ERFAHRUNG

»Unsere Kultur ist das größte Kapital, das wir haben«

Volkwin Marg gründete gemeinsam mit Meinhard von Gerkan 1965 das Architekturbüro gmp – Architekten von Gerkan, Marg und Partner. Heute zählt gmp mit über 500 Mitarbeitern zu den Büros, die generalistisch und international Projekte begleiten. Marg sprach mit uns über die Zukunft Deutschlands und Europas – immer mit dem Blick auf das Bauen.

Herr Marg, wie, dachten Sie, wird man in der Zukunft bauen, als Sie als junger Architekt zu bauen anfingen?

Vor 50 Jahren meinten wir alle, sehr genaue Vorstellungen davon zu haben, wie die Zukunft zu sein hätte. So bin ich mit den Vorstellungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus konfrontiert worden.

Zur Architektur kam ich aufgrund der Erkenntnis, dass ein geisteswissenschaftliches Studium in der DDR zu einer ideologischen „Klitterung“ durch das System geführt hätte. Als einzige apolitische Nische erschien mir die „Pflege des nationalen Kulturerbes“. Das war ein stehender terminus technicus in der DDR. Ich wollte in Dresden mein Studium beginnen. Aber die wollten mich „bourgeoises Element“ nicht. Gut, ohne Mauer konnte ich einfach nach West-Berlin türmen und dort, samt „Studium Generale“ Architektur studieren.

Da meine Eltern noch in Ost-Berlin lebten und meine Geschwister und ich im Westen, war ich ein ständiger Grenzgänger. Ich erlebte die Architektur des Sozialismus in Form der Stalinallee, die in der Zeit gerade entstand, mit Paläs-ten für das Proletariat. Die Allee war ein großer Boulevard, der Verkehr, Kultur, Verkauf und Wohnen – alles in einem – vereinte.

Das imponierte mir, aber ich wollte es hassen, wegen des Regimes, das dahinterstand. Gleichzeitig entstand in Westberlin 1957 die internationale Bauausstellung mit der großen Freiluftausstellung „Die Stadt von Morgen“, mit einem Meroraumgerüst darüber und einer Membranhaut, die durch lauter Stopfpilze von unten gespannt war.

Davon war ich total fasziniert, weil sie eine ganz neue Vision von Weite, Licht, Luft, Sonne, Landschaft etc. eröffnete. Und die wollte ich lieben.

Trotzdem war ich irritiert: Denn bei dem einen war ich politisch kritisch gegen den Strich gebürstet, was meine Wertschätzung dämpfte. Auf der anderen Seite war das, was ich lieben und schätzen wollte, städtebaulich wie Konfetti in den Tiergarten gestreut.

Ich konnte nichts Urbanes erkennen, keine Ordnung. Ich sah nur lauter Einzelhäuser, die irgendwie in der Gegend herumstanden. Stadtlandschaft als Versprechen wollte ich glauben, aber dass die urban sei, konnte ich nicht erkennen.

Das waren zwei städtebauliche Ideologien, zwei Zukunftsperspektiven, die für mich die Spannung der frühen Jahre ausmachten.

Was ist Ihre Entwurfshaltung?

Die Grundidee meines Entwerfens zielt auf die Güte der Architektur. Das mag an meiner Herkunft liegen – ich bin ja ein Pfarrerssohn. Das ganze Denken und Handeln war von Hause aus werte- und moralorientiert.

Ein Gebäude muss zwar zunächst funktionieren im Gebrauch durch Menschen, und es muss richtig konstruiert werden, beides eine Frage der baumeisterlichen Redlichkeit. Aber das macht noch nicht die Güte von Architektur aus. Das heißt, das Wort „gut“ muss sich immer auf das Menschliche beziehen. Erst wenn etwas funktional optimal ist, konstruktiv perfekt auf seine Aufgabe antwortet und dann auch noch mit sozialer Güte verschmilzt – dann leuchtet Schönheit auf! Vorher ist es nur attraktiv, sensationell, aber noch lange nicht schön.

Für viele bleibt Schönheit Fiktion, weil Sie nicht wissen, was „schön“ definiert. Sie ist das Aufblitzen des Gütigen in der Verschmelzung mit dem funktional Brauchbaren und richtig Gemachten. Schnell merkt man, wie selten Sachen wirklich schön sind. Auch wenn sie handwerklich klasse gemacht sind und bestens funktionieren … Erst in der Synthese mit der „Güte“ erglänzt die Schönheit.

Was ist heute die Aufgabe der Architekten?

Architekten sind Teil der Gesellschaft. Wollen sie die Gesellschaft beeinflussen, müssen sie sich politisch einsetzen und nicht im Elfenbeinturm des „Sich-nur-selbst-verantwortenden-Künstlers“ verweilen. Architektur ist keine freie Kunst. Sie ist vielmehr eine dienende und gebundene, die in den Ketten der Sachzwänge schön tanzen soll.

Die Kunst, in Sachzwängen zu tanzen, erinnert an die Kunst der Politik. Politik kommt vom griechischen „polis“, und das heißt Stadt.

