Lebenszyklusanalyse für kosteneffiziente Nahe-Null-Energiehäuser
Wie teuer sind Bau und Betrieb eines quasi Null-Energiegebäudes? Welche Schritte sind im Planungsprozess zu beachten und welche Kombination aus Energieeffizienz und erneuerbaren Energien ist die beste? Die interaktive Webplattform CRAVEzero unterstützt die Baubranche bei der Beantwortung dieser Fragen. Sie bietet Werkzeuge zur Berechnung der Lebenszykluskosten eines Gebäudes und zur Implementierung neuer Prozesse für Planung, Bau und Nutzung von Gebäuden.
Ab 2021 werden Nearly Zero Energy Buildings, also Nahe-Null-Energiegebäude, im Neubau in Europa Standard sein. Dies schreibt die EU-Richtlinie zur Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (2010/31/EU) vor. Gebäudeplaner, Architekten und Bauwirtschaft sind dann gefordert, kostenoptimierte Gebäude mit minimalem Energiebedarf zu realisieren. Einige Planungsbüros, wie auch das europaweit tätige Büro für Integrale Planung ATP architekten ingenieure mit Hauptsitz in Innsbruck, haben bereits langjährige Erfahrungen mit Nahe-Null-Energiegebäuden gesammelt. ATP sustain, die ATP-eigene Forschungs- und Sonderplanungsgesellschaft für nachhaltiges Bauen, hat sich mit Forschungsinstitutionen im internationalen Projekt CRAVEzero zusammengeschlossen, um ihr Wissen der gesamten Baubranche zur Verfügung zu stellen. Der Fokus des von AEE – Institut für Nachhaltige Technologien, Österreich, geleiteten Projekts liegt dabei auf mehrgeschossigen Wohn- und Bürogebäuden in Europa. (Abb. 01)
„Für die Planung von Nahe-Null-Energiegebäuden ist die Lebenszykluskostenanalyse ein wichtiger Baustein in einer frühen Planungsphase, in der die Gebäudegeometrie, die Konstruktion sowie die Gebäudetechnik noch nicht definiert wurden“, betont Jens Glöggler, Geschäftsleiter von ATP sustain in München. Architekten und Planer bieten Lebenszykluskostenanalysen derzeit jedoch nur als gesonderte Leistung an. Dabei ist es wichtig, diese Analysen standardmäßig in den Planungsprozess zu integrieren und alle Disziplinen von der Initiierungsphase an zu beteiligen, um langfristig, nachhaltige Entscheidungen zu treffen und Umweltwirkungen und Ressourcenverbrauch in der Bauwirtschaft deutlich zu reduzieren, so Glöggler.
Entwurfsentscheidungen beeinflussen die Lebenszykluskosten
Die Lebenszykluskosten (Life Cycle Costs, LCC)eines Gebäudes umfassen jene Kosten, die für Planung, Errichtung, Nutzung und Betrieb sowie Abbruch oder Rückbau anfallen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Folgekosten während der Nutzung eines Gebäudes einen nicht unerheblichen Teil der Lebenszykluskosten ausmachen. Sie sind ebenso wie die Errichtungskosten planbar und beinflussbar. Je früher in der Planungsphase von Neubauten oder Sanierungen Folgekosten mitberücksichtigt werden, desto größer ist die Möglichkeit der Einflussnahme (Abb. 02).
Bei der LCC-Betrachtung geht es also nicht nur darum, höhere Erstinvestitionen für niedrigere Betriebskosten in Kauf zu nehmen, sondern transparent aufzuzeigen, mit welchen Errichtungs-, aber auch Folgekosten bestimmte Entwurfsentscheidungen verbunden sind. So wirken sich etwa die Kompaktheit und Komplexität des Baukörpers nicht nur auf die Energieeffizienz des Gebäudes aus. Je größer die Fläche der Gebäudehülle im Verhältnis zum Volumen ist, desto höher sind sowohl die Errichtungs- als auch die Folgekosten.
