Solaraktive Hülle
Haus Bingel, Freiburg

In Freiburg wurde eine Doppelhaushälfte aus den 1950-er Jahren von Prof. Günter Pfeifer durch einen Anbau ergänzt, der mit seiner transluzenten Luftkollektorfassade Energie gewinnt und jetzt beide Hausteile mit Energie versorgt.

Der Bauaufgabe war eine ziemlich alltägliche, die Lösung des Architekten dagegen ist eher ungewöhnlich: Das alte Haus der Bauherrenfamilie, eine Doppelhaushälfte aus den 1950er-Jahren mit den energetischen Standards dieser Zeit, sollte umgebaut und saniert werden. Dafür stellte ihm Architekt Günter Pfeifer einen Anbau zur Seite, der nun beide Gebäudeteile mit Energie versorgt. Die Gestaltung der Fassade ist dem energetischen System geschuldet, das zur Energiegewinnung dient: ein Luftheizungs-system. Dahinter verbirgt sich die Idee des Luftkollektors, der im Prinzip wie ein Solarkollektor funktioniert, nur dass beim Sammeln der solaren Energie Luft statt Wasser als Wärmeträger verwendet wird.

In dem Freiburger Stadtteil Waldsee, fast schon im Schwarzwald gelegen und von der Sonne verwöhnt, prägen die langgestreckten und von Walmdächern bedeckten Doppelhäuser das Siedlungsbild. Pfeifer gab dem Anbau daher eine eigenständige Form, stellte ihn quer zu dem Bestandsgebäude und verband beide mit einem Zwischendach, das sich ebenso wie der Neubau durch seine Hülle aus Polycarbonatplatten von der Nachbarbebauung deutlich abhebt. Die Grundrisse für das von drei Genera-tionen einer Familie genutzte Ensemble sehen zwei getrennte Wohnungen vor, die sich über Alt- und Neubau

erstrecken. Die Wohnung der Großeltern liegt im Erdge-

schoss, die der jüngeren Familienmitglieder im Ober- und Dachgeschoss. Die Grundrissplanung lässt die Möglichkeit einer weiteren Teilung offen. In der Fuge zwischen Alt und Neu ist eine neue Treppenanlage als vertikale Ver-

bindung positioniert, die sich zum Garten hin in einen Annex öffnet und jeder Wohneinheit einen eigenen, voneinander unabhängigen Zugang in den gemeinsamen Garten ermöglicht. Als Ausgleich für die Terrasse der Erdgeschosswohnung verfügt die zweite Wohnung über eine geräumige und nach drei Seiten hin geöffnete Dachloggia.

Architekt Günter Pfeifer ist Professor an der TU Darmstadt im Fachbereich Architektur und entwickelt im Rahmen seiner Forschung nachhaltige und energieeffiziente Gebäude. Mit der Architektur seiner experimentellen Bauprojekte setzt er ebenso experimentelle Energiekonzepte in gebaute Umwelt um, verwendet Speichermassen, wo andere dämmen und nutzt Wärmegewinne, wo andere Wärmeverluste vermeiden. Pfeifer baut Kreislaufsysteme und vernetzt in seinen Gebäuden Raum, Konstruktion, Material und Energie. Er nennt dies die Kybernetische Strategie der Architektur und meint

damit das Wirkungsgefüge der Ressourcen, die in einem Bau zusammentreffen. Die am Institut Fondation Kybernetik in Darmstadt bis zur Simulationsberechnung weiterentwickelte Strategie setzt beim klimagerechten Bauen auf das Gewinnen von Energie, statt auf die Minimierung von Energieverlusten.

