Notunterkünfte Liebrechtstraße, Essen
Vor dem Hintergrund enger Kosten- und Zeitvorgaben ist hier eine klare, offene und anspruchsvolle Architektur entstanden, die auf zeitgemäße Weise den besonderen Erfordernissen an die Funktionen der Immobilie wie der Menschen, die sie nutzen, gerecht wird.
DBZ Heftpate Axel Koschany
Es gibt viele Gründe, warum Menschen plötzlich ihre Wohnung verlieren. Kommunen und Hilfsorganisationen bieten ihnen in dieser Situation „Notunterkünfte als Übergangswohnungen zur Verhinderung von Obdachlosigkeit“. Diese sind für eine temporäre, doch notfalls auch längerfristige Unterbringung für Tage, Wochen, gegebenenfalls auch einmal Monate ausgelegt. Mietverträge und damit verbundene Rechte gibt es nicht, doch in der Regel werden die Projekte von Sozialarbeit begleitet, die einen Wiedereinstieg in ein reguläres Wohnverhältnis ermöglichen soll. Im Essener Stadtteil Überruhr, etwa 8 km vom Zentrum entfernt, betreibt die Arbeiterwohlfahrt Essen eine solche Notunterkunft. Drei der sichtlich in die Jahre gekommenen Zeilen wollte die Stadt mit Neubauten gleicher Funktion ersetzen. In Deutschland ist dies ein Novum. Üblicherweise werden einfache Wohnungen im kommunalen Bestand, die sich vielleicht anders nicht vermieten ließen, als Notunterkünfte genutzt. Nun aber schrieb die Stadt Essen trotz Haushaltssperre ein VOF-Verfahren für den Neubau von 100 Übergangswohnungen zur Verhinderung von Obdachlosigkeit aus, in dem das Düsseldorfer Büro RKW Architektur + mit einem ebenso wirtschaftlichen wie menschlichen Entwurf überzeugte. Auch für ein Büro mit einem so umfangreichen Portfolio wie RKW war diese Entwurfsaufgabe Neuland, umso hilfreicher war die Zusammenarbeit mit erfahrenen Sozialarbeitern, damit die Unterkunft mehr bietet als nur ein Dach über dem Kopf. Nacheinander wurden die drei bestehenden Altbauten an der Liebrechtstraße, die, wie sich herausstellte, auch schadstoffbelastet waren, abgetragen und durch die Neubauten ersetzt. Anfang 2018 waren 101 Wohneinheiten für 119 Bewohner innerhalb eines engen Kosten- und Terminrahmens fertiggestellt.
Module und Modelle
Während bei vielen in Modulbauweise erstellten Bauwerken nur eine temporäre Nutzung geplant ist, bei der der Rückbau bereits Teil des Konzepts ist, sind die Essener Notunterkünfte auf dauerhaften Bestand ausgelegt. Prinzipiell hätte die Bauaufgabe es nahegelegt, sich stets gleich oder annähernd gleich wiederholenden Wohneinheiten als einzelne Module in Containerdorfmanier vorgefertigt vor Ort zu montieren. Doch da sowohl der Transport als auch die Vor-Ort-Montage einzelner, zu diesem Zweck entwickelter Wohnwürfel auf dem nur einseitig anfahrbaren Grundstück mit einem zu hohen Aufwand und entsprechend hohen Kosten verbunden gewesen wäre, entschieden sich die Projektleiter Silke Lange und Tobias Bünemann für die Planung einer additiven Struktur mit einem großen Anteil vorgefertigter Betonfertigteile und serieller Fassadenelemente. Die verwendeten Fertigteilelemente für die modulare Bauweise bestanden aus oberflächenfertigen Vollfertigteilen für die Wände, aus oberflächenfertigen Halbfertigteilen/Filigranplatten für die Decken und oberflächenfertigen Vollfertigteilen für die Laubengänge und Attikaüberstände. Durch überlange Fertigteile für die Laubengänge und Dachüberstände konnte die Anzahl von Stützen und Fugen minimiert werden.
