Die Digitale Transformation des Bauwesens Status Quo und Ausblick auf die Branche
Schöne digita01e Bauwelt?!
Am 17. November 2020 schaffte es eine Architektur-Presseinformation in fast alle Tageszeitungen und Online-Medien. Der Inhalt: In Deutschland, genauer im schwäbischen Weißenhorn, wird das erste Mehrfamilienhaus im 3D-Druck gebaut. Dass man jetzt Mehrgeschosser im additiven Betondruck erstellen kann, ist ein Wegweiser im Bauwesen und Meilenstein der „onsite“, auf der Baustelle, angewandten Digitalisierung. Trotz Corona ist diese Technologie aber nicht mehr als ein Spurenelement im aktuell prosperierenden Bauwirtschaftsgefüge. Gedruckte Neubauten spielen in absehbarer Zeit eine untergeordnete Rolle im riesigen Bauwirtschaftszweig, der im Durchschnitt 10 % des deutschen BIP ausmacht. Zweitrangig bleibt er auch deshalb, weil der Bedarf an Wohnraum, Infrastrukturbauten, Gewerbeimmobilien oder öffentlichen Gebäudestrukturen mit 3D-Druck nicht zu decken ist. Bauen bedeutet also weiter mauern, Stein auf Stein, vorgefertigte Wandelemente verkranen, Bewehrungskörbe für Stahlbetonkonstruktionen knüpfen und Betonmischer vor Baustellen abpumpen. Noch.
BIM ist ein Gradmesser digitaler Transformation
Es geht trotzdem voran mit der Digitalisierung am Bau. Einen wesentlichen Anteil hat daran Building Information Modeling (BIM). Das lässt sich mit dem Abstand von ein paar Jahren seit der Einführung der digitalen Planungsmethode BIM bereits konstatieren. Die vielfach publizierten Vorteile der Methode lassen wir außer Acht, darum soll es hier nicht gehen. Weitaus interessanter sind die aktuellen Auswirkungen, die die Umstellung auf digitale Planungsmethoden wie BIM für ArchitektInnen, IngenieurInnen, Behörden, AuftraggeberInnen oder Bauindustrie bedeuten. An ihnen wird deutlich, wie die Branche digitalisiert ist – in Deutschland, in Europa und weltweit.
Konservative Unternehmer, die mit Weitblick agieren
Der Softwarehersteller Autodesk hat im Sommer 2020 bei dem Marktforschungsinstitut IDC eine Studie erarbeiten lassen, die international den aktuellen Status der „Digitalen Transformation“ in Bauunternehmen beleuchtet. Hierfür wurden 835 große Bauunternehmen in Europa, Asien sowie Nord- und Südamerika befragt. Darunter waren 51 aus Deutschland. Die deutschen Unternehmer zeigten sich eher konservativ, was die umfassende Implementierung digitaler Tools und Prozesse in die eigenen Projekte betrifft. Das unternehmerische Risiko ist groß; gleichzeitig ist der Markt in Deutschland und im deutschsprachigen Raum hart umkämpft. Vor allem bei öffentlichen Projekten entscheidet meist der Angebotspreis über die Auftragsvergabe. Eine ergänzende Eignung, die z. B. durch die Realisierung BIM-basierter Projekte nachzuweisen ist, bleibt bisher die Ausnahme. Wird sie gefordert, ist sie meist schwammig formuliert. Und sie hat keinen, zuweilen einen geringen Einfluss auf den Projektzuschlag. Dennoch, so arbeitet IDC in seiner Studie heraus, verfügen rund 65 % der Befragten in Deutschland bereits über Personal mit BIM-Expertise im eigenen Unternehmen. Mehr als ein Drittel investiert bereits in die Einführung BIM-basierter Workflows und über 30 % planen verstärkt Investitionen in den kommenden Jahren.
Globale Hemmnisse erfordern individuelle Lösungen
Dem historisch eng miteinander verflochtenen Architekturraum Deutschland, Österreich und Schweiz, kurz: DACH-Raum, wurde über Jahre hinweg Trägheit bei der Implementierung digitaler Planungs- und Bauprozesse unterstellt. Einige Stimmen behaupten noch heute, die DACH-KollegInnen haben zu lange auf Regelwerke, Strukturen und verbindliche Vorgaben gewartet, um bloß nichts falsch zu machen. Und sie hätten damit einiges verschlafen. Wie weit das stimmt oder wo Ursachen dafür liegen könnten, soll an dieser Stelle nicht erläutert werden. Doch es ermutigt, dass die IDC-Studie auch global Hemmnisse und Blockaden bei der digitalen Transformation aufzeigt. Die größte Hürde ist die Erstellung einer strategischen und taktischen Roadmap, mit der vor wichtigen Technologie-Investitionen die einzelnen Schritte zu definieren sind (46 %). Sie wird gefolgt von der Unsicherheit bei der Skalierung von Digitalisierungsmaßnahmen auf konkrete Projekte (42 %) und der Erarbeitung notwendiger Erfolgsfaktoren (sog. KPI) für die Maßnahmenbewertung (37 %). An vierter Stelle steht die Sorge, wie sich eine digitale Expertise im eigenen Unternehmen nutzen lässt (36 %) und in der Firma digitale Workflows implementiert werden können (29 %). Weit mehr als die Hälfte der Befragten weltweit (58 %) sehen sich hingegen noch in den „Kinderschuhen“ der eigenen digitalen Transformation, 28 % im Mittelfeld und 13 % bereits weit vorn im Wettlauf um die Projekte von Morgen. Denn wer sich also heute gut und vor allem schnell digital aufstellt, hat morgen einen Wettbewerbsvorsprung.
