Initiative Morgenstadt
Bauforschung für die
Stadt der Zukunft

Die Welt wird in den kommenden zwei Jahrzehnten die größte Völkerwanderung der Geschichte erleben. Bereits in den vergangenen Jahren hat sich ein Ansturm auf die großen Metropolen abgezeichnet. Schon heute leben mehr als 50 % der Weltbevölkerung in Städten. Für das Jahr 2050 erwarten die Experten der Vereinten Nationen einen weiteren Anstieg auf 75 %. Städte von heute müssen sich deshalb zeitig auf diesen Zulauf vorbereiten, um Metropolen von Morgen zu werden. Mit neuen Technologien macht die Fraunhofer-Gesellschaft einen großen Schritt in Richtung Zukunft und entwickelt innovative Lösungen für die Stadt von Morgen.

Das Wachstum und der Wandel der Städte wird die Entwicklung im 21. Jahrhundert entscheidend beeinflussen, denn der Wettlauf um eine ökologisch nachhaltige Zukunft

findet vor allem in den urbanen Zentren statt. „Menschen einer stetig wachsenden Bevölkerung, in einer zunehmend alternden Gesellschaft, die in immer größeren Städten leben bei zugleich schwindenden Ressourcen, haben steigende Anforderungen an Komfort und Behaglichkeit von Gebäuden und Siedlungsstrukturen. Darauf müssen wir vorbereitet sein“, erklärt Prof. Dr. Klaus Sedlbauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP und Sprecher der Fraunhofer-Allianz Bau.

Planen und Bauen

Gebäude können heute nicht mehr ohne leis-tungsfähige Software geplant, gebaut und betrieben werden. Neue Anforderungen an die Energieeffizienz und das Raumklima von Gebäuden, aber auch Sicherheits- und Managementaspekte, treiben die Entwicklung neuer Lösungen im Bereich der Bauplanung voran. Neben nachhaltigen Planungs- und Steuerungsprozessen spielen bei Neubauten, Instandhaltungen und Modernisierungen die Optimierungen von Baumaßnahmen eine entscheidende Rolle, was sich schließlich auf die Qualität der Konstruktion auswirkt. Innovative Fertigungstechniken und modulare Systemkonstruktionen vermeiden bereits im Vorfeld das Auftreten kostspieliger Spätfolgen.

Zu diesem Thema stellt das Fraunhofer-

Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO die Toolbox „Virtual CityScapes“ vor. 3D-Visualisierungssysteme erleichtern während der Planungsphase eines Gebäudes oder ganzer Stadtteile die Kommunikation zwischen den beteiligten Fachleuten. Virtual CityScapes bündelt dabei vier wesentliche Aspekte: 1. die immersive Gebäudeplanung – 3D-Gebäudedaten umfassen sämtliche Fachplanungen wie Elektroinstallationen oder Belüftung; 2. die virtuelle Bemusterung – dank virtueller Realität kann das Gebäude in der Planungsphase räumlich und maßstabsgetreu erlebt und verschiedene Materialkombinationen miteinander verglichen werden;

3. die Lärm- und Feinstaubvisualisierung – die 3-D-Karte zeigt erhöhtes Lärm- und Feinstaubaufkommen auf; 4. die virtuelle Fahr-

simulation – der Einsatz verschiedener Formen der Fahrsimulation sowie realer Fahrzeuge macht virtuelle Prototypen und
Human-Machine-Interface-Konzepte bereits in frühen Entwicklungsphasen erlebbar.

Energie und Ressourcen intelligent nutzen

Urbane Zentren zählen mit ihren Gebäuden zu den größten Energieverbrauchern weltweit. Sollen fossile Brennstoffe und Ressourcen langfristig eingespart und die Folgen für die Umwelt reduziert werden, muss bei der Versorgung von Gebäuden und Siedlungsstrukturen angesetzt werden. Es gibt bereits eine Vielzahl von Passivhäusern, Plusener­giehäusern und sogar energieeffizient gestaltete Stadtteile. Die meisten Gebäude in Deutschland sind jedoch Altbauten, die hierzulande 95 % des Energieverbrauchs von Gebäuden verursachen. Insgesamt werden für Heizen, Kühlen, Lüften und Beleuchten von Wohn-, Büro- und Schulhäusern 40 % der

Endenergie benötigt.