Ich bin schon als Student in die SPD eingetreten, weil ich die Privatisierung von Boden, Wasser, Luft und Wissen für verhängnisvoll für das gedeihliche Zusammenleben in der Zukunft hielt. Zunächst wurde ich als praktizierender Architekt schnell zur Parteileiche, weil ich niemals in den Verdacht geraten wollte, durch eine politische Beziehung einen Vorteil zu haben.

Als ich später für den BDA als Präsident agierte, wurde mir klar, dass wenn ich mich gesellschaftlich relevant für die Zukunft einsetzen will, ich mich als Homo Politicus einsetzen muss.

Der Architektenberuf ist fantastisch kreativ, weil er ganz viele Disziplinen miteinander verbindet. Die Aufgaben sind hochkomplex und brauchen eine ebenso hochkomplexe Bewältigung. Das heißt, man ist einer der letzten Generalisten, die es überhaupt gibt, weil alle Fachspezialisten in naheliegender Weise einen Tunnelblick haben.

Natürlich ist die Aufgabe des Generalisten immer eine Überforderung. Die Frage ist, in welchem Maße ich die Überforderung vermeide. Wobei ich jeweils, wo ich überfordert bleibe, wahrzunehmen habe, wann und bei wem ich mir Hilfe holen muss. Man kann ja nicht alles wissen, das ist in der Politik ganz ähnlich. Der Generalist weiß von Vielem wenig, der Spezialist von ganz Wenigem ganz viel.

Wird die generalistische Tätigkeit denn honoriert?

Nein, sie wird nicht honoriert. Speziell nicht bei der Beauftragung mit der Generalplanung, bei der wir Architekten auch für externe Spezialisten die Verantwortung übernehmen und auch noch für diese haften sollen. Das betrifft immer häufiger die immer komplizierter werdende Haustechnik, für die Ingenieure nicht speziell ausgebildet werden.

Wenn Sie die jungen Kollegen mit sich vor 50 Jahren vergleichen: Was fällt Ihnen auf?

Das Potential hat sich nicht verändert: Der Schatz an Begabungen und an Engagement ist da. Wo sich Generationen niemals unterscheiden werden, ist, dass jede neue Generation ihre Erfahrungen erst noch selbst machen muss und Erfahrungen leider nicht vererbbar sind und meist noch geringgeschätzt werden.

In der sogenannten Moderne galt Tradition als etwas Reaktionäres. Ich selbst habe meinen Eltern empfohlen, in ihrer Wohnung den Stuck abzuschlagen und die hohen Zimmerdecken abzuhängen, weil das dem modernen Zeitgeist entsprach. Man wird dann im Älterwerden automatisch konservativer und behutsamer, weil man nicht umhin kommt zu merken, dass die Vorfahren klüger waren als gedacht.

Zu meinen, dass man allein mit technischem Fortschritt oder Designmoden die Menschen und die Gesellschaft ändern kann, ist weltfremd. Man braucht ein sehr waches Auge um zu erkennen, was die Qualitäten der Vergangenheit sind und was davon offensiv in die Zukunft zu übertragen ist. Das gilt auch für unsere gewachsene Architektursprache, anstelle eines modischen, formalistischen Gestammels. Ohne sprachliche Konvention keine Kommunikation.

Warum ist das so?

Jede junge Generation riskiert Neues. Um dann, älter geworden, zu erkennen, dass das Neue nicht unbedingt besser ist ... Technisch geht die Entwicklung natürlich weiter. Dass man positive Erfahrungen und Konventionen nicht übernimmt und erst nach der Krise merkt, was man verloren hat, liegt im menschlichen Wesen. Kultivierte Konvention ist ein unverzichtbares, gesellschaftliches Vermögen, auch in Architektur und Stadtbaukunst.

Wie verändert die Digitalisierung die Architektur?

Sie ist ein fantastisches Hilfsmittel, vor allem für Planung und Produktion, weil man mit viel weniger Zeit viel effektiver wird.

Aber qualitativ bedeutet das noch nichts. Es gibt zwar technischen Fortschritt, aber zugleich eine irritierte moralische Orientierung. Deswegen unterscheide ich strikt zwischen dem, was ich kann und dem, was ich will oder wollen sollte.

Ich erlebe das bei meinen Kindern und Enkeln, die, wie ich in meiner Jugend, Halt suchen, um Haltung zu finden. Goethe hat so schön gesagt: „Wer in schwankenden Zeiten schwankend gesinnt ist, vermehrt das Übel.“ Ohne permanente sittliche Kultivierung bleiben Menschen die alten Affen.

Wie sehen Sie die Rolle der Architekten, gerade in Deutschland?

Wir leben hier mitten in Europa im absoluten Paradies. Aus der Vogelperspektive sieht man einen ausbalancierten Landschaftspark: Wälder, Felder, Dorf- und Stadtorganismen. Kein Quadratmeter, der ungeregelt wäre und zwar in Balance geregelt zwischen individuellen, sozialen und ökologischen Interessen.