Disruptive Technologien erzwingen digitale Prozesse
Denken wir an das Bauen in der Zukunft: Vor unserem inneren Auge erscheinen Bilder von Mauerwerksrobotern, die akkurate Klinkerfassaden aufmauern. Wir visualisieren einen 3D-Betondruckkopf, der die Außenwände eines Wohnhauses entstehen lässt, oder eine dynamische Bauleiterin, die mit AR-Brille und Drohnenflugbildern die Bauausführung überwacht. Solche Gedankenspiele erscheinen spektakulär, weil sie Optionen aufzeigen, ungeahnten Nutzen suggerieren, disruptive Entwicklungen repräsentieren. Um solche Bilder geht es jedoch nur am Rande, wenn wir von der digitalen Transformation sprechen. Es sind vielmehr begleitende Prozesse, die in nächster Zukunft digitaler werden. Analoge Brüche in einem ganzheitlichen Workflow von Entwurf und Planung, Genehmigung, Bauausführung, Betrieb, Umbau und Rückbau werden verschwinden. Ein durchgängiger, ganzheitlich digitaler Prozess rückt damit in den Fokus – und ebenso, wie ihn jeder Einzelne adaptiert, interpretiert und implementiert.
Darin unterscheiden wir uns in Deutschland weder von den Kollegen in Westeuropa, Nordamerika, Asien oder Australien. Die Studie von IDC hat überdies gezeigt, wie es funktionieren könnte: Zuerst die Evaluierung der anstehenden digitalen Transformation, gefolgt von der Maßnahmenentwicklung, der anschließenden Implementierung digitaler Workflows im eigenen Unternehmen sowie zu guter Letzt das hinzugewonnene Know-how zielgerichtet in Folgeprojekten einzusetzen. Das klingt logisch. Doch klappt es ehrlicherweise weder hierzulande noch woanders bisher herausragend gut. Denn es gibt keine allgemeingültigen Regieanweisungen zu einer erfolgreichen und schnellen Digitalisierung einer ganzen Branche.
Ganzheitlich Bauen bedeutet nachhaltig wirtschaften
Funktionierende digitale Workflows sind die Grundlage für digitales Bauen in der Zukunft. Laufen die Prozesse reibungslos, klappt es mit der Digitalisierung. Hinzu kommen Begriffe wie Resilienz, Nachhaltigkeit, Dauerhaftigkeit und Lebenszyklus. Sie stehen für Themenbereiche, die das Bauen bisher nur unzureichend tangierte – obwohl es mit Abstand die meisten Ressourcen in der Herstellung verbraucht, in der Standzeit bindet und im erneuten Recycling erfordert. Das Bauen wird ganzheitlich und der Stoffkreislauf rückt in den Mittelpunkt von Forschung und realer Anwendung. Das ist ein Trend, den wir in einer Reihe von Interviews zum Stand der Digitalisierung der Baubranche bestätigt sehen.
Mut und Lust am Gestalten der Zukunft
Dass es nicht nur darum geht, digitaler zu bauen, sondern auch darum, die digitale Transformation dafür zu nutzen, besser zu bauen – ressourcen-schonender, klimafreundlicher, qualitätssicherer etc. – ist das Anliegen von Helga Kühnhenrich, Leiterin des Referates II 3 – Forschung im Bauwesen im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Planung und Bauen verschmelzen und erfordern eine integrative Zusammenarbeitskultur. Daraus folgert, dass diese neuen Ansätze nicht ohne Weiteres auf unser heutiges Bausystem übertragbar sind. In vielen Fällen reicht es nicht, einfach nur an einer kleinen Stellschraube zu drehen, damit sich Neues entwickelt. Wir müssen uns vielmehr von Traditionen und Regularien verabschieden und einen neuen Rahmen entwickeln. Das fällt nicht leicht und ist auch nicht überall von heute auf morgen machbar – schon gar nicht in der sehr trägen und hochkomplexen Baubranche. Brauchen wir mehr Experimente? JA! Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe aller Beteiligten aus Baupraxis, Forschung und Politik, die Akzeptanz von Experimentierräumen einzufordern, mit breiter Unterstützung und Voranschreiten der öffentlichen Hand und Bauindustrie. Je größer die Herausforderungen sind, umso mehr Raum ist zum Nachdenken und Ausprobieren vorhanden und den sollte man nutzen.