„Wir können die beschlossene Energiewende nur meistern, wenn wir den Verbrauch reduzieren. Dabei spielen Effizienztechnologien im Bau­sektor die entscheidende Rolle. Sie senken unabhängig von der Art der Energieerzeugung Kosten und Ressourcenverbrauch. Mit einer umfassenden Modernisierung lässt sich der Energieverbrauch von Altbauten häufig um bis zu 80 % reduzieren“, sagt Prof. Dr. Gerd Hauser, Leiter des Fraun­hofer IBP. Rechnet man die Angaben für Deutschland hoch, ergeben sich gigantische Sparpotentiale. „Von den etwa 2 500 TWh

Endenergie, die jedes Jahr bundesweit be­nötigt werden, entfallen ca. 786 TWh auf Raumwärme, Warmwasserbereitung und Beleuchtung. Legt man ein durchschnittliches Sparpotential von 65 % zu Grunde, ergibt sich im gesamten Gebäudebe­reich ein möglicher Minderverbrauch von bis zu 639 TWh/a Primärenergie«, erklärt Hauser. Zum Vergleich: 2010 lieferten alle Atomkraftwerke in der BRD zusammen 140,6 TWh.

Gebäude als Kraftwerke, die zu einer Dezen­tralisierung der Energieversorgung beitragen und dabei umliegende Siedlungsstruk­turen, Fahrzeuge oder Leitungsnetze integrieren, begleitet Fraunhofer ebenso mit innovativen Systemen und integralen Lösungen wie die Optimierung von Mobilitätskonzepten oder das nachhaltige Management von Frisch- und Brauchwasser auf Siedlungsebene. Einen intelligenten Lösungsansatz mittels dezentraler Wasser- und Energie-Infrastrukturkonzepte liefert das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB. Die

neuen semi-dezentralen Technologien des Projekts DEUS 21 ermöglichen, Regenwasser zu nutzen, den Trinkwasserverbrauch zu reduzieren, Abwasser effektiv zu reinigen und
dabei Biogas zu gewinnen. Biogas kann auch aus Abfällen gewonnen werden, die sonst

allenfalls auf dem Kompost landen. Im Projekt EtaMax werden Großmarktabfälle wie Gemüse und Obst energetisch genutzt. Das bei der Vergärung entstehende Biogas wird aufbereitet und steht als Kraftstoff für Erdgasautos zur Verfügung.

Baustoffe – intelligent eingesetzt und recycelt

Die Qualität eines Gebäudes hängt unmittelbar von den Eigenschaften der verwendeten Baumaterialien ab. Der effiziente Einsatz von Material und Energie sowie Fragen der Umweltfreundlichkeit und Gesundheitsverträglichkeit von Baustoffen sind zentrale Aspekte der Fraunhofer-Bauforschung. Ganzheitliches Bauen erfordert u. a. nachhaltige Baustoffe. Die Fraunhofer-Bauforschung kombiniert daher die bewährten Eigenschaften von Baustoffen durch gezielte Weiterentwicklung mit zusätzlichen Merkmalen. Neben der Verbesserung von Materialeigenschaften stehen hier die Funktionalisierung von Oberflächen und die Recyclingfähigkeit sowie Verwertung von Baustoffen im Fokus.

In Deutschland werden jährlich knapp
30 Mio. m² Dämmstoffe verbaut, mit steigen­der Tendenz. Die Marktanteile von Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen liegen zurzeit bei 4 bis 5 %. Die Forschung arbeitet daran, synthetische Dämmstoffe durch natürliche zu ersetzen. So haben Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT in Pfinztal gemeinsam mit Kooperationspartnern einen vielseitig einsetzbaren Dämmstoff aus Hanf kreiert. Der Naturstoff ist leicht, dämmt gut und erfüllt – dank einer Imprägnierung mit Soda – die Anforderungen an den Brandschutz.

Neue Wege für die Dämmung

Ebenfalls gute Eigenschaften als Dämmstoff beweist der Rohrkolben. In Zusammenarbeit mit einem Kooperationspartner entwickelten Forscher des Fraunhofer IBP eine magnesitgebundene Dämmplatte aus Typha (lat. für Rohrkolben). Sie bietet einen guten Brand-, Schall- und Wärmeschutz und ist relativ diffusionsoffen, aber ausreichend dicht, um bei den meisten Anwendungen auf eine Dampfbremse verzichten zu können. Vor allem ist das Material in Richtung der Plattenebene mit hohen Drücken belastbar, was sie ideal für den Einsatz in Fachwerkhäusern macht.

