirchliche Wohnungsunternehmen Joseph-Stiftung darauf zu reagieren. Mit „In der Heimat wohnen – ein Leben lang“ (IdHw) entwickelten die drei Träger ein Wohnmodell, das barrierefreies Wohnen, ehrenamtliches Engagement und Versorgung durch soziale Dienstleister miteinander verknüpft. An gut einem Dutzend Standorten wurde das Konzept bereits verwirklicht, ein Dutzend weitere Standorte sind in Planung. Der Bedarf, versichert Helmar Fexer, stellvertretender Direktor des Caritasverbandes für die Erzdiözese Bamberg e.V., liege vor allem im ländlichen Raum. Barrierefreier Wohnraum existiere in peripheren Räumen so gut wie überhaupt nicht. Der Ausweg ist der Umzug in eine Seniorenanlage in der nächsten Stadt – und damit in vielen ­Fällen die Inkaufnahme eines Verlustes an sozialen Kontakten, eines Verlustes, so Fexer, „an Lebensqualität“.
Perfekter Standort in Teuschnitz

Das Gebäude, in dem das Projekt realisiert wurde, teilt sich eine gemeinsame Brandwand mit dem Rathaus. In unmittelbarer Nähe liegen Kirche, Stadtpark, Markplatz, Bibliothek, Friedhof, Bäcker, Metzger, zwei Allgemeinmediziner und die Apotheke. Auch Bank und Post sind um die Ecke. Das Haus aus dem 19. Jahrhundert, unter Ensembleschutz stehend, stand über Jahre leer. Das Besitzerehepaar war verstorben, die Töchter kümmerte es nicht. Die Kommune mit ihrer äußerst engagierten Bürgermeisterin Gabriele Weber an der Spitze erwarb das Gebäude und gab es an IdHw weiter. Acht barriere­f­reie Wohnungen wurden geschaffen, dazu ein Gemeinschaftsraum sowie ein Büro für eine Quartiersmanagerin. Weil die Substanz des Gebäudes morsch war, konnte nur die im Laufe der Jahre mehrmals umgebaute Fassade erhalten werden.

Wegen der prominenten Lage reagierte Projektarchitekt Müller, der auf langjährige Erfahrung beim Umbau von Wohnungen für Unfallopfer zurückgreifen kann, kontextbezogen: Er ordnete die mit Sandstein verkleidete Fassade des Erdgeschosses neu, entfernte ein großes Schaufenster auf der linken Seite und rückte den Eingang – mit einer kräftig rot gestrichenen, mächtigen Holztür und zarten Festverglasungen an den Flanken – wieder in die Mitte. Nutzungsangepasst wird das Gebäude über eine kleine Treppe und eine Rampe erschlossen. Weil diese mit einer Sandsteinmauer verblendet und der Belag das ortsübliche Granitpflaster ist, passt die ungewohnte Erschließung ins Ortsbild. Unterstützt wird der Effekt durch den leicht gelblichen Kalkputz, mit dem die mit einem Gesims abgesetzte Fassade im Obergeschoss verputzt ist, und die ruhige Dachfläche aus Naturschiefer. Der Architekt bewies Sinn fürs Detail: So sind die Fensterbretter und ein Abkantblech auf dem Gesims aus bereits patiniertem Kupfer. Eine vertikale Versprossung streckt optisch die Isolierglasfenster, die Faschen um die Fenster wurden erneuert. Insgesamt konnten Müller und sein Team der alten Fassade optisch ein neues, sehr feines Aussehen verleihen.

Auf der Hofseite wurde das ebenfalls vernachlässigte Werkstattgebäude durch einen schlichten Neubau in ähnlicher Kubatur ersetzt. Eine zweigeschossige Glasfuge, die einen zweiten, ebenfalls barrierefreien Eingang beschert, verbindet beide Ensembleteile.

Alle Wohnungen wurden barrierefrei gestaltet:

Die innenliegenden Bäder haben eine bodengleiche Dusche, einen unterfahrbaren, ab­geflachten Waschtisch und eine Bewegungsfläche von mindestens 1,20 x 1,20 m. Mit einer hochdruckfesten Platte beidseits des Spülkastens wurden die Sanitärräume vorgerüstet, um Stützgriffe anzubringen. Die Badtüren schlagen nach außen auf, sie lassen sich im Notfall von außen öffnen. Die Rohbaubreite der Türen beträgt im ganzen Haus 1,01 m, sodass die Türen auch mit dem Rollstuhl zu durchfahren sind. Alle Wohnungen, sind mit einem Abstellraum ausgestattet. Küchen gehen fließend in den Wohnraum über. In den Neubauwohnungen gibt es entweder einen schmalen Balkonaustritt oder im Erdgeschoss eine Terrasse.

Günstige Mieten

Dass bei erzielbaren Mieten von 4,20 €/m² auch bei Herstellungskosten – sie betragen 1 287 €/m² – gespart werden musste, ist Neu- und Altbau dann auch anzusehen. Die Bodenbeläge in den Wohnungen, Gemeinschaftsraum und -küche sind waschbar, abriebfest und rollstuhlgerecht, aber aus PVC in Parkettoptik. Eine pfiffige Lösung fanden die Architekten für die Erschließung der Wohnungen in den Obergeschossen: Sie funktioniert mit einem günstigen Plattformaufzug – ohne Kabine, aber auch ohne Über- oder Unterfahrt. Und dazu sind die Wartungskosten äußerst gering.

Das Herz der kleinen Wohnanlage ist der Gemeinschaftsraum. Hell und großzügig, schließt auf der einen Seite eine mit einer Schiebetür abgetrennte Gemeinschaftsküche, auf der andere Seite, ins Freie, eine Terrasse und ein Garten an. Dieser Raum steht allen Bewohnern sowie allen Bürgern der Stadt offen und funktioniert als Klammer zwischen den Mietern und den Teuschnitzern. Vielfältige Aktivitäten wie wöchentlicher Mittagstisch, ein monatliches gemeinsames Essen mit den Kindern vom Kindergarten, Vortrags- und andere kulturelle Veranstaltungen finden hier statt. Betreut werden diese Aktivitäten von einer Quartiersmanagerin, die auch ehrenamtliche Hilfe wie Fahr- und Besuchsdienste, gemeinsame Einkäufe oder die pflegerische Versorgung durch soziale Dienstleister organisiert. Enrico Santifaller, Frankfurt a. M.
Mehr Fotos, Zeichnungen unter DBZU97GJ
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