Bessere Bauten durch höhere Planungsqualität
Die Digitalisierung erfordert in jedem Architekturbüro Flexibilität, neue Tools und Workflows. Das macht Jörg Ziolkowski, einer der Geschäftsführer bei Astoc Architects and Planners GmbH, deutlich. Bedingt durch die aktuelle Pandemie, muss sich der komplette Projekt-Workflow ebenso zuhause abbilden lassen. Astoc haben in den vergangenen Monaten daher eigene Konzepte entwickelt. Sie setzen u. a. auf Lean Design Methoden und die ständige Optimierung der Arbeitsabläufe. Großes Potential sieht Jörg Ziolkowski in einer höheren Planungsqualität dank digitaler Planungsmethoden, die ressourcenschonendes ebenso wie nachhaltiges Bauen unterstützen. Rückbaubarkeit, Materialtrennung und Recycling rücken ebenfalls stärker in den Fokus.
Die Potentiale in der Wertschöpfung nutzen
Die Digitalisierung bzw. die digitale Planung und Fertigung ist in der Holzbauindustrie weit fortgeschritten. Ein Thema, das noch immer für Diskussion sorgt, ist die Frage nach der Durchgängigkeit der Datenqualität. Die Daten, wie sie aus dem Architekturmodell, der Haustechnik oder dem Engineering kommen, sind für die Fertigung nicht 1 : 1 zu verwenden. Das liegt nicht an unterschiedlichen Arbeitskulturen oder dem fehlenden Verständnis füreinander, sondern vielmehr an unterschiedlichen Konstruktionsweisen und den daraus resultierenden Schnittstellen. Jede Disziplin folgt eigenen Standards. Lamentieren hilft daher nicht und so setzt Thomas Wehrle, CTO der ERNE AG Holzbau, auf eigene Lösungswege. Basierend auf einem schlanken Modell, wird über einen eigens entwickelten Algorithmus die disziplinbezogene Ausspielung von Submodellen, mit hinterlegten Anforderungen (z. B. Statik, Simulation), geprüft. Ein weiteres Projekt, an dem Thomas Wehrle intensiv arbeitet, ist eine Software für parametrische Fassaden, die die Effizienz bei der Herstellung von Fassadenelementen erhöhen soll, ohne die Gestaltungsfreiheit zu beeinträchtigen. Das auf Algorithmen basierende Tool ermöglicht auf der einen Seite ein intuitives Design, gibt jedoch kontinuierlich Rückmeldung zu Kosten sowie Fertigungsparametern wie Elementierung, Gewicht etc. Diese Faktoren unterstützen das Design und machen den Entwurf baubar – nicht zuletzt, weil die Daten aus dem Tool direkt für die Fertigung nutzbar sind. Übertragen auf andere Maßstäbe ergibt sich daraus ein enormes Potential für den kompletten Planungs- und Bauprozess.
Nur weil man vieles kann, ist nicht alles sinnvoll
Bei aller Euphorie für das Thema Digitalisierung müssen Strukturen und Prozesse hinterfragt werden. ArchitektInnen sind die Berufsgruppe, die am besten weiß, was ein Modell ist: ein virtuelles Abbild und eine lose Bündelung von Ideen, an denen oft mehrere arbeiten. Das Modell wächst mit der Projektreife, die sich in den verschiedenen Maßstäben abbildet. Aber nun wird es, einem logischen Ablauf folgend, mit Wünschen überfrachtet, die nicht mehr zusammenpassen und die das System zum Kollidieren bringen – nur weil man es kann, nicht weil es der Prozess erfordert. Karsten Kus und Ralf Wetzel von RKW Architektur+ denken stets darüber nach, wie sie die Modelle für Dritte nutzbar machen können, weil sie Vorteile für neue Geschäftsmodelle bieten. Die ArchitektInnen erkennen den Eigennutz, denn nur wenn alle Beteiligten das gleiche Verständnis für den Mehrwert des Modells haben, wird die Entwicklung voranschreiten, z. B. zu einem modellbasierten Bauantrag. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine Chance, eigene Ideen zu entwickeln, um die Entwicklung zu steuern. Es impliziert zudem eine Neuinterpretation des Generalistenbegriffs. Anstelle sich von BIM-ManagerInnen die Technik erklären zu lassen, sollten die ArchitektInnen selbst die Initiative ergreifen und in die digitale Technologie einsteigen.
