Handwerkliche Authentizität statt abstrakter PurismusMehrfamilienhaus in Zürich/CH
Bei diesem Mehrfamilienhaus in Zürich zählt die qualitativ hochwertige Ausführung. Hier erhielten zum Beispiel die Betonbauer die Gestaltungshoheit über sämtliche Betonoberflächen – ein enormer Ansporn, sehr sorgfältig und fehlerfrei zu arbeiten.
In seinem Umfeld aus unterschiedlichsten Gewerbe-, Büro- und Wohnungsbauten gibt sich das betongraue Mehrfamilienhaus unweit des Hauptbahnhofs zunächst ziemlich unauffällig. Formal und farblich zurückhaltend liegen fünf Geschosse mit regelmäßig angeordneten Fenstern über einer Ladenfläche, Erker verweisen dezent auf die Lage an einer offenen Blockrandecke. Als überaus feinfühlige und bemerkenswert konsequent durchgeplante Architekturkomposition erweist sich das Gebäude erst bei näherer Betrachtung. Zahlreiche Terrassen, ein turmartiger Betonkaminaufbau und eine Art verglaster Dachpavillon sorgen für eine bewegte Flachdachlandschaft, die wunderbar mit der heterogenen Nachbarbebauung harmoniert, ohne dabei an Eigenständigkeit einzubüßen. Ins Auge fallen aber auch die minimierten Profilansichtsbreiten der bronzefarben eloxierten Holz-Alu-Fenster, die nicht nur maßgeblich zum eleganten Gesamteindruck beitragen, sondern den Bewohnern durch drei Einbauvarianten auch vielfältige Nutzungsspielräume bieten. Während sich etwa die in eine Fensterlaibung eingepassten Öffnungsflügel entweder drehen oder schieben lassen, können die fassadenbündigen Über-Eck-Fenster vollständig zur Seite gefaltet werden, sodass dort offene „Balkonzimmer“ entstehen.
Irritationen in der Fassade
Angesichts dieser Finessen besteht kein Zweifel, dass die sieben hier untergebrachten Eigentumswohnungen auch gehobenen Wohnansprüche genügen – je zwei Einheiten befinden sich im 1. und 2. Obergeschoss, der Rest liegt geschossweise darüber. Irritierend in diesem Zusammenhang erscheint lediglich die Fassade. Und zwar nicht weil, sondern obwohl es sich um eine Sichtbetonfassade handelt.
Seit Sichtbeton zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Architektur Einzug hielt, haben sich Planer stets intensiv mit dessen Oberflächenstruktur auseinandergesetzt. Unverkleideter Beton wird daher mit oder ohne färbende Zuschlagsstoffe entweder in gestaltprägende Schalungen gegossen oder mit künstlerischen Handwerkstechniken nachbearbeitet – besondere Aufmerksamkeit erhält dabei immer auch die akribische Planung der Fugenbilder und Spannlöcher. Nichts dergleichen hatten die Züricher Architekten Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler in Zusammenarbeit mit XPACE architecture + urban design, Richmond /Australien im Sinn. Anstelle eines nicht zuletzt gerade in der Schweiz weit verbreiteten Sichtbetonpurismus ging es ihnen bei diesem Mehrfamilienhaus vielmehr um die Verarbeitung ganz gewöhnlichen Betons.
Herausforderung für die Betonbauer
Aufgabe der Betonbauer war es, eine zweischalige, kerngedämmte Betonkonstruktion zu errichten, die vor allem sämtlichen aktuellen Regeln der Technik entsprechen sollte – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Vorgaben an die Oberflächengestaltung oder die Zusammensetzung des Betons gab es weder für die Fassade noch für die größtenteils unverkleideten Innenwände oder Deckenuntersichten. Ästhetische „Mängel“, etwa in Form von Verfärbungen, unschönen Arbeitsfugen oder bauchigen Schaltafeln nahmen die Architekten bewusst in Kauf. Nicht akzeptiert hingegen wurden bautechnische Fehler, z.B. zu große Kiesnester, die Bewehrungskorrosion oder Abplatzungen zur Folge haben können.
Für das beteiligte Bauunternehmen bedeutete dies eine besondere Herausforderung. Schließlich sollten an repräsentativen Außenfassaden und Innenräumen sichtbare Betonoberflächen entstehen, die sich weder nach gängigen Baunormen noch hinsichtlich der späteren Abrechung als „Sichtbeton“ definieren lassen. Und auch den Arbeitern erschien ihr Werk in neuem Licht. Verbirgt sich ihre alltägliche Arbeit üblicherweise hinter Verkleidungen, Vollwärmeschutzpaketen oder Putzschichten, war sie nun unverblümt an prominenter Stelle sichtbar. Letztlich erhielten die Betonbauer die Gestaltungshoheit über sämtliche Betonoberflächen – ein enormer Ansporn, sehr sorgfältig und fehlerfrei zu arbeiten.
Beton als selbstverständlicher Hintergrund
Dass die Wohnungen heute keineswegs kühl oder abweisend wirken, liegt an der durchwegs hohen Ausführungsqualität und der strukturellen Lebendigkeit des Betons, aber auch am angenehmen Kontrast zu den fein abgestimmten Materialien und Oberflächen der Wohnungsausstattung. In Abstimmung mit den von Anfang an eng in den Planungsprozess eingebundenen Eigentümern dominieren dort großflächige Holzdielenböden, Granitplatten mit Kieselstrukturen (für Küchenarbeitsplatten bzw. Waschtische im Bad) sowie maßgeschneiderte raumgliedernde Einbaumöbel. Nicht zuletzt durch plastische Details wie in Beton modellierte Kaminnischen oder den als Treppenskulptur mit Sitzbank ausgebildeten Aufgang zur Dachterrasse erscheint das Material Beton als selbstverständlicher Hintergrund. Nicht ganz unbeteiligt für das durchwegs angenehme Raumgefühl sind aber auch die unregelmäßigen Wohnungsgrundrisse. Sie resultieren aus einer Gebäudekubatur, die die Architekten gewissermaßen als dreidimensionales Abbild eines voll ausgeschöpften Baurechts – Baulinien, Abstandsflächen, Geschossflächen etc. – abgeleitet haben. Die Dachgeschosswohnung mit ihrer exponierten Dachterrasse war dabei überhaupt nur aufgrund einer eigens beantragten Ausnahmegenehmigung möglich.
Die ausgiebige Beschäftigung mit den städtebaulichen Rahmenbedingungen ist für dieses Projekt ebenso kennzeichnend wie die sorgfältig durchdachten Ausführungs- und Entwurfsdetails. Ergebnis ist eine gelungene Mischung aus selbstverständlicher Unaufgeregtheit und dezidiertem Gestaltungswillen. Die rohe und letztlich eher zufällige Optik und Haptik der Betonoberflächen ist fester Bestandteil dieser Inszenierung, die den Beton als von Bauarbeitern geschaffenes und von einer gediegenen Ausstattung gerahmtes Raumkunstwerk betrachtet.