Auch wenn wir in allen Bereichen und Themen Probleme haben, trotzdem ist es im globalen Vergleich ein Paradies mit einem nie dagewesenen Wohlstandsniveau. Das gilt allgemein für Europa, aber besonders mittendrin für Deutschland.

Ich kenne für unser kulturell und urbanistisch polyzentrisches, hoch entwickel­tes Land kein besseres System, als die historisch gewachsene und weiter entwickelte Stadtlandschaft, die den Balanceakt unserer Gesellschaft darstellt und die sich immer neu generiert und entwickelt. Das muss erhalten und gepflegt werden.

Ist es unsere Aufgabe, das zu exportieren?

Ja. Manchmal tun wir es wissentlich, manchmal intuitiv. Für Hamburg habe ich das Konversionsprojekt „Hafen City“ als Stadtumbau initiiert. Aktuell in China: Dort bauen meine Partner an einer neuen Trabantenstadt für Shanghai, in deren Mitte ein riesiger See – also eine niemals bebaubare Fläche für das Gemeinwohl – entstanden ist.
Rundherum eine Strand­promenade, ein Zentrumsring, ein ­Parkring mit verschiedenen Stadtclus­tern. Diese urbanistische Idee platziert das Gemeinwohl in die Mitte, nicht etwa Banken, Handelszentren, oder Regierungsämter. Nicht nur in China, sondern auch in Vietnam, Iran oder Afrika ist man an europäischen, urbanistischen Traditionen interessiert.

Zum Schluss blicken Sie mit uns in unsere Zukunft: Was wird sein?

Es wäre traumhaft, wenn unser Europa seine Identität behielte: als Ort unendlich vieler, gewachsener und gereifter, miteinander kommunizierender Kulturen.

Wenn sich unser Europa im globalen Maßstab in diesen konfliktreichen Zeiten des 21. Jahrhunderts etwa die gleiche Funktion bewahren könnte, wie es der Schweiz im Europa des 20. Jahrhundert gelungen ist, hätte es die richtige Position. Europa ist mit seinen unendlichen kulturellen Schätzen ein globaler Brennpunkt: Heute haben die USA etwa acht bis neun Dreispartentheater für tradierte Kultur, also Theater, Tanz, Musik. In Deutschland alleine haben wir ca. 90. Wir schätzen oft nicht, in welchem Paradies wir leben. Und der Staat subventioniert das selbstverständlich! So etwas gibt es auf der ganzen Welt nicht noch einmal. Bei so viel Attraktion habe ich nur Sorge vor zu vielen Touristen. [lacht] Man muss aber keine Angst vor der Einwanderung haben, wenn die besser gelenkt wird, weil wir ein Zuwanderungsland sind. Zuwanderung muss niemanden ängstigen, solange wir unsere Kultur pflegen und erhalten. Unsere Kultur ist das größte Kapital, das wir für die Zukunft haben.

Wie sehen Ihre persönlichen Vorhaben für die Zukunft aus?

Oooch ... Da gibt es viele. Im Moment freue ich mich besonders über einen italienischen Auftraggeber, der mit mir in Rimini eine Messe gebaut hat, die kostengünstigste Messe, die wir jemals gebaut haben, ganz einfach unter weit spannenden Holzgewölben. Eine Architektur als Referenz an den Genius Loci traditioneller italienischer Architektur seit der Antike. Hier baue ich jetzt bereits die vierte Erweiterung – damit übertrifft sie mittlerweile die Leipziger Messe. Und da habe ich den Bauherrn überredet, die letzte große Erweiterung als eine Mehrzweckhalle zu bauen, als klassische Kuppel. Das wird zugleich die größte Kuppel Europas, sie spannt 150 m weit und zwar in Leichtbauweise mittels filigranem Holzrautengewölbe; spottbillig. Es macht mir besonderen Spaß, mit Ingenieuren zusammen zu arbeiten. Und weil Architektur, die in jeder Hinsicht in sich schlüssig ist, selbstverständlich ist und man sie nicht zu erklären braucht. Es ist eine fantastische Herausforderung, etwas ganz Sparsames zu machen, etwas ganz Einfaches, einfach einen weiten Raum für Menschen, für die Raum der schönste Luxus ist.

Was ist Ihr liebstes Gebäude in all den Jahren, das Sie entworfen und gebaut haben?

Ich habe mich immer wieder neu verliebt. In etliche Stadien weltweit, in die neue Messe für Leipzig und jetzt wieder in die Messe für Rimini. Auch da ist es gelungen, Funktion, Konstruktion, eine selbstverständliche Formensprache sowie psychisches Wohlbehagen im Sinne humaner Güte und auch den ortstypischen Genius Loci zu einer Einheit zu verschmelzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte DBZ Chefredakteurin Sandra Greiser am 21. November 2018 im Berliner Büro von Gerkan, Marg und Partner.

Ausschnitte des Interviews finden Sie auf dem DBZ YouTube-Kanal.

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