Der Einbau dieser 7,50 m langen und bis zu 3,50 m breiten Elemente stellte eine logistische Herausforderung für die ausführende Firma bei Transport und Einbau dar. Die von den Architekten entwickelten Wohneinheiten können in beliebiger Zahl aneinandergefügt und sogar an einen Geländeverlauf angepasst werden, so dass der Entwurf grundsätzlich reproduzierbar ist. Als erster Neubau einer Notunterkunft in Deutschland ist er auch grundsätzlich als Modellprojekt zu verstehen.
Innen nach Außen
Die Architekten planten die Notunterkunft als offene, einsehbare und mit Grünflächen gegliederte Struktur, der sie zudem über die Materialität ein freundliches Gesicht gaben. Jede der drei Zeilen besteht aus zweimal zehn Einheiten in jeweils zwei Geschossen. Eine Wärmepumpe, Mülltonnen sowie eine Briefkastenanlage liegen zentral am Kopf jeder Reihe. Die einseitig orientierten Wohnungen stehen Rücken an Rücken, verschränkt über die in der Mittelachse des Baukörpers liegenden Badezimmer. Ein Fußweg, der direkt an der Fassade entlanggeführt wird, erschließt die Erdgeschosswohnungen, in der ersten Etage wiederholt ein umlaufender Laubengang/Balkon diese Situation. „Wir drehen alles auf links“, beschreibt Tobias Bünemann die Idee, mit der die Erschließung nach außen gelegt und die Häuser geöffnet werden. Ein kompletter Rückzug wird den Bewohnern dadurch erschwert, Begegnungen, die ein nachbarschaftliches Nebeneinander anstoßen, sind dagegen wahrscheinlich. Denn die Bewohner der Notunterkünfte sollen den Bezug nach außen finden und nicht im Verborgenen leben. Dies genau ist der Punkt, über den die Architektur die Reintegration in die Gesellschaft unterstützen kann.
Hülle und Ansicht
Während die Verwendung von Wohnmodulen aus oben genannten Gründen hier nicht zweckmäßig gewesen wäre, ermöglichten der Einsatz von Betonfertigteilen und vorgefertigten Fenster-Tür-Elementen, die sich in gleicher Weise, im gleichen Maß wiederholen, eine kostengünstige und zügige Realisierung. Alle Betonbauteile wurden, wie die verzinkten Brüstungen, Geländer, Stützen und Treppenelemente, oberflächenfertig auf die Baustelle geliefert. Leerrohre in den Fertigteilen erleichterten die spätere Installation. Sichtbar bleibt die Betonoberfläche in den außenliegenden Erschließungsbereichen, den Laubengängen sowie den Abgängen in den Keller. Den energetischen Vorgaben entsprechend wurden die Außenwände mit einem Wärmedämm-Verbundsystem versehen. Das hätte auch ganz anders aussehen können. „Mit der türkisblauen Farbgebung für die Fassaden (Klinkerriemchen) wollten wir frischen Wind in das Quartier und das Image der Unterkünfte bringen,“ so Silke Lange. Und neben den ästhetischen Qualitäten bietet diese Haut im Vergleich zu Putzflächen neben höherer Stoß-und Schlagbeständigkeit auch eine einfache Reinigung und somit auf längere Sicht niedrigere Kosten im Unterhalt.
Flexibilität im Raster
Innerhalb des durchgängigen Rasters mit einem Achsmaß von 3,75 m blieb den Architekten genügend Flexibilität, drei der Einraumwohnungen barrierefrei zu planen, zwei zu Dreiraumwohnungen zu koppeln und vier zu Zweiraumwohnungen. Am Kopf der ersten Zeile liegt
ein Büro für Sozialarbeiter und Unterkunftsverwalter.
