Über die Kunst, den Überblick zu behalten

Being digital, acting sustainable

Digitalisierung und Nachhaltigkeit – beides zwei abgedroschene Begriffe der Fachwelt mit nahezu inflationärer Verwendung. Doch wenn man ehrlich ist, weiß kaum jemand, worum es dabei wirklich geht und vor allem, warum diese beiden Begriffe – auch für die Architektur relevant – untrennbar zusammenhängen? Dies wird erst dann deutlich, wenn wir mit grundlegenden Zusammenhängen innerhalb dieses Kontextes konfrontiert werden: Statt mündigen Nutzern findet man meist nur getriebene Konsumenten. Dieser Artikel tritt daher bewusst einen Schritt zurück, um bei den grundlegenden Themen und Zusammenhängen anzusetzen.

Charakteristisch für die inhaltliche Zusammensetzung beider Begriffe ist ein Netzwerk von einzelnen Themenbereichen. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, DIE Digitalisierung oder DIE Nachhaltigkeit pauschal als Ganzes zu erfassen. Dass unsere Arbeitskultur in der Regel fordistisch geprägt ist – linear organisierte, kontinuierlich ablaufende Arbeitsprozesse – macht das Verständnis nicht leichter. Diese Denkweise findet sich bspw. auf Baustellen bei dem Satz „Das haben wir aber immer/noch nie so gemacht!“

Um die Abhängigkeiten innerhalb von Netzwerken besser zu verstehen, nutzt Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der TU München, einen Vergleich zu unserem Leben. Dieses verläuft zwar linear, ist aber geprägt von einem Netzwerk an wechselseitigen sozialen Kontakten. Jeder dieser Kontakte hat eine individuelle Beschaffenheit, die temporär oder dauerhaft sein kann, manchmal intensiver oder manchmal oberflächlicher geprägt ist. Jeder Mensch verfügt über ein solch einzigartiges Netzwerk von Kontakten. Und wir wissen alle, wie wichtig der richtige Kontakt in bestimmten Momenten sein kann.

Ähnlich können wir uns die Verknüpfungen innerhalb der Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit vorstellen.

Zum Grundverständnis gehört auch das ­Erkennen und Einordnen der Tragweite beider Begriffe. Hierfür ist es notwendig, konstitutiv zu begreifen, dass wir als Planer, aber auch als Gesellschaft, beide Themenbereiche nicht als freiwilliges „Add-On“ begreifen dürfen, sondern sie als Selbstverständnis in jedem Kontext berücksichtigen müssen.

Zum einen wird sich die Digitalisierung nicht mehr aufhalten lassen und hat heute schon nahezu jeden Bereich unseres Lebens netzwerkartig durchdrungen. Auf der anderen Seite konfrontiert uns unsere fehlende Nachhaltigkeit immer häufiger mit den kurzsichtigen Konsequenzen unseres Konsumverhaltens. Für eine mündige Zukunftsentwicklung müssen wir uns dieser kritischen Reflexion des Ist-Zustandes stellen. Am Beispiel zweier Perspektiven wird die Notwendigkeit erläutert:

Zum einen haben wir als Gesellschaft weitestgehend die Hoheit über unsere persönlichen digitalen Daten abgegeben – oder prüft wirklich jemand AGBs und entscheidet danach? Auf der anderen Seite beschäftigen sich bisher nicht viele Menschen in hinreichender Tiefe mit der KI, also künstlicher Intelligenz. Wir ahnen gerade erst, wo dies hinführen könnte. Erst durch die aktive Auseinandersetzung mit der Tragweite und den Zusammenhängen bei diesen Themen können wichtige nachhaltige Fragestellungen, wie die nach einem stabilen, friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben, entstehen. Für uns Planer bedeutet das gleichfalls, dass wir hinterfragen müssen, wie unsere Profession unter diesen veränderten Rahmenbedingungen zukünftig aussehen soll.