„Wir bellen am falschen Baum!“
Sehr eindeutig fällt das Urteil von Dr. Ilka May, LocLab Consulting GmbH, aus. Denn was ihrer Ansicht nach im Bereich der Digitalisierung fehlt, ist mehr Führung. Die Digitalisierung ist ein hochstandardisierter Bereich. Bisher geltende Standards sind aber überholt, sie müssen jetzt auf digitale Standards angepasst werden. Dieser Aufgabe muss man sich annehmen, was in den Augen von Ilka May zu langsam geschieht und nicht mit dem richtigen Verständnis. Es fehlt eine Strategie, die nicht nur Partikularinteressen bedient, sondern das Wohl des gesamten Bausektors ins Auge fasst. Solange dieser Sektor keinen Plan hat, kann das schädlich für ganze Industriezweige, viele Betriebe und ArbeitnehmerInnen sein. Das impliziert eine klare Botschaft an die Politik, die die Leitplanken des Handelns und die Rahmenbedingungen vorgibt. Kompetenz und gesunder Menschenverstand sind gefordert – aber es ist mehr als das. In der Annahme, dass die Technologie es richtet, entstehen falsche Kopplungen. Ingenieurwissen, Architekturwissen, stadtplanerisches Wissen, die gesamte Kompetenz und Erfahrung, die dahintersteht, müssen nach Ansicht von Ilka May weiterhin überwiegen.
Dezentral – vernetzt – global. Ist das die neue Normalität?
Moritz Fleischmann, Professor für Architekturinformatik an der PBSA der Hochschule Düsseldorf, stellt die Frage: Was ist, wenn der aktuelle Status mit digitalem Studium, ohne Präsenzunterricht und dezentraler Zusammenarbeit der Studierenden, die neue Normalität ist? Auch ohne eine Pandemie, die die Digitalisierung ohne jeden Zweifel beschleunigt, wird die Lehre in der Zukunft anders aussehen. Die Studierenden können (und müssen) jetzt von überall miteinander arbeiten. Interaktiv agierende Teamstrukturen entstehen. Neue Studiengänge an internationalen Hochschulen und Universitäten könnten in der Zukunft genutzt, andere Studienschwerpunkte gesetzt werden, prognostiziert Moritz Fleischmann. Die notwendige technische Infrastruktur wurde in den vergangenen Monaten weltweit geschaffen. Für die Studierenden, die noch am Anfang ihres Berufslebens stehen, bietet die Pandemie große Chancen, sich in neuen Arbeitssituationen schnell zurechtzufinden.
Die europäischen Unternehmen müssen sich schnell digitalisieren
Für die Softwarehersteller in der Planungs- und Baubranche rücken optimal arbeitende Schnittstellen beim Einsatz der Planungslösungen und Werkzeuge in den Fokus. Immer stärker wird dabei die komplette Wertschöpfungskette betrachtet, um Reibungsverluste mithilfe eines durchgängig digitalen Planungsprozesses zu minimieren. Axel Kaufmann, CFOO der Nemetschek Group, sieht die größte Aufgabe aber im notwendigen Umdenken der gesamten Branche. So stellt er fest, dass deutsche Unternehmer visionärer als bisher in die Zukunft schauen und eine eigene Digitalstrategie entwickeln sollten. Offene Planungsstandards und Open BIM können die Zusammenarbeit der verschiedenen Partner dabei schon jetzt erleichtern. Doch es kommt eine weitere Herausforderung hinzu, auf die Marek Suchochi, Industry Engagement Lead bei Autodesk, hinweist: In knapp 30 Jahren werden rund 10 Mrd. Menschen auf der Erde leben. Für sie ausreichenden Wohnraum zu schaffen, wird mit konventionellen Planungs- und Baumethoden nicht mehr möglich sein. Die Digitalisierung, digitale Workflows und Zukunftstechnologien werden daher immer wichtiger. Die europäischen Unternehmen stehen dabei unter einem starken internatio-nalen Wettbewerbsdruck, schnell digital zu werden.
AutorInnen: Eva Maria Herrmann, München und Tim Westphal, Berlin, sind Architektur-JournalistInnen und Partner der ARGE Kommunikation | Eva Maria Herrmann – Bettina Sigmund – Tim Westphal, München.
Die kompletten Interviews mit Helga Kühnhenrich, Jörg Ziolkowski, Thomas Wehrle, Karsten Kus und Ralf Wetzel, Dr. Ilka May, Moritz Fleischmann sowie Axel Kaufmann und Marek Suchochi erreichen Sie mit einem Klick auf die Namen hier im Beitrag.
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