Ohne interne Verkehrsflächen sind die Wohneinheiten aus Bauherrensicht extrem flächeneffizient geplant, für die Nutzer sehr klar strukturiert: Ein Raum, ein Bad. Keine Nischen, keine Verstecke, Übersichtlichkeit und Offenheit beim Wohnen sind gewünscht und erleichtern das Leben. Die Möbel, sowie die Ausstattung vom Bettzeug bis zum Teller stellt der Betreiber, eigener Besitz wird in Kellerräumen verstaut. Dort befinden sich auch Räume für Fahrräder sowie für die gemeinsam genutzten Waschmaschinen und Trockner. Was vergleichsweise als hoher Standard erscheint, wie zum Beispiel die Fußbodenheizungen, brachte neben der Flächeneffizienz auch den Vorteil mit, die Wohnungen ohne Heizkörper flexibler zu möblieren und damit auf die Bedürfnisse der Nutzer eingehen zu können. Das auf die Fassade abgestimmte Blau der Linoleumböden brachte keine Mehrkosten mit sich, gibt den Räumen jedoch eine deutlich freundlichere Ausstrahlung als das übliche Grau. Gleiches gilt für die bodentiefen Fenster. Man darf sich hier auch als Architekt keiner Illusion hingeben, denn die Bewohner, die sich in ganz unterschiedlichen Notlagen befinden, können ihre Probleme und Gewohnheiten nicht an der Türschwelle ablegen. So kommt es vor, dass eine Einheit nach dem Auszug eines Bewohners nicht nur gestrichen, sondern samt Mobiliar vollständig saniert werden muss – auch einen Brand hat es in den vergangenen Monaten schon gegeben. Beim Bauen mit einem extrem schmalen Budget sind Kompromisse unvermeidbar: Kunststofffenster mit Holzoptik. In der heilen Architektenwelt, in der eine Oberfläche nur gut ist, wenn sie ehrlich ist, ist das ein absolutes No-Go – genau wie die Klinkerriemchen und WDVS überhaupt. Hier jedoch können die Architekten gut damit leben, weil ihnen die Kostenersparnis an dieser Stelle etwas mehr Großzügigkeit an anderer Stelle erlaubt hat und weil es bei Funktionalität und Haltbarkeit keine Kompromisse geben durfte. Gerade deshalb haben RKW Architektur + mit diesem Projekt bewiesen, dass Gestaltung immer möglich und nie vergebens ist.
Uta Winterhager, Bonn
Baudaten
Standort: Essen
Typologie: Wohnen
Bauherr und Nutzer: Stadt Essen
Architekt: RKW Architektur +, Düsseldorf, www.rkw.plus
Mitarbeiter: Silke Lange, Tobias Bünemann, Thomas Zimmer, Anne van Loh
Bauleitung: REICHEL Ingenieurgesellschaft für Projektmanagement mbH, Erkrath/Düsseldorf, www.reichel-pm.de
Bauzeit: Oktober 2013 – Februar 2018 (abschnittsweise Realisierung)
TGA-Planer: Blasczok Ingenieure, Düsseldorf, www.blasczok-ingenieure.de
Landschaftsarchitekt: Raitz von Frentz und Tilosen, Krefeld-Linn, www.landschaftsplanungen.de
Brandschutzplaner: BSCON Brandschutzconsult GmbH, Essen, www.bscon.info Bauphysik: Ingenieurbüro Santer Bauphsik, Duisburg
Projektdaten
Grundflächenzahl: 0,378 Geschossflächenzahl: 0,646
Nutzfläche gesamt: 3 600 m²
Nutzfläche: 2 747 m²
Technikfläche: 182 m²
Verkehrsfläche: 673 m²
Brutto-Grundfläche: 4 210 m²
Brutto-Rauminhalt: 11 942 m³
Baukosten (nach DIN 276)
KG 300 (brutto): 4,33 Mio. €
KG 400 (brutto): 2,17 Mio. €
KG 500 (brutto): 229 000 €
Gesamt brutto €: 6,73 Mio. €
Hauptnutzfläche: 2 448 €/m²
Brutto-Rauminhalt: 563 €/m³
Energiebedarf
Endenergiebedarf:⇥29,9 kWh/m²a nach EnEV Jahresheizwärmebedarf: ⇥16,5 kWh/m²a nach EnEV
Haustechnik
Fensterlüftung (Öffnungsflügel mit zusätzlichem Außenluftdurchlass)
bedarfsgeführte Abluft (zentrale Anlagentechnik)
Fußbodenheizung
Fliesen (Fassade): ABC-Klinkergruppe,
www.abc-klinker.de
Fenster: Trocal, www.trocal.com
Böden: Forbo Flooring Systems Deutschland,
www.forbo.com
Fliesen Sanitär: Villeroy & Boch AG,