Ein weiterer Weg, um Altbauten zu dämmen, sind innovative Fassadenteile. In den Modulen verstecken sich Lüftungskanäle oder Heiz-und Kühltechnik. Sogar Solarkomponenten kann man integrieren. Dank der
industriell vorgefertigten Bauteile können so Gebäude minimalinvasiv saniert werden. Das reduziert Zeit und Kosten. Solche Elemente entwickeln Wissenschaftler des Fraunhofer IBP in einem vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) geförderten Projekt. Auch denkmalgeschützte Gebäude lassen sich mit diesen innovativen Verfahren in zahlreichen Fällen schonend renovieren.

Recycling

Dem Thema Recycling hat sich eine andere Forschungsgruppe des Fraunhofer IBP angenommen. Jedes Jahr fallen mehrere Mio. t Bauschutt an, dessen Hauptbestandteil Altbeton ist. Allein in Deutschland betrug die Abfallmenge 2010 fast 130 Mio. t. Ein effizientes Recycling von Beton gibt es noch nicht. Zurzeit wird Altbeton unter enormer Staubentwicklung zerschreddert, die Brocken landen als Belag unter der Straße. Bei diesem Downcycling verschlechtert sich die Qualität der wiederverwerteten Rohstoffe von Vorgang zu Vorgang. Durch eine Trennung der Gesteinskörnung von der Zementsteinmasse könnte der Kies als Zusatz erneut eingesetzt werden. Die IBP-Forscher arbeiten daher an neuen Recyclingverfahren: Mithilfe elektrodynamischer Fragmentierung zerlegen sie das Gemisch aus Zement, Wasser und Gesteinskörnung in seine Einzelbestandteile. Die Rückgewinnung der Zuschläge aus dem Altbeton wird die Recyclingquote in wenigen Jahren etwa verzehnfachen und damit auf bis zu 80 % steigern. Gleichzeitig soll die Methode noch bei vielen weiteren Produkten Anwendungen finden, die bislang einfach auf dem Müll landen. Um die Wiederverwertungsrate von Rohstoffen zu steigern, arbeiten die Fraunhofer-Forscher an der Weiterentwicklung von Recyclingmethoden für Müll-

verbrennungsschlacke, kohlefaserverstärkte Kunststoffe, Elektroschrott und Holzverbunde.

Für die Erfassung und Analyse der Umweltwirkungen, die von Bauprodukten, Bausystemen und Bauwerken verursacht werden, erstellt das Fraunhofer IBP Ökobilanzen. Damit lassen sich Treibhausgasemissionen, die Versauerung von Böden und Gewässern, die Ozonbildung sowie der Ressourcenverbrauch systematisch im Lebenszyklus eines Gebäudes bewerten. Gleichzeitig können ökologische Schwachstellen aufgezeigt werden, um gezielte Optimierungs­maßnahmen schon in der Planungsphase einzuleiten.

Sicherheit

Damit Gebäude zuverlässiger vor Beschädigungen durch kurzzeitdynamische Ereignisse geschützt werden, entwickelt Fraunhofer in der Bauforschung von zerstörungsfreien Prüfverfahren über Werkstoffe bis hin zu vorgefertigten Systemlösungen Technologien für diverse Bauwerkstypen. Das Ziel ist, Sicherheitsaspekte mit Aufgabenstellungen der Qualitätssicherung, der architektonischen Gestaltung sowie der Funktionalität von Bauwerken zu verbinden. Von besonderem Interesse sind Baustoffe, die durch ihr hohes Energieabsorptionsvermögen kurzzeitige Belastungen dämpfen können, Systemlösungen, die sich durch ihre modulare Konzeption

flexibel an Anwendungsbereiche anpassen lassen oder integrierte Systeme, die ein

Monitoring ermöglichen.

