„Grenzenloses Innovationspotential“
Es war nicht auf der Cebit, als ich ständig nach „iIP“ gefragt wurde. Das Akronym war das Modewort der vergangenen Expo-Real. Was ich intuitiv zwischen einem neuen Handy und modernen BUS-System einordnete, offenbarte sich als „Intelligente Integrale Planung“.
Selbstverständlich betreiben wir intelligente integrale Planung. Wer nicht? Nun, über den Grad der Intelligenz und den Ansatz des Integrals kann man sich sicher noch differenzieren. Dann ließ ich mir iIP an einigen vorbildlichen Referenzprojekten vorstellen. Erstaunt war ich dann doch. Vor allem, dass diese intelligenten integralen Ansätze zwar die Gebäudetechnik umfassend einschlossen, aber die raumbildenden Ausbaukonzepte gar nicht „integrierte“. Die Begründung war denkbar einfach wie bestechend ernüchternd. Der „Ausbau“ sollte natürlich flexibel sein und je nach Kundenwunsch und Marktakzeptanz beliebig angepasst werden können. Das erschien mir nachvollziehbar aber nicht intelligent.
Der heutige Ausbau ist geprägt von Zweierlei: Einfach und „billig“ bei dem was nachher von mehr oder weniger hochwertigen Beschichtungen und Bekleidungen kaschiert wird. Dies überlagert sich mit den Wünschen unbeschränkter Individualisierung und Veränderung. Nur eine Trennung von der Struktur und technischem, raumbildenden und gestaltenden Ausbau gibt es in zeitgemäßen Bauwerken nicht mehr. Die Zeit, dass Ausbaukonstruktionen nur ein zusätzlicher Layer, Applikation und eine ästhetisch-funktionale Bekleidungsebene des Rohbaus war, ist lange vorbei.
Lichtverhältnisse, sensorische Behaglichkeit, Raumhygiene, Wärmespeicherfähigkeit, passives und aktives Kühlen, raumakustische Gesichtspunkte, Absorptions- und Reflexionsflächen, Energiebedarf, adaptives Raumklima, Oberflächen mit leitfähigen und brandschutztechnischen Eigenschaften, gepaart mit Nutzungs- und Veränderungsflexibilität und vor allem Nachhaltigkeitskriterien sind wesentliche Grundlagen heutiger integraler Planungsansätze. Diese erzeugen wiederum bedeutsame Abhängigkeiten zur Tragwerksstruktur und dem energetischen und gebäudetechnischen Konzept. Selbst Tragwerke sind heute funktionsoptimierte, multifunktionale Systeme, die gleichzeitig speichern, kühlen, ver- und entsorgen und nicht zuletzt einen Rohstoffspeicher darstellen.
Eine noch größere Bedeutung kommt den Ausbausystemen zu. Auch wenn wir diese aus ingenieurtechnischer Sicht vorrangig funktional nach den genannten Eigenschaften auswählen und auf die gewünschten Anforderungen modifizieren, sind wir uns der bedeutenden raumprägenden, gestalterischen, haptischen und emotionalen Auswirkungen bewusst. Wir brauchen eine Architektur, die ganzheitliche und vor allem globale Kriterien verantwortungsvoll berücksichtigt und bewusst integriert. Global steht dabei keineswegs für „Vielzahl“ oder „Komplexität“, es entspricht seiner Bedeutung von „weltweit“.
Starre Raumprogramme in massiven Strukturen sind ressourcenintensive Immobilien. Diese Form des Bauens ist anspruchslos, spärlich. Heutige Ausbausysteme können aus vielerlei Gründen nicht mehr massiv sein und folgen zunehmend den Axiomen des Systemleichtbaus. Hierunter versteht man das Prinzip, synergetische Effekte durch die Schichtung von Materialien zu einem System zu erzielen.
Der Einsatz funktionsoptimierter Ausbausysteme geht in der Regel mit Flächengewinnen und einer höheren Nutzungsflexibilität einher. Diese Systeme sind heute hochleistungsfähige und ressourcenarme Verbundwerkstoffe, frei formbar und bei Bedarf leitfähig, optional mit integrierten Flächenheiz- und Kühlsystemen, hochschalldämmend mit einer nahezu grenzenlosen Vielfalt an Oberflächenbeschichtungen. Dies sind Beispiele einer Entwicklung, deren technologisches und gestalterisches Innovationspotential noch grenzenlos scheint. Das ist kein iIP, das ist Architektur und Baukultur.
Der Ingenieur
Prof. Dr.-Ing. Karsten Tichelmann, Studium der Ingenieurwissenschaften an der TU Darmstadt. Promotion zum Dr.-Ing. auf dem Gebiet der hybriden Tragsysteme im Leichtbau an der TU München. Professor für „Tragwerksentwicklung und Bauphysik“ am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt. Partner der Ingenieurgesellschaft TSB Ingenieurgesellschaft, Darmstadt und Bochum. Direktor der VHT – Versuchsanstalt für Holz- und Trockenbau, Darmstadt. Leitung des ITL – Institut für Trocken- und Leichtbau. Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Fachgremien, Vorstandsmitglied des Fördervereins der Bundesstiftung Baukultur.