Digitalisierung

Einzeln aufgeschlüsselt meint der Wortbegriff Digitalisierung ursprünglich die Umwandlung von analogen in digitale Informationen. Im letzten Jahrzehnt ist er jedoch Synonym für die nahezu vollständige Durchsetzung und Vernetzung unseres Lebens mit digitalen Endprodukten und Anwendungen geworden, auch digitale Transformation genannt.

Als Architekt verknüpft man mit Digitalisierung aktuell und medienwirksam das Arbeiten mit BIM (Building Information Modeling), bei dem ein Gebäude als parametrisches Gebäudemodell erstellt und mit Informationen aus dem Planungsprozess kollaborativ zusammengeführt wird.

Dieser Ansatz steht im starken Kontrast zum etablierten Planungsprozess, der linear verläuft, bei dem 2D-CAD-Linien und -Schraffuren eine digitale Übersetzung der Tuschezeichnung sind und bei dem der Datenaustausch uni-direktional zwischen Architekt und Fachplanern erfolgt. Das parametrische Herangehen der BIM-Methode meint dagegen, dass fast jedes Bauteil als digitales 3D-Äquivalent der Realität erzeugt und unmittelbar mit zahlreichen standardisierten Informationsabläufen aus dem Bauprozess verknüpft wird. Die Bearbeitung erfolgt weitestgehend kollaborativ – also gleichzeitig und gemeinsam von allen Beteiligten.

Dabei ist BIM nicht plötzlich entstanden, sondern die Digitalisierung und Vernetzung des Planens hat bereits in den 1980er-Jahren mit den ersten CAD-Programmen begonnen und wird seitdem im Berufsalltag kontinuierlich weiter ausgebaut.

Als neue Perspektive gilt eine KI-basierte Planung, die proaktiv und selbstlernend bereits zu Entwurfsbeginn einen optimierten Lösungsansatz gemäß Zielvorgaben berechnen könnte. Eine abstrakte Anwendung wäre bspw. die automatisierte Auswertung von Social Media-Profilen eines Kunden, um über eine algorithmische Medienauswertung aktuelle und zukünftige Stil-Vorlieben zu errechnen, um diese direkt in den Entwurfsprozess einfließen zu lassen. Eine Anwendung, die den Innenarchitekten unter uns durchaus Konkurrenz machen könnte.

Nachhaltigkeit

Die heute noch gültige Definition von Nachhaltigkeit stammt aus derselben Zeit wie die ersten CAD-Programme, aus dem sog. „Brundtlandbericht“, den die Vereinten Nationen 1987 veröffentlicht haben. Dieser sagt aus, dass durch eine nachhaltige Entwicklung gewährleistet sein soll, dass zukünftige Generationen, gleichsam wie unsere heutige, ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen können ohne Verzicht gegenüber der vorherigen. Zuletzt wurden nachhaltige Gesellschaftsanforderungen in der „Agenda 2030“ (2015) von den Vereinten Nationen über die 17 Sustainable Development Goals (SDG) definiert, die sich aus ganzheitlicher Sicht in ökologische, ökonomische und soziale Themen aufschlüsseln lassen. Mit Blick auf das voraussichtlich scheiternde und von der Wissenschaft mit Dringlichkeit diskutierte Ziel, die globale Erwärmung auf unter 2 °C zu begrenzen, wird deutlich, warum in diesem Kontext ein drastisches Umdenken erfolgen muss.

Als Planer trifft man auf diese ganzheitlichen Ansätze bisher fast ausschließlich über Zertifizierungssysteme: In Deutschland sind es das DGNB/BNB-System, international z. B. LEED oder ­BREEAM. Die fehlende Breitenwahrnehmung ist u. a. auf politische Formulierungen wie aus dem „Klimaschutzplan 2050“ zurückzuführen, die das „klimaneutrale Bauen“ ausschließlich in den Kontext des Energiesektors setzt und dadurch den Begriff „nachhaltiges Bauen“ abwertet.