Das Hauptaugenmerk der Arbeit am Fraunhofer-Institut für Zerstörungsfreie Prüfverfahren IZFP liegt auf der Entwicklung von zuverlässigen Untersuchungsmethoden, die Schäden am Objekt vermeiden. Der technische Fortschritt hat dabei neue Möglichkeiten eröffnet, wie z. B. die Inspektion mit unbemannten Flugsystemen (Unmanned Air Systems, kurz: UAS). Die Einsatzmöglichkeiten in der zerstörungsfreien Prüfung für die luftgestützte Inspektion konzentrieren sich hierbei auf die Bereiche Zustandserfassung, Schadensdiagnose und Monitoring. Seit 2009 setzt das Fraunhofer IZFP eine

Multirotor-UAS-Plattform ein, die für die Inspektion von Gebäuden (aber auch Brücken, Türmen, Hochhäusern etc.) genutzt wird. Für diesen Anwendungsbereich sind zerstörungsfreie Prüfverfahren verfügbar, wie visuelle Inspektion, Radar, Laser oder Thermo­graphie. Die gesammelten Bild- und Videoergebnisse werden anschließend zur Erstellung hochqualitativer digitaler Gebäuderekonstruk-

tionen genutzt, die eine umfassende Datengrundlage für die erweiterte Planung und Durchführung von Remote-Inspektionen und Monitoring-Aufgaben bilden.

Morgenstadt

Städte verbrauchen Energie und Rohstoffe, produzieren Abfall und Schadstoffe, die
Verkehrssysteme sind überlastet. Fraunhofer-Forscher haben sich daher im Innovationsnetzwerk „Morgenstadt“ zusammengeschlos­sen, um nachhaltige urbane Technologien und Systeme für die Städte der Zukunft zu entwickeln. Eine langfristige Nachhaltigkeitsstrategie verlangt die Synchronisierung von kurzfristigen – wie bei Informations- und Kommunikationstechnologien – und langfristigen Zyklen – wie bei Gebäuden oder Verkehrsinfrastrukturen. Bisher verlaufen diese eher unabhängig voneinander. Daher hat die Initiative Morgenstadt ein strategisches Handlungsmodell entwickelt, mit dem bisher parallele Systeme vernetzt und ergänzende Schlüsseltechnologien erforscht werden.

Für das Innovationsnetzwerk „Morgenstadt: City Insights“ haben sich 12 Fraunhofer-Institute zusammengeschlossen. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie und der deutschen Städte-Landschaft erarbeiten sie systematische Einblicke in erfolgskritische Schnittstellen auf dem Weg zur ressourceneffizienten, intelligenten und nachhaltigen Stadt der Zukunft. Dafür wurden sechs globale Städte festgelegt, die als inspirierende Systeme ein Vorbild für nachhaltige urbane Lösungen sein sollen: Singapur, Kopenhagen, New York, Berlin, Freiburg, Tokio. Bis Juli 2013 analysieren Expertenteams die Ansätze innerhalb dieser Städte. Ziel ist es, Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen einzelnen Vorreiterprojekten und den Stadtsystemen als Ganzem zu gewinnen.

Gleichzeitig arbeiten die Fraunhofer-Institute auch außerhalb des Morgenstadt-Projekts auf internationaler Ebene an innovativen Lösungen für Städte. Mit dem Building Technology Showcase (BTS) führt z.  B. das Fraunhofer Center for Sustainable Energy Systems CSE aus Boston einen Demonstrator zum Thema „Zukunft des Bauens“ fort, den die Fraunhofer-Gesellschaft in Duisburg mit dem inHaus-Zentrum für die Erforschung von Wohn- und Nutzimmobilien 2001 gestartet hat. Das BTS-Gebäude repräsentiert die Zukunft nachhaltigen
Planens und Bauens. Das Fraunhofer CSE demonstriert an diesem Gebäude energetische Sanierungslösungen am Beispiel eines 100 Jahre alten, historischen Gebäudes im Innovationsbezirk von Boston. Hier validiert Fraunhofer die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit der Technologien, die in das Gebäude integriert sind und unterstützt Hersteller bei der Entwicklung von Produkten mit angewandter Forschung. Über Partnerschaften mit der Industrie, der Regierung der Vereinigten Staaten und deren Institutionen schafft Fraunhofer CSE in Boston einen Weg für die Einführung energiesparender Technologien in den gewerblichen und privaten Sektor.

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