Anforderungen als Anreiz und nicht als Hindernis verstehen

Bob Gysin, Architekt SIA BSA
zum Thema „Nachhaltiges Bauen“

Die Anforderungen an die Architektur sind in den letzten Jahren gestiegen, die eigentlichen Ziele aber sind geblieben: die Verbindung von guter Architektur mit sozialem Engagement, von Architektur und Ethik. Doch der Weg zu diesen Zielen hat sich verändert. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse und die Umweltbelastung erfordern neue Denkansätze und interdisziplinäres Arbeiten.

Die Präsenz in der Öffentlichkeit zeigt, dass die Notwendigkeit
von nachhaltigem Denken und Handeln mittlerweile unbestritten ist. Die Bereitschaft, aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen, wächst und ist auch in der Architektur ein zentraler Aspekt. Doch die Möglichkeit, bei der Gestaltung unserer Lebensrealität und -qualität auf vielfache Weise mitzuwirken und diese zum Positiven zu verändern, fordert ein Höchstmaß an Verantwortung. Ansonsten wird Architektur zum selbstreferentiellen Diskurs und nicht zu einer Auseinandersetzung mit den zentralen Fragestellungen und Problemen unserer Zeit.

Die Behauptung, dass Architektur grundsätzlich nachhaltig sei, ist in Frage zu stellen. In der Theorie mag das stimmen, aber in der Praxis gibt es genug Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Um gute, nachhaltige Architektur zu machen, braucht es einerseits eine Grundhaltung, die den Fokus nicht nur auf das momentane und eigene Wohlergehen, sondern auch auf den mittel- und unmittelbaren Einfluss auf unsere Umgebung legt. Und andererseits braucht es etwas mehr Anstrengung, um die verschiedenen Ansprüche unter einen Hut zu bringen. Auch weil die architektonische Gestalt nicht als Bild am Anfang des Prozesses feststeht, sondern sich als Ergebnis eines integrativen Entwurfs- und Analyseprozesses herausbildet.

Das Koordinieren all dieser Faktoren machen Entwerfen und Konstruieren zu einem noch spannenderen Prozess. In Gegenwart der hohen Komplexität von Bauaufgaben und einer großen Anzahl an sich überschneidenden Fach- und Wissensgebieten, ist eine Verschiebung von der Einzelleistung hin zur Gesamtleistung wahrnehmbar.

Aber nicht nur die Entwurfs- und Planungsprozesse von Architektur, sondern