Bilbao-Effekt wird zwanzig
Wahrscheinlich gab es den Bilbao-Effekt schon bevor er seinen Namen Ende der 1990-er Jahre erhielt. Da hatte nach der Eröffnung des Guggenheim Museum in der baskischen Hauptstadt wohl kaum einer geahnt, dass dieser spektakuläre Bau von Frank Gehry nicht bloß das Kunstlieberhaberjetset anlocken würde: Das Museum, das wir 1997 in der DBZ noch als reinen „Kunstgenerator“ unterschätzten, brachte der alten und eben altgewordenen Industriestadt am Nervión den Schwung, um den entscheidenden Schritt aus der Zeit der Werftenindustrie heraus in eine der Dienstleistungen zu schaffen.
Der aus diesem Zusammenhang geborene Begriff „Bilbao-Effekt“ wird heute für all die Versuche vereinnahmt, die mittels des Baus eines irgendwie spektakulären Gebäudes wirtschaftliche Vorteile für die Stadt, die Region generieren möchte. Man denke an den Tour Eiffel, die Sydney Opera oder sicherlich auch Hamburger Elbphilharmonie.
Zwei Männer beim Joggen
1993 trafen sich am Ufer des nach Industrieabwässern stinkenden Nervión zwei Männer zum Joggen (so geht jedenfalls die Legende). Da war der mit Künstlern wie Ed Moses, Robert Irwin, Claes Oldenburg oder Richard Serra befreundete Frank Gehry sowie der am Ende gescheiterte Guggenheimkunstglobalisierer Thomas Krens (damals Direktor der Guggenheim Foundation). Der wies, so die Legende, mit weitem Schwung über den Fluss hinweg in Richtung Altstadt und sagte zu dem Architekten: „Frank, du bist hier der Künstler. Das ist dein Ort und deine Plastik“. Diese Carte Blanche ließ den gebürtigen Kanadier eine Skulptur skizzieren, deren Malgrund triste und marode Werftlandschaft war. Gehrys Entwurf hatte kaum etwas mit dem zu tun, was man heute gerne den „Ort“ nennt, den Kontext, Gehry behandelte das wie ein weißes Blatt Papier. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit dem Vitra Design Museum in Weil und – wesentlich kleiner – dem „Energie – Forum – Innovation“ in Bad Oeynhausen schon mal angedeutet, in welche Richtung es architektonisch gehen könnte. Doch die schließlich, nach vier Jahren Bauzeit am 17. Oktober 1997 eröffnete Groß-skulptur war mit dem Vorangegangenen nicht zu vergleichen. Glas, Kalksteinplatte und Titanbleche kennzeichnen die sich schlingenden Volumen, Kuben und Quader türmen und schneiden in die organischen Formen ein, Fensteröffnungen weisen zur Straße und zum Himmel. Die das Gebäude immer wieder verändert aussehen lassenden Titanbleche hat Gehry später oft verwendet, niemals aber mehr in dieser auf dem Volumen spielenden Dimension.
Neutralität entwertet Kunst
Im Inneren schrauben sich die weißgestrichenen Räume vertikal und horizontal, keine Wand, die wagerecht genug erscheint, auf ihr einen Rauschenberg oder Cy Twombly anständig platzieren zu können. „Ich mag [...] diese weißen Schuhschachteln nicht. Neutralität ist nicht neutral, sie entwertet Kunst.“ Das kann ein Standpunkt sein und es kann Künstler provozieren, für die Räume in Bilbao Kunst zu machen. So wie der Freund Richard Serra, der mit seinen Stahlskulpturen im größten Ausstellungsraum, der 140 m langen und 25 m breiten sogenannten Fishgallery, mit „The mater of time“ sieben Arbeiten für diesen Raum geschaffen hat.
Mehr als 19 Mio. Besucher haben das Museum seit seiner Eröffnung im Oktober 1997 besucht, einige mehr davon sind wohl nur außen herumgegangen und haben sich die pure Architektur angeschaut. Täglich also kommen rund 3 000 Menschen hier hin, 60 Prozent davon kommen aus dem Ausland. In einem durchschnittlichen Museum einer deutschen Großstadt sind es etwa 140 täglich, Inländer meistens.
Motor voranschreitender Gentrifizierung
Dass sich das Umfeld in den letzten Jahren mit Neubauten gefüllt hat – so mit dem Shopping Center von Robert Stern oder dem Büroturm Iberdrola von César Pelli, Parkanlagen und vielen neuen Wohnkomplexen – schmälert deutlich die Wucht der ersten Erscheinung an diesem eigentlich unstädtischen Ort. Aber immer noch ist der Gehry-Bau Platzhirsch und Symbol für den gelungenen Bilbao-Effekt. Der aber eben auch – wie immer bei solchen Prozessen, die nicht städtebaulich und politisch unterstützt und gesteuert werden – ein Motor für die voranschreitendende Gentrifizierung des ein paar hundert Meter südöstlich liegenden Viertels Bilbao La Vieja ist: Lebten hier ursprünglich Menschen mit niedrigem Einkommen und hohem Anteil an Einwanderung, hat die neue Stadtpolitik und daran geknüpfte hohe Subventionen – elektrisiert vom Erfolg des Museumneubaus – das Viertel in einen florierenden Immobilienmarkt verwandelt. Und der wirbt für den Standort mit „Bohème“- und „Multikulti“-Attributen.
Im arabischen Abu Dhabi versuchen die Scheichs ebenfalls einen Bilbao-Effekt zu zünden mit Museumsbaugiganten von Jean Nouvel und natürlich Frank Gehry. Die Projekte sind noch Baustellen. Ob sie fertigt werden? Vielleicht ist die Zeit des Bilbao-Effekts auch vorbei, in Deutschland jedenfalls sind alle froh, bei der Elbphilharmonie so gerade noch mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Die Großprojekte an Neckar und Spree werden das nicht schaffen. Be. K.