Harmonie durch Kontraste. Ein Dialog der Zeitschichten
zum Thema „Bauen im Bestand“
Der Umgang mit der historischen Bausubstanz ist sehr stark mit der Frage nach einer adäquaten Nutzung verbunden. Ein leeres Gebäude ohne neues Leben verkommt schnell – nur in Verbindung mit einer neuen Funktion erhält es eine weitere Lebenschance. Neue Nutzungen bringen jedoch notwendige Veränderungen mit sich, die die bestehende bauliche Struktur stark beeinflussen können.
Für mich ist es generell sehr wichtig, Gebäudestrukturen, wenn nur irgend möglich, vor Abriss zu beschützen. Ein Gebäude ist die Verkörperung der Energie, die in dieses Objekt während der Realisierungsphase investiert wurde. Am Entstehen wirken stets viele Menschen mit und man muss, meiner Meinung nach, jeden Versuch unternehmen, um das Resultat und die aufgewendete Kraft nicht unnötig vernichten zu lassen. Außerdem ist jedes Gebäude, wenn auch nicht denkmalgeschützt, gleichwohl ein Teil der historischen Schichten, aus denen unsere Städte bestehen, und die wir in erster Linie dafür lieben.
In vielen Häusern stecken Entwurfsgedanken oder Details, die die Ästhetik der Entstehungszeit auf individuelle Weise widerspiegeln. Wenn es also die Qualität der Substanz und die neue Nutzungsart zulassen, ist es meiner Meinung nach das Beste, wenn im Zuge eines Umbaus die räumliche und gestalterische Struktur des Ursprungsbaus wiedererkennbar sind. Auch wenn scheinbar die Ausnutzung eines Grundstücks ohne die bestehende Substanz deutlich besser und einfacher realisierbar sein könnte, gibt es viele Wege, das Alte und Neue zu verbinden, die Schichten aus unterschiedlichen Zeiträumen zu verdeutlichen und gleichzeitig die notwendigen wirtschaftlichen Werte zu erzielen.
Ich unterstreiche gern erneut, dass der respektvolle Umgang mit der bestehenden Substanz für mich speziell dann von Bedeutung ist, wenn das Gebäude nicht unter Denkmalschutz steht. Ist dies einmal der Fall, so wird die Integration einer neuen Nutzung zu einer besonders verantwortungsvollen Aufgabe. Die Grenze zwischen dem geschützten Bestand und den Ergänzungen sollte deutlich ablesbar sein, wobei im Rahmen eines Umbaus die Gestaltungsschichten aus mehreren Zeithorizonten hervortreten können. Ich erinnere mich an ein Beispiel aus meiner Praxis, bei dem nicht nur der Ursprungsbau aus den 1940er-Jahren, sondern auch die gestalterisch kontrastreichen Zwischenschichten aus der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre plötzlich wiederentdeckt, vervollständigt und durch neue Elemente ergänzt werden konnten.
Dieses Nebeneinanderexistieren kann also besonders spannend sein. Seit gut hundert Jahren spielt die Architektur mit der Idee von Gegensätzen in einer nicht mehr harmoniesüchtigen Nachbarschaft. Die Entwürfe der russischen Konstruktivisten etwa haben nicht nur neue räumliche Ideen zu Schau getragen, sondern auch den Weg aufgezeigt, wie Alt und Neu auf Basis eines starken Kontrasts zusammenwirken können. Der Hochhaus-Turm von Vladimir Krinskij am Lubjanka-Platz, die horizontalen Wolkenkratzer von El Lissitzky oder das Gebäude des Volkskommissariats für Schwerindustrie von Ivan Leonidov waren nicht dafür gedacht, im luftleeren Raum zu stehen, sondern mitten in der baulichen Struktur der vorigen Jahrhunderte, um mit diesen einen kontroversen Dialog zu führen.
Harmonie durch Kontraste oder kontrastvolle Harmonie wurde somit zum wichtigen, vielleicht dem wichtigsten Ausdrucksmittel der zeitgenössischen Architektursprache. Für mich besteht besonderes Interesse an einem fesselnden Dialog von Bestand und neuer Materie. Es kann sich dabei um einen Gegensatz in der Materialität, im Verhältnis zwischen geschlossener und verglaster Oberfläche oder in der Tiefe der Reliefstruktur handeln. Besonders wertvoll und spannend wird es für mich, wenn das Alte und Neue sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und zu einem eindrucksvollen Ensemble innerhalb eines neuen Nutzungskonzepts zusammenwachsen.
Der Architekt BDA
Sergei Tchoban machte 1986 sein Diplom in Architektur an der Russischen Akademie der Künste, St. Petersburg. Seit 1995 Partner bei Nietz – Prasch – Sigl und Partner Architekten BDA. Führung des Berliner Büros, seit 2003 nps tchoban voss Architekten BDA. 2006 Gründung des Architekturbüros SPEECH, Moskau, 2009 Gründung der Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung, Berlin. Kurator des russischen Pavillons der Architekturbiennalen in Venedig 2010 / 2012, Architekt des russischen Pavillons der EXPO 2015 Mailand, Ausstellungen, kuratorische Projekte weltweit, Mitglied der ASAI. nps-tchoban-voss.de, tchoban-foundation.de