Der Titanic-Moment – (Regelwut im Fassadenbau)

DBZ Heftpartner Dipl.-Ing. Ralf Rache, Rache Engineering, Aachen

1966 begann meine Reise in der Fassadenwelt. Es folgte eine Zeit des Entdeckens, ungepflasterte Wege wurden mit neuen konstruktiven Ideen betreten. Erst zählte vor allem die Konstruktion und Statik, dann zunehmend die Bauphysik und im Endeffekt auch die Wirtschaftlichkeit. Jeder Fehler war ein Privileg, denn er ritzte Erkenntnis und Verständnis in die Strukturen meines Verstandes, oft schmerzhaft, aber vor allem dauerhaft wieder auffindbar.

In meiner Karriere durfte ich auch Regelwerke mitgestalten; kämpfte mit sachkundigen Mitstreitern um baupraktische Lösungen, bis auch dort die wirtschaftlichen Interessen zunehmend die Arbeit bestimmten. Heute versuche ich als Fachingenieur für Fassadentechnik mit über einem halben Jahrhundert Berufserfahrung dem fortschreitenden Normierungswahn zu folgen und mit meinem Erfahrungswissen die Lehre durch Orientierung zu bereichern.

Als Lehrbeauftragter für das Fach Fassadentechnologie ist mir in diesem Kontext Folgendes aufgefallen: Mit unserer bespiellosen Ignoranz gegenüber dem wuchernden Regelungswahnsinn durch die Interessenvertreter und deren Flut an Normen entsteht als Kollateralschaden eine wachsende Eintrittsbarriere für unseren gesellschaftlich wichtigen Nachwuchs.

Die Menge an Texten ist schlicht unzumutbar. Außerdem verlangt es a) den Zugang zu Normen, der für viele nicht selbstverständlich ist und b) das Privileg, in der Zeit des Lesens nicht Geld verdienen zu müssen. Hinzu kommt, dass die Inhalte weder verständlich formuliert, noch ein Konzentrat des nachvollziehbaren Wissens darstellen.

Bitte stellen Sie sich diese Mammut-Aufgabe für einen jungen Menschen mit gerade abgeschlossenem Studium vor, der in den Beruf neu eintritt und es evtl. wagt, über eine Familie nachzudenken. Und jetzt bedenken Sie, dass ich nur von den Normen im Dunstkreis der Fassade schreibe und die Flut der noch zu anderen Gebieten existierenden Normen außen vor lasse.

Die Lehre kann dieses Problem nicht lösen. Fast alle Marktteilnehmer gönnen sich die Arbeitsfähigkeit durch Ignorieren des Großteils der Normen, und niemand schreit auf, denn man könnte ja als überfordert oder unwissend gelten.

Unwissenheit schützt jedoch vor Strafe nicht. Das kann sich äußern, indem Sie ein Fenster mit Schlagregendichtigkeit nach Norm ausschreiben und die Klassifizierung 1A erhalten, dies bedeutet schlichtweg, dass Ihr Fenster undicht ist.

Kreative Menschen können in Resignation gegenüber der facettenreichen und oft nicht nachvollziehbaren Normungslandschaft den Überblick verlieren und sie betreten wirklich gefährliche Wege.

Wie viele Architekten beherrschen noch das Netz der Regulierungen, in denen sie sich kreativ bewegen? Wie viele Architekten können über ql²/8 hinaus ein Bauteil statisch vordimensionieren, und wie viele Architekten beherrschen die grundlegenden Anforderungen an die Bauphysik oder Reinigung und Wartung.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir, als das Bauteam ergänzende Fachplaner, helfen gerne. Diese Situation ist ein erheblicher Teil unserer Daseinsberechtigung als Fachingenieure für Fassadentechnik.

Der Wohlstand unserer Gesellschaft basiert auf klugen Köpfen, und deren Nährboden ist Wissen. Unser jetziger Ansatz ist damit vergleichbar, jemandem, der eine Sprache lernen soll, ein Wörterbuch zu überreichen. Um ehrlich zu sein – es ist ein Wörterbuch mit vielen unnötigen Phantasieworten in einem Verlag mit Monopol-Charakter. Im Leben gibt es schließlich nichts geschenkt. Dabei wäre ein Umdenken nicht utopisch. Ein Anfang wäre der freie Zugang zu Normen. Weiterführend könnten Softwarelösungen die Zugänglichkeit der Informa­tionen steigern, Widersprüche erkennbar machen und Kommentierungen bis Bewertungen der Inhalte zulassen.

Es geht dabei auch um das Problem von Strukturen, die Unternehmen überproportional repräsentieren. Es mag sehr schwierig sein, den Entstehungsprozess von Regulierungen mit einem breiteren Einfluss zu gestalten, aber frei zugängliche Normen bieten die Möglichkeit für Anwendungen, die vielen Anwendern und Interessierten Kritik erlauben.

Der scheinbar funktionierende Status-Quo kann eine Fehleinschätzung sein, wie damals der Eisberg für die Titanic. Wenn jeder Experte nur sein Fachgebiet als Teil über der Wasser-oberfläche betrachtet, wir aber in zwei Generationen kaum noch fachkundige Köpfe haben, dann sitzen wir unfreiwillig alle in einem sinkenden Boot. Soll aber kein Vorwurf sein, den Teil unter dem Wasser konnte man ja nicht sehen.

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