In die Eingeweide des Ungeheuers
„Leviathan“. Eine
Monumentalskulptur,
Monumenta 2011, Paris
Monumentalskulptur,
Monumenta 2011, Paris
Im Rahmen der vierten, jährlich vom französischen Ministerium für Kultur und Kommunikation initiierten Monumenta, realisierte der Künstler Anish Kapoor im Hauptschiff des Grand Palais eine Folienarchitektur, die Kunst mit Hightech verbindet.
Die Arbeiten des im indischen Bombay geborenen und in London lebenden Künstlers Anish Kapoor haben immer etwas mit Architektur zu tun. Kein Wunder, der Mann, der sich nicht davor fürchtet, auch noch die größten Räume mit seinen Arbeiten zu bespielen, ist Bildhauer, er arbeitet also am und mit dem Raum, spektakulär zuletzt in der ehemaligen Maschinenhalle der dann Tate Modern (Herzog & de Meuron). Und nicht selten stehen für die anspruchsvollen Gebilde Ingenieure zur Seite, die einmal die Materialien in ihrer Beschaffenheit konfektionieren oder ebenfalls auch die Schnittmusterbögen für die riesigen Raumgebilde berechnen und aufbauen.
Anish Kapoor hat nun in Paris im Rahmen der Monumenta 2011 eine Skulptur entworfen (leider schon wieder abgebaut), die eine monumentale Interpretation des bib-lischen Ungeheuers „Leviathan” darstellt. Diese füllte das Grand Palais, ein für die Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris errichtetes Ausstellungsgebäude, förmlich aus.
Von der Farbe zur Funktion
Doch was im Modell oder den Skizzen schon so anspruchsvoll wie zugleich logisch erschien, ist in der Umsetzung allein durch multidisziplinäres Vorgehen zu realisieren. Das fängt an beim Material und endet bei der Bewältigung des Besucherandrangs von Zigtausend. Schon der Farbton der PVC-Folie, ein elementarer Faktor innerhalb des Kunstwerks und essentiell für die Arbeit des Künstlers, gab dem Entwicklungsteam des französischen PVC-Herstellers Hausaufgaben auf, die erst nach vielen Experimenten und Probefertigungen dem Anspruch des Künstlers entsprachen. Denn der von Kapoor gedachte Farbton musste von außen als sehr intensives Purpur wahrnehmbar sein, der sich im Inneren, also in den Eingeweiden des Ungeheuers, in ein leuchtendes, transluzentes Rot verwandelt. Der so geschaffene Lichtraum wird allein durch die dunklen Nähte strukturiert, was den Besuchern optischen Halt gibt und die Unbegrenztheit des lichterfüllten Raums aufhebt. Immerhin ist die Transluzenz so hoch, dass die Betrachter innen über die Licht- und Schattenspiele außen das Gefühl bekommen, der Leviathan erwache gerade zu neuem Leben.
Exakte Farbe und hohe Transparenz zugleich
Pascal Martor, Farbmessungs-Ingenieur beim französischen Folienhersteller, erinnert sich: „Anish Kapoor zeigte uns seine Farbpigmente, die auf Gouache-Farben basierten, wie sie innerhalb der Malerei eingesetzt werden. Diese erwiesen sich jedoch als vollkommen inkompatibel zum PVC. Wir knieten uns daraufhin sehr in das Thema Farben mit organischen Pigmenten hinein. Dabei lag für uns das größte Problem darin, quantifizierbare Daten für Lichttransmissionswerte zu entwickeln, wie sie der Künstler für seine geplante, aufblasbare Skulptur im Sinn hatte. Es war ein sehr umfangreicher Austausch notwendig, bis wir den optimalen Kompromiss zwischen
gewünschtem Farbton und der geforderten Transluzenz gefunden hatten. Und natürlich all das unter der Vorgabe, an den technischen Eigenschaften der Textilmembran nichts zu verändern”.
