Marseille 2013. Baustelle Kulturhauptstadt. Wir waren dort
Am alten Hafen, dem „Vieux Port“, präsentiert sich die europäische Kulturhauptstadt 2013 vom Feinsten. Norman Fosters Spiegeldach ist die Attraktion auch als perfekter Sonnenschutz. Mit seinen Reflexionen zieht es die Passanten von allen Seiten magisch an – egal ob der Himmel grau und wolkenverhangen ist oder strahlendblau im Sonnenschein. Im alten Hafen liegen vor allem Sportboote. Die breite neue gepflasterte Promenade lädt zum Flanieren ein, während der Autoverkehr sich durch schmale Trassen quält. Zum Glück gibt es separate Busspuren. Rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr ist das öffentliche Verkehrsnetz perfekt ausgebaut. Zwei hochmoderne Tramlinien und zwei U-Bahnlinien ergänzen das Busnetz. Das ist vielleicht die wichtigste Errungenschaft und lässt davon absehen, dass die großen Kulturbauten auch sechs Monate nach dem Auftakt noch immer nicht ihre Tore geöffnet haben.
Wem der Fußmarsch vom alten Hafen zum Fort St. Jean zu weit ist, der kann sich in den Bus Nr. 60 setzen und zu den beiden „Leuchttürmen“ der Kulturhauptstadt fahren – zur Villa Méditerranée von Stefano Boeri und zum benachbarten Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (MUCEM) von Rudy Ricciotti. Seite an Seite liegen sie am Fuß der Festungsmauern des Fort St. Jean und sollen den Auftakt bilden für das neue Viertel Euroméditerranée. Stefano Boeris Bau beeindruckt mit seiner spektakulären Auskragung. Nach dem Eintritt ins Gebäude führen zwei lange Rolltreppen in das obere Ausstellungsgeschoss. Oben angekommen, wirkt es sehr gedrungen und vollgestellt. Davon können auch die faszinierenden Ausblicke auf die Stadt und den Hafen nicht ablenken. Das Untergeschoss, das sich unter dem Meeresspiegel verbirgt und statisch als Gegengewicht zur oberen Auskragung dient, beherbergt ebenfalls Ausstellungen und ein Auditorium. Innen dunkel gestaltet ist die Atmosphäre des mit Holzlamellen verkleideten Auditoriums angenehm. Das Auditorium kann vom Museum separat über einen Glaszylinder mit einem Aufzug erschlossen werden. Dieser (Neben-)Eingang fällt mehr auf als der eigentliche Haupteingang, der ein wenig verloren in der aufgehenden Museumswand liegt. Man findet ihn vor allem dann, wenn Menschen davor Schlange stehen.
Neben der Villa Méditerranée steht Rudy Ricciottis MUCEM. Es öffnet im Sommer 2013 und präsentiert dann eine Ausstellung, die sich mit Marseille als Tor zum Mittelmeerraum und als Mittler zwischen Europa und Afrika befasst. Im Gegensatz zum weißen Bau Boeris ist das MUCEM geprägt von einer schwarzen Hülle aus Betonfertigteilen mit netzartiger Struktur. Ein ultra-hochfester Spezialbeton macht diese ungewöhnlich filigranen Formen möglich. Ricciottis Clou aber ist die lange, schmale Brücke, die vom Dach seines Museums direkt zur Festung St. Jean führt. Geschickt verbindet er so das historische Altstadtviertel Le Panier mit dem zukünftigen neuen Quartier an der Hafenkante.
Ein Bummel durch die oben gelegene Altstadt führt zum Pavillon M am Place Villeneuve-Bargemon. Der temporäre Pavillon mit der markanten Holzstruktur dient als Empfangsgebäude für die Kulturhauptstadt mit Informationen und Ausstellungen zum Programm. Angesichts seiner fragwürdigen Konstruktion drängt sich dem Betrachter ein „less is more“ auf.
