Das Bauen der Zukunft muss sich Fragen stellen und Antworten liefern

Ob Winston Churchill den Aufruf „Never let a good crisis go to waste“ wirklich ausgesprochen haben soll, ist nicht eindeutig belegt. Etabliert hat sich der Ausspruch nichtsdestotrotz und wird gerne zitiert, um die potentiellen positiven Lerneffekte einer krisenhaften Entwicklung zu betonen.

Doch was können wir aus den vielen Krisen lernen? Was für Schlüsse ziehen wir aus dem Klimawandel, der Energie- und Ressourcenkrise, der Wohnungsnot, dem Niedergang der Innenstädte? Inwiefern verstärken oder transformieren die Corona-Pandemie und die im Gefolge aufziehende (Welt)Wirtschaftskrise diese Entwicklungen?

Viele dieser Themen sind direkt oder indirekt mit unserer gebauten Umwelt verknüpft. Hier umfassende Veränderungen anzustoßen, ist Aufgabe der Planenden und Bauschaffenden. Es muss wieder experimentiert, Ungewohntes zugelassen und eingetretene Pfade verlassen werden. Architektur und Städtebau sind gefragt, ihrem Gestaltungsauftrag nachzukommen und visionäre Formen des Lebens, Wohnens und Bauens zu imaginieren. Einen Beitrag hierzu leistet das im Sommer dieses Jahres gestartete BDA-Denklabor „Don’t Waste the Crisis“ (vgl. www.bda-bund.de/denklabor). In regelmäßigen Pod- und Videocasts wird hier über den Wandel der Städte und des Verkehrs, die Transformation der Bildungs-, Arbeits- und Wohnwelten, die Kultur des Experimentierens oder die Chancen der Reduktion gesprochen und diskutiert.

Auch mit dem „Haus der Erde“ und den politischen Aufforderungen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land (vgl. www.bda-bund.de/2020/11/politisch-handeln-klimapolitische-aufforderungen-des-bda) ruft der BDA zu umfassenden Veränderungen auf: Weniger Ressourcenverbrauch durch Reduktion, Betrachtung des gesamten Lebenszyklus und Bewahrung des Bestehenden. Überprüfung der Ordnungs-, Steuer- und Förderpolitik auf ihre Wirkung auf den CO2-Ausstoß.

Zu Beginn des Jahres 2021, das die Hoffnung auf Eindämmung der Corona-Pandemie nährt, stehen Veränderungen an, die sich um die Frage drehen werden, wie wir unsere Städte und den ländlichen Raum gesünder, lebenswerter und resilienter machen. Beginnend im März 2020 standen Europa und die Welt unter Schock und weitreichend still. Das Leben mit der Pandemie erinnerte daran, dass Fragen der Vermeidung von Epidemien und der verbesserten Hygiene nicht neu waren. Die Entwicklungen im Gefolge der Corona-Pandemie können als ein großer, unfreiwillig eingegangener Feldversuch angesehen und genutzt werden. Wir erlebten Zeiten mit weniger Konsum, weniger Verkehr, weniger Tourismus und ein Arbeiten ohne oder mit wenig persönlichem Kontakt. Gewohnte Sicherheiten waren verloren und kluge Menschen legten ihr Nicht-Wissen offen, ermöglichten eine andere Diskussionskultur.

Die aktuellen Hoffnungen auf ein Ende der Maßnahmen des Infektionsschutzes durch Massenimpfungen und verbesserte Behandlungsmethoden werden nicht zu einem Zustand wie vor der Pandemie führen. Das Bauen der Zukunft muss sich Fragen stellen und Antworten finden:

1. Reduktion

Morgens in das erste Flugzeug oder das Auto steigen und zur Besprechung durch die halbe Republik reisen – diese Praxis wurde 2020 gezwungenermaßen durch Videokonferenzen ersetzt. Allen Nachteilen dieser Kommunikation zum Trotz zeigen sich erhebliche Vorteile wie Zeitersparnis oder weniger Hektik im Alltag. Die durch Corona erzwungene Entschleunigung birgt die Chance, viele unserer bisherigen Routinen zu hinterfragen.

2. Dichte

Im Zuge der Pandemie ist die Dichte der Städte in die Kritik geraten. Doch eine Umkehr zu fordern, würde zu kurz greifen. Hoch verdichtete Regionen und Städte wie Singapur, Hongkong oder Teile Taiwans haben durch Tests und Nachverfolgung die Pandemie gut in den Griff bekommen. Auch nach der Pandemie werden Städte weiter wachsen, vor allem aufgrund ihrer Leis­tungsfähigkeit. Viele öffentliche Güter, auch die Gesundheitsversorgung, können in Städten ­effektiver bereitgestellt werden. Aber auch ein lokales Angebot oder Nachbarschaftshilfen bedingen ein gewisses Maß an Dichte. Welche Dichte wird optimal sein?