So wurden zuerst mittels Versuch und Irrtum Material-Vorprüfungen auf Basis von Labortests für den Prototypen durchgeführt. Um ganz sicher zu gehen wurden für die Endentwicklung der Skulptur auf
vier Produktionslinien Tests von jeweils 1 000 m² gefahren. In diesem Prozess konnte der Kunststoffentwickler und -produzent auf das Knowhow des deutschen Spezialisten Hightex für das Engineering und die Produktion der Kunstinstallation zurückgreifen.
Die Membran/Konfektionierung
Die nötige Dimensionsstabilität durch die vom Hersteller so genannte „Precontraint-Technologie“ (s. Kasten) war ein entscheidender Aspekt für die erfolgreiche Realisierung des Skulpturkörpers. Mittels der bereits durch den Produktionsprozess aufgebauten Vorspannung verformt sich das Compositgewebe aus PVC und Polyester nicht, ist reißfest (4t/m), trotzdem sehr leicht und zu 100 % recycelbar. Es besitzt die notwendigen bi-axialen Leistungsmerkmale und konnte in der für solche Großprojekte vorausgesetzten Rollenweite produziert werden. Insgesamt waren das über 12 000 m² Textilgewebe, die so konfektioniert wurden, dass nach den Verschweißen der Einzelteile eine selbsttragende Struktur entstand, die mittels angesaugter Luft aufgeblasen und allein durch den Luftdruck in Form gehalten wird. Wegen der Komplexität der dreidimensionalen Skulptur, die in das bestehende Gefäß Grand Palais aufgepumpt wurde, wurden mehrere Monate Entwicklungszeit benötigt. „Die 2D-Schnittzeichnungen“, so der Projektmanager von Hightex, Mark Nolan, „wurden als digitale Daten direkt vom Cutter gelesen. Die Daten wurden entsprechend modifiziert, um den Anforderungen des digitalen Cutters zu entsprechen. Im nächsten Schritt wurden die Segmente in der Werkstatt verschweißt. Die Skulptur wurde vorkonfektioniert in Form von vier riesigen Elementen aus Textilgewebe, da es extrem schwierig gewesen wäre, die Skulptur bereits in einem Stück zu transportieren und zu handeln. Nach der Anlieferung zum Ausstellungsort und Ausrollen auf dem Boden – auf der Basis von vier vorbereiteten Montagepositionen – wurden die vier Elemente im Hauptschiff des Grand Palais mit einer Hochfrequenz-Schweißmaschine, die extra für dieses Monumenta-Projekt entwickelt wurde, verschweißt. Die Winkelbereiche wurden dazu verwendet, die Installation im Boden zu verankern.“ Komplexe Statikmodelle und Schnittzeichnungen waren die Voraussetzung für das digitale Cutting und die Verschweißungen. Jede Abweichung im Zusammenbau hätte zu ungewollten Kräfteverläufen mit möglicherweise anschließendem Reißen geführt.
Minimaler Luftverlust entsteht über den gesamten Skulpturkörper. Ein Drucksensor im Inneren der Installation schaltet das Hauptgebläse ein, sobald ein kritischer Wert erreicht ist. Im Falle eines (Aus)Falles, wurde eine Reservemaschine installiert. Innerhalb des Ein- und Ausgangs in die Eingeweide des Leviathan befinden sich Ventilatoren und Luftschleusen, die für den notwendigen Luftaustausch und die Klimatisierung sorgen. Mit Luft gefüllt wurde die Skulptur innerhalb von nur 2 Stunden (Haupt- und Reservegebläse mit je 20 000m³/Std.)
Dem Pariser Leviathan wurden längst die Klappen geöffnet, seine wunderbar leuchtende Haut lagert noch in London. Was mit ihr geschehen wird ist offen – oder wie es Mark Nolan von Hightex trocken formulierte: „Die Skulptur gehört Anish Kapoor. Was damit geschehen soll, weiß nur er.“ Vielleicht eine neue Skulptur? Be. K.
Baudaten
Engineering/Herstellung/Aufbau:
Hightex GmbH, Bernau am Chiemsee/D, www.hightexworld.com
Materialproduzent/-entwickler:
Serge Ferrari sas, Frankreich, www.sergeferrari.com
Membranhülle ist dabei ein entscheidender Energiesparfaktor)
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