Geradliniger ist da die historische Struktur der Viertel Le Panier und Belsunce im Haussmann-Stil. Der 36 m breite Cours Belsunce wurde einst als Flaniermeile angelegt ebenso wie der Boulevard La Canebière, der beim Vieux Port beginnend die Stadt von West nach Ost durchzieht. Ursprünglich Visitenkarten für die Stadt, waren sie über viele Jahre verkommen. Mittlerweile wandelt sich das Bild, wenngleich auch hier im Jahr der Kulturhauptstadt noch viele Baustellen zu sehen sind. Hinter dem Palais de la Bourse, das sich zur Zeit hinter einem Baugerüst mit „Trompe de l‘oeil-Malerei“ verbirgt, steht das Einkaufszentrum Centre Bourse – ein Betongebirge aus den 1960er Jahren kombiniert mit hohen Wohntürmen. Lange Zeit wohnten hier nur nordafrikanische Einwanderer. Mittlerweile sind viele Wohnungen saniert und das Viertel wandelt sich. Auch die Fassade des Einkaufszentrums ist aufgerissen: Hier erhalten die Galeries Lafayette bis 2014 ein neues Kleid. Im Stadtzentrum laden Plätze wie der Place des Capucines oder der Square Stalingrad zum Verweilen ein. Etwas südlich des Boulevard La Canebière rühmt sich das Viertel am Cours Julien als „kreatives Quartier“. Auf einem kleinen Hochplateau gelegen bietet es mit seinen alternativen Lokalen eine fast dörfliche Atmosphäre.
Die alternative Szene trifft sich auch seit zwanzig Jahre in einer ehemaligen Tabakfabrik – in La Friche Belle de Mai, nordöstlich vom Bahnhof Saint Charles. Das Projekt ist ein Standort der Kulturhaupstadt 2013. Zum Jahresbeginn wurde der ehemalige
Industriekomplex mit Künstlerateliers und Musikstudios um einen 475 m² großen Ausstellungssaal auf dem Dach ergänzt. Als Angebot für Jugendliche gibt es hier einen Street- und Skaterpark entlang der Bahngleise.
Etwas enttäuschend für Architekturreisende in die Kulturhauptstadt ist das städtebauliche Großprojekt Euroméditerranée. Seit 1995 in Planung soll es das Aushängeschild der Stadt werden, ausgehend von Zaha Hadids Büroturm für die Reederei CMA-CGM. Außer dem Turm ist noch nichts von den ambitionierten Plänen einer neuen Skyline am Bassin d’Arenc fertig. Davon kann auch nicht das zum Konzertsaal umgebaute Getreidesilo im Art-Deco-Stil aus dem Jahr 1927 ablenken. Statt einer Tramfahrt in Richtung Euroméditerranée lohnt sich die Busfahrt mit der Linie 60 vom Fort St. Jean bis zur Endstation Notre-Dame-de-la-Garde. Der 162 m hohe Hügel mit dem Wahrzeichen der Stadt bietet grandiose Ausblicke über Marseille. Von hier begreift man erst die Ausmaße der zweitgrößten französischen Metropole. Auch lohnt sich die (Auto-)Fahrt aus dem Stadtzentrum entlang des Boulevard Michelet zur Cité Radieuse, der Unité d’Habitation von Le Corbusier aus den Jahren 1945-1952. Die seit 1986 unter Denkmalschutz gestellte Wohnmaschine beeindruckt nach wie vor – vor allem die öffentlich zugängliche Dachterrasse mit ihren skulpturalen Betonaufbauten und weiteren faszinierenden Aussichten auf die Stadt und das Meer. Die kleine Gasse mit Geschäften, einem Buchladen mit Verlag und dem Res-taurant „Le Ventre de l’Architecte“ („Der Bauch des Architekten“) im 7. Stock zeigen die im Orginal erhaltene Gestaltung. Wer möchte kann auf der gleichen Etage im Hotel „Le Corbusier“ übernachten.
Fazit: Marseille ist im Kommen, die Infrastruktur steht. Man fühlt sich sicher. Warum wichtige Projekte der Kulturhauptstadt nicht rechtzeitig fertig geworden sind bleibt die Frage. Liegt es an der wirtschaftlichen Lage oder am politischen Machtwechsel? Oder daran, dass man nicht nur die Stadt sondern die Region Marseille-Provence zur Kulturhaupststadt ernannt hat? Wer darauf Antworten haben möchte sollte nach Marseille reisen. Aber auch sonst. Susanne Kreykenbohm