Als wichtige Schritte in der nahen Zukunft müssen Themen wie die Effizienzsteigerung, die Nutzung von regenerativen Energien und die Dämmqualität als Teil des klimaneutralen Bauens unter dem ganzheitlichen Oberbegriff „Nachhaltiges Bauen“ subsummiert werden. Als weitere Schritte neben einer emissionsbezogenen Bewertung von Gebäuden wäre eine vollständige Erfassung von Emissionsdaten im Rahmen von Bauaufsichtlichen Zulassungen wünschenswert. Als Zukunftsvision sollte man diese Bewertungen mit in die Vergabeverfahren einfließen lassen.

Mit unseren beständig genutzten und zuverlässigen Konstruktionen hatte die Architektur immer schon eine gewisse nachhaltige Perspektive besessen, muss jetzt allerdings noch einen drauflegen.

Wie beide Begrifflichkeiten miteinander verknüpft sind, wird im folgenden Beispiel ausgehend von der Digitalisierung zusammengeführt. Diese Erläuterungen gelten gleichsam für die private wie auch die berufliche Perspektive als Planer.

Wechselwirkungen

Von digitalen Produkten und Anwendungen kennt man Innovationsprozesse, die innerhalb kürzester Zeit veraltete Entwicklungen vom Markt verdrängen. Diese disruptiven Innovationen sind eine rein technisch-ökonomische Optimierung, die Folgeeffekte in anderen Bereichen in Kauf nimmt. Konkret bedeutet dies, dass die exponentielle Steigerung der Rechenleistung immer komplexere, aber auch immer mehr parallele Rechenoptionen ermöglicht. Daraus konnte sich das Cloud-Computing entwickeln, also die Online Nutzung von Diens­ten und Anwendungen an Stelle der Nutzung von lokalen Endgeräten. Daraus lässt sich eine erste nachhaltige Fragestellung ableiten: Wer hat die Datenhoheit im Big-Data Kontext? Welche Daten unseres privaten und gewerblichen Online-Verhaltens werden für welche Zwecke weiterverwendet?

Durch diese disruptiven Veränderungen wurden viele Komponenten in lokalen, unvernetzten Endgeräten überflüssig. Dennoch steigt die Anzahl von online-basierten, vernetzten Einzelgeräten, sowohl im privaten wie auch im beruflichen Kontext. Diese nachhaltige Problematik nennt sich „Rebound-Effekt“ und bedeutet, dass trotz Effizienzsteigerungen die ursprünglichen Einsparungen durch einen Mehrverbrauch teilweise aufgehoben wird.

Direkt damit hängt der globale Stromverbrauch zusammen, der für das Internet mit einem Anteil von 11 % beziffert wird und zu zwei Dritteln über fossile Energieträger gedeckt wird. Auch dieser Kontext gilt für den privaten und gewerblichen Verbraucher und führt zu den nachhaltigen Fragen: Wird der Strom meiner Online-Dienste und der meiner eigenen Nutzung regenerativ erzeugt? Warum planen wir aus dieser nachhaltigen Verantwortung heraus, trotz vorhandener Technik, immer noch nicht vollständig energieautarke Gebäude?

Zielt man daher auf eine klimaneutrale Gesellschaft ab 2050 (laut der Wissenschaft deutlich früher notwendig), ist es unumgänglich, dass wir als Menschen diese Zusammenhänge beider Themen als ganzheitliche Problemstellung begreifen. Aber auch als Architekten müssen wir neben den Urbanisierungstendenzen, heterogenen Lebensmodellen und der Demografie eine Verantwortung für die Gestaltung von zukünftigen digitalen und nachhaltigen Lebensmodellen entwickeln. Im Folgenden daher drei exemplarische Beispiele, bei denen die Bauforschung bereits diesen Weg gegangen ist:

Beispiele der Bauforschung

Die Bergische Universität Wuppertal beschäftigt sich beim Projekt „Building Information Modeling (BIM) als Basis für den Umgang mit digitalen Informationen zur Optimierung von Stoffkreisläufen im Bauwesen“ mit Abbruchprozessen sowie deren Daten- und Informationsnutzung mittels BIM. Dabei werden erstmals konkrete Ansätze geschaffen, das ökobilanziell in der Regel nicht berücksichtigte Abbruchmaterial zu bewerten, um Rückbauprozesse und das Baustoffrecycling zu optimieren.