Beim Luftkollektorsystem erfolgt die Energiegewinnung im Luft-

zwischenraum einer transluzenten Fassadenhülle und einer wärmespeichernden Außenwand. Dafür wurden in dem Mehrgenerationenhaus Polycarbonatplatten mit einem U-Wert von 1,1 W/m²K auf einer doppelten, hölzernen Lattung vor den 24 cm starken Speicherwänden aus Porenbeton montiert, so dass sich ein Luftzwischenraum von 8 cm ergibt. Die Mauerwerkswände sind nach außen sichtbar und prägen mit der Verglasung des Luftkollektors das architektonische Erscheinungsbild. Für die Dachkonstruktion wurde das gleiche System verwendet. Die Zweischaligkeit wurde hier allerdings mittels einer

inneren und äußeren Schicht Polycarbonatplatten auf einer Dachkonstruktion aus Stahl mit inneren und äußeren Holzpfetten hergestellt. In den hier 28 cm breiten Luftzwischenraum im Dach sind bewegliche

Jalousien integriert, die als Sonnenschutz zur Vermeidung von Überwärmung dienen. Wetter- und temperaturgesteuerte Lüftungsklappen ergänzen diese Schutzmaßnahmen. Bei Sonneneinstrahlung können sich in dem Luftzwischenraum erhebliche Temperaturen entwickeln: Bei ähnlichen Projekten wurden im Monitoring Werte von 40 bis 50 °C nachgewiesen, sogar im Winter und obwohl die Außentemperaturen

Minuswerte aufwiesen (-15 °C). Selbst bei trübem Wetter sind Werte von 25 bis 35 °C messbar, Werte unter 20 °C werden im Luftkollektor selten erreicht.

Das umlaufende Warmluftpolster sorgt rings um das Haus für eine gleichmäßige Grundtemperatur. Diese überträgt sich auf das Mauerwerk, das als Speichermedium dient. Die im Luftkollektor gesammelte warme Luft wird in einer Lüftungsanlage mit Frischluft angereichert und in das Gebäude eingeleitet. Dazu ist ein System von Zu-

luftleitungen mit Tellerventilen verbunden, die jeden Raum im Haus einzeln mit Frischluft versorgen. Im Altbau konnte dafür ein ehemaliger Heizungsschacht genutzt werden, im Anbau wurde ein neuer Schacht gebaut. Die Abluft wird in den Bädern der Wohnungen gesammelt und in die Fassade zurückgeblasen. Dort verbinden sich in dem Luftpolster neue solare Wärmegewinne und die Prozesswärme aus der Abluft, sie steigen gemeinsam zum Dachfirst auf, wo sie in die Wärmegewinnung „entsorgt“ werden und erneut zur Temperierung der Zuluft dienen. Die Zuluftventile sind mit einer automati-schen Steuerung ausgestattet, die die Temperaturen der Solareinträge managt und dafür sorgt, dass bei schlechtem Wetter ohne Solar-

gewinne die Heizanlage zugeschaltet wird.

Das Energiekonzept für Haus Bingel beruht auf dem Kreislaufprinzip: Der Neubau produziert mit seinem Luftkollektorkleid Energie, die via Wärmerückgewinnung für die Aufheizung der Zuluft für die Räume des alten und neuen Hauses genutzt wird. Durch Wärmeverluste (z. B. Fensterlüftung) gemindert gelangt die Energie als Prozesswärme wieder in das System zurück. So können die gewonnenen Energien des Solareintrags auf die Außenwand und die Prozessenergien aus dem Haus mittels Wärmerückgewinnung immer wieder neu genutzt werden.

Der Heizenergiebedarf für das Mehrgenerationenhaus lag nach der Simulation bei 34 kWh/m2a für das gesamte Haus einschließlich Altbau und somit ca. 50 % unter dem geforderten Wert der EnEV 2009 für Neubauten. Der Primärenergiebedarf liegt bei ca. 60 kWh/m2a. Die Angaben für den Heizwärmebedarf und den Primärenergiebedarf wurden mittels thermodynamischer Simulation berechnet und konnten daher für die Berechnungen gemäß EnEV in Ansatz gebracht werden. Die Ergebnisse werden im Verlauf der Nutzung des Hauses nachgemessen und die Technik entsprechend nachjustiert. IS

Mehr Informationen zum Kybernetischen Prinzip: DBZ.de Webcode DBZT32GJ oder www.architekturclips.de/kybernetisches-prinzip

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