3. Öffentlicher Raum

Lockdown und Teil-Lockdown haben die Bedeutung öffentlicher Räume wieder ins Bewusstsein treten lassen. Wo der Bewegungsradius begrenzt wurde, fiel die Abwesenheit qualitativ hochwertiger und frei zugänglicher Räume schmerzlich auf. Das Ausweichen in den öffentlichen Raum, nicht das Betreten von Konsumwelten, ist ein notwendiger Ausgleich zum begrenzten Wohnraum. Wir müssen den öffentlichen Raum wieder zum Wohnzimmer der Stadt entwickeln.

4. Verkehr

Fahrrad oder E-Roller fahren als Alternative zum Auto; Platz für Menschen – was zuletzt die zweite Erdölkrise von 1979 vermochte, wurde in den Wochen des Lockdowns an verschiedenen Orten in Europa Realität. Nicht der Verkehr bestimmte das Stadtbild; stattdessen hatten die Menschen mehr Platz. Wir brauchen einen menschenverträglichen Verkehr.

5. Regionalität

Abgrenzungen, zum Beispiel durch Grenzziehungen oder unterbrochene Handelsverbindungen zeigen die Verwundbarkeit der globalisierten Ökonomien. Regionales Wirtschaften trägt zur Versorgungssicherheit der Bevölkerung bei. Der kurze Weg zum Einkauf wurde wichtiger als ein überbordendes Angebot zum niedrigsten Preis. Hier entwickeln sich die spannendsten Konsequenzen für Regional- und Stadtplanung.

6. Tourismus

Die Bewohner der Innenstädte von Venedig, Barcelona oder Amsterdam stellten 2020 fest, dass sie kaum noch Nachbarn haben. Die Innenstädte sind angesichts geschlossener Hotels und leerer Airbnb-Apartments leer. Die Balance zwischen einer Stadt der Bewohner und einer Stadt als touristische Kulisse ist in manchen Städten und Quartieren verloren gegangen. Wir brauchen den stadt- und regionalverträglichen Tourismus.

7. Wohnen für alle Lebensformen

Der seit den 1980er-Jahren kontinuierlich liberalisierte Wohnungsmarkt hat nicht zu mehr Vielfalt der Wohnformen geführt. Im Gegenteil – der Markt an Neubauwohnungen weist im Grundsatz nur zwei Typen auf: Wohnungen für die Kleinfamilie und Wohnungen für Alleinlebende. Lebensformen jenseits dieser Typen werden im Wohnungsmarkt nur schlecht bedient. Dieser Umstand zeigt in Verbindung damit, dass Homeoffice und Homeschooling andere Raumkonstellationen benötigen, er zeigt, dass flexible und schnell umcodierbare Wohnungen benötigt werden.

8. Arbeit, Produktion und Handel

Wirtschaftliches Handeln bedarf elementarer Garantien. Rechtssicherheit, fairer Marktzutritt, aber auch Gesundheitsschutz sind hier Beispiele. Die Selbstverständlichkeit des Letzteren wurde 2020 infrage gestellt und hat die Möglichkeit wirtschaftlichen Handelns stark eingeschränkt oder in kürzester Zeit verändert. Digitalisierungsprojekte wurden umgesetzt, für die ursprünglich viel mehr Zeit eingeplant war. Auch haben die Menschen Vor- und Nachteile der rasch geänderten Arbeitsstrukturen direkt erfahren. Nicht alles wird sich nach einem Abflachen der Pandemie auf den Ursprungszustand zurückdrehen lassen. Fragen des Gesundheitsschutzes werden anders gestellt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch stärker ins Bewusstsein gerückt. Das hat Folgen für Büro, Handel und Produktion

9. Verwaltung

Der Rückstand der Digitalisierung in öffentlichen Verwaltungen ist lange bekannt und hat sich 2020 schmerzhaft bemerkbar gemacht. Liegengebliebene Anträge, ruhende Verfahren, ausbleibende Entscheidungen und Investitionszurückhaltung der Öffentlichen Hand drohen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Erholung unnötig zu erschweren. Hier muss dringend Abhilfe geschaffen werden – durch Investitionen und eine Modernisierung von Gesetzen, Verordnungen und Verfahren. Das alles darf aber nicht auf Kosten von Transparenz und Qualität geschehen.

10. Baupolitische Rolle des Staates

Qualitätvolle Planung und eine auf Qualität und Langfristigkeit ausgerichtete Bau- und Immobilienwirtschaft sind angesichts der Überwindung der Folgen der Pandemie, aber auch angesichts des Klimawandels, der Digitalisierung, der Energiewende und der Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Solidarität notwendiger denn je. Dies wird nicht ohne eine Stärkung der baupolitischen Rolle des Staates erreicht. Auch ­Architektinnen und Architekten, Ingenieure und Ingenieurinnen sowie alle Bauschaffenden müssen jetzt politisch denken. Die freigesetzten öffentlichen Mittel dürfen nicht in ein „Weiter so“ münden, sondern müssen in gesündere, lebenswertere und resilientere Städte / Räume investiert werden.

Gewohnte Antworten sind infrage gestellt, neue Antworten müssen gefunden werden. Lassen Sie uns das Jahr 2021 und die zurückgehende Pandemie dazu nutzen.

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