Heiß erwartet wird auch das Verbundprojekt „BIM basierte Integrale Planung“, dass gerade u. a. vom KIT (Fachgebiet Building Lifecycle Management) und dem Fraunhofer Institut für Bauphysik IBP abgeschlossen wird und das sich der Energieeffizienz und der Nachhaltigkeit von Gebäuden und Quartieren widmet. Hierbei sollen über eine XML-Schnittstelle BIM-Gebäudedaten und Ökobilanz-Bewertungen optimal verknüpft werden und eine planungsprozessbegleitende Bewertung erlauben.

Mit anderem Schwerpunkt untersucht das Projekt „LoCaL – Low Carbon Lifecycle“ der FH Aachen CO²-Emissionen im Wohnungsbau. Hierbei werden verschiedenen baulichen Abbruch-, Sanierungs- sowie Neubau-Konzepten unterschiedliche Energieversorgungskonzepte gegenübergestellt. Erstmals wurde dabei die Betriebsenergie nicht auf Basis der anlagentechnisch beschränkten und statischen Berechnung der DIN V 18599, sondern über eine thermische Gebäudesimulation mit nachgeschalteter Energie­simulation dargestellt. Diese Simulationen liefern gegenüber dem Rechenverfahren nicht nur realitätsnahe Energiegrößen, sondern ermöglichen auch die Prüfung von innovativen Energiekonzepten.

Diese Projekte sind zwar wichtige, aber dennoch individuelle Einzellösungen, die summiert leider selten übergeordnete Langzeit-Perspektiven erreichen. Dass diese übergeordneten Ansätze äußerst wichtig sind, bisher aber fehlen, zeigen zwei prägnante Beispiele:

35 Jahre nach Einführung der ersten CAD-Programme und 20 Jahre nach Beginn des kommerziellen Internets wurde im April 2019 ein Forschungsprojekt abgeschlossen, dass sich mit der Umsetzung von digitalen Baugenehmigungsverfahren beschäftigt.

Ähnliches zeigt die Nachhaltigkeitsbewertung, die 60 Jahre nach dem Nachweis des anthropogenen Treibhauseffekts und 40 Jahre nach den ersten ökologischen Bilanzierungsverfahren im Oktober 2019 ein reines Gebäudeenergiegesetz verabschiedet, das keine emissionsbasierte Gebäudebewertung vorschreibt.

Die Beispiele zeigen, wie wichtig übergeordnete, interdisziplinäre Strategien sind, die nicht nur die Digitalisierung und Nachhaltigkeit in einen gemeinsamen Zusammenhang setzen. Als positives Beispiel sei das aktuelle Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aufgeführt, dass neben der Bildung einer mündigen, verantwortungsbewussten Gesellschaft auch vorschlägt, eine Charta als Absichtserklärung für einen möglichen Weg zu formulieren. Vielleicht ist das auch ein Ansatz, dem sich die Architektur ganzheitlich und mit Nachdruck widmen sollte, und vielleicht liefert sogar die BIM-Methode bereits wichtige Anstöße, beide Themen gemeinsam im Bewusstsein des Planers zu verankern.

Hartmut von Hentig zitiert bereits 1996 in seinem Buch „Bildung“ den Satz: „‚Being Digital‘ werde in erster Linie die Fähigkeiten verlangen, „die Übersicht zu behalten“, was heute noch erst recht für eine gemeinsame digitale und nachhaltige Gesellschaftsvision gilt.

Da sich ArchitektInnen selbst als Generalisten bezeichnen, sie Netzwerker und Manager von Komplexität sind, vom Wunsch getrieben, dauerhafte belebte Umwelt zu gestalten und sie ihre Ansprüche nicht selten mit einer geistigen Haltung begründen – wer, wenn nicht ArchitektInnen sind also dafür geschaffen, diese nachhaltige Digitalisierung konstruktiv, kreativ und kollaborativ mit zu gestalten?

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