Integrale Planung ist essenziel
„In CRAVEzero haben wir die Kostenstruktur und Planungsprozesse von zwölf Vorzeigeprojekten in Italien, Schweden, Österreich und Frankreich genau untersucht und daraus Referenzpreise für Investition, Wartungs- und Betriebskosten für verschiedene Komponenten wie Wärmerückgewinnungsanlagen, Solarwärmeanlagen oder die energetische Qualität der Gebäudehülle abgeleitet“, erklärt David Venus, Projektmitarbeiter bei AEE – Institute für Nachhaltige Technologien (AEE INTEC), Österreich.
Das Technologiezentrum Seestadt in Wien ist eines dieser genau analysierten Häuser der Zukunft. Gebäudeteil 1 wird innerhalb von CRAVEzero abgekürzt als „Aspern IQ“ bezeichnet. Bei seiner Fertigstellung Ende August 2012 war das Aspern IQ der erste Hochbau im derzeit mit 240 Hektar größten Wiener Stadtentwicklungsprojekt, der Seestadt Aspern. Bereits im EU-weiten Wettbewerb für das Aspern IQ, den ATP im Januar 2010 gewann, waren eine energieeffiziente und schadstoffarme Bauweise sowie funktionale und gestalterische Aspekte wichtige Kriterien. „Uns ist es durch einen integralen Planungsprozess zwischen Architekten und Ingenieuren unter Einbindung von Bauphysik, thermischer Gebäudesimulation, Tageslichtsimulation und Bauökologie gelungen, den Primärenergiebedarf des Technologiezentrums so zu optimieren, dass ein fast Plusenergiegebäude entstand“, sagt Michael Haugeneder, Geschäftsführer ATP sustain, Standort Wien. Integrale Planung ist essenziell für derart komplexe Bauvorhaben. Das heißt, dass Ingenieure und Architekten teamorientiert an der jeweils besten innovativen Lösung arbeiten und deren qualitätsgerechte, bauliche Umsetzung gemeinsam kontrollieren.
Als Plusenergiegebäude wird hier ein Bauwerk bezeichnet, dessen durch Energieeffizienz minimierter jährlicher Endenergieverbrauch unter der vor Ort produzierten erneuerbaren Energiemenge liegt. Zur Erfüllung dieses Qualitätskriteriums spielt die Photovoltaik-Anlage mit 148 kWp bei Aspern IQ eine wichtige Rolle. Laut Berechnungen mit dem Passivhaus-Projektierungspaket PHPP liegt die jährliche Solarstromproduktion bei 15 kWh/m² Energiebezugsfläche (EBF). Diese Strommenge gleicht fast den jährlichen Endenergiebedarf nach dem österreichischen Klima:Aktiv-Standard von 17 kWh/m²EBF aus.
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Doppelnutzung der Photovoltaikanlage in der Fassade
„Die vor die Südostfassade statisch aufgeständerten Photovoltaikelemente bestimmen die Optik des Gebäudes. Die Module verschatten die dahinterliegenden Räume im Sommer, schützen sie vor der direkten Sonneneinstrahlung“, erklärt Klara Meier, Nachhaltigkeitsexpertin bei ATP sustain, die Doppelnutzung. Zusätzliche Photovoltaikflächen sind auf dem Flachdach aufgeständert und am Dach der Technikzentrale fassadenintegriert (Abb. 03).
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Weitere wichtige Optimierungsmaßnahmen sind eine zentrale Lüftungsanlage mit Sorptionstrocknung, die einen hohen Grad an Wärmerückgewinnung aus der Abluft ermöglicht sowie eine Grundwasser-Wärmepumpe zum Heizen und Kühlen, bei der die Laufzeit der Pumpen optimiert wird.
Das Technologiezentrum Seestadt ist als H-Typ konzipiert, das Gebäude ist in Skelettbauweise in Ortbeton (Ökobeton) errichtet. Zur horizontalen Aussteifung dienen Stahlbetonkerne, Schachtwände und Wandscheiben. Die Stahlbetondecken sind größtenteils mit einer Bauteilaktivierung versehen. Neben dem Untergeschoss mit Tiefgarage sind im Erdgeschoss das Foyer, allgemeine Nebenräume, der Seminarbereich sowie ein Restaurant mit Küche und drei Ladenlokale untergebracht. Die Bürotrakte im zweiten bis vierten Obergeschoss sind flexibel als Mieteinheiten erschließbar. Eine umlaufende Holz-Alu-Fensterbandkonstruktion mit Lüftungsflügel gewährleistet eine optimale natürliche Belichtung, aber auch Fensterlüften in der Übergangszeit (Abb. 04).
Detaillierte Kosten-/Emissionsanalyse überzeugt Bauherren
Auf Basis der Realdaten von Aspern IQ haben die Projektpartner in CRAVEzero Lebenszykluskosten und CO2-Emissionen fürTausende von Varianten berechnet, die als Punktewolke in Abb. 05 dargestellt sind. Gebäudestandard, Haustechnik, Lüftungssystem oder Solartechniknutzung ebenso wie die Verhaltensweise der Nutzer beeinflussen die ökonomische und ökologische Bewertung des Gebäudes erheblich. Die Lebenszykluskosten liegen zwischen 2 800 und 3 500 €/m2 (Faktor 1,2). Bei den Emissionen (ausschließlich energiebedingte Emissionen) weichen die Varianten sogar um den Faktor 3,5 voneinander ab. Wäre Aspern IQ im üblichen Baustandard errichtet, ohne Lüftungsanlage und mit Luft-Wasser-Wärmepumpe (blaue Punkte), lägen die Emissionen bei rund 40 kg/m² jährlich. Die ökologisch beste Variante mit Niedrigenergiehausstandard, Erdreich-Wärmepumpe und 148 kWp PV-Anlage (orangene Punkte) reduziert die jährlichen Emissionen über die gesamte Lebensdauer zu rund 15 kg/m2 bei gleichen Lebenszykluskosten.
„Variantenrechnungen sind ein wichtiger Schritt bei der Integralen Planung von Nahe-Null-Energiegebäuden, denn sonst läuft man Gefahr, dass Architekten und Fachplaner jeweils nur ihren Bereich optimieren und dabei das Gebäude als Gesamtes aus den Augen verlieren“, erklärt Venus. Die detaillierten Kosten- und Emissionsanalysen über die gesamte Lebensdauer können wichtige Argumente liefern, um Bauherren zu überzeugen, in eine hocheffiziente Gebäudehülle oder ein zukunftsträchtiges Heizsystem zu investieren.
Variantenberechnungen mit CRAVEzero
Allerdings ist es aufwendig, in der Planungsphase reale Angebotspreise für eine große Anzahl an Varianten zu ermitteln. Deshalb stellen die Projektplaner von CRAVEzero die Variantenberechnungen von sechs realisierten Gebäuden online im „Interactive Case Study Dashboard“ (www.cravezero.eu/pinboard/Dashboard/DBInfo.htm) zur Verfügung, das derzeit in einer Betaversion angeboten wird. Startpunkt bei der Nutzung des Dashboards ist die oben dargestellte Punktwolke von Varianten. Der Nutzer kann dann eigenständig Filter – u. a. für Gebäudestandard, Haustechnikvarianten, Lüftungssystem und Solaranlagen – setzen und damit die dargestellte Variantenzahl reduzieren. Für jede Variante sind die Lebenszykluskosten über 40 Jahre sowie der Endenergiebedarf als Charts dargestellt. Die Idee ist, dass der Planer sein eigenes Bauvorhaben mit den Online-Varianten vergleichen kann, um zu sehen, wo seine Planung in Bezug auf die Benchmark-Ergebnisse steht.
„Wir können unseren Bauherren durch solch detaillierte Kostenanalysen veranschaulichen, dass es sehr profitabel sein kann, Niedrigst- oder Null-Energiehäuser zu bauen, wenn man die niedrigen Betriebskosten über die Lebensdauer als Zusatznutzen berücksichtigt“, sagt Glöggler. Die Investitionskosten machen zwar den größten Teil der berücksichtigten Lebenszykluskosten aus (Abb. 07), doch je nach Variante erhöhen sich die spezifischen Kosten über die Lebensdauer um fast 1 000 €/m². Bei der kostenoptimierten Variante – in Abbildung 07 mit CRAVEzero bezeichnet – spart der Bauherr 19 % bei Errichtung und Nutzung des Gebäudes über 40 Jahre gegenüber einem Gebäude, das nach Stand der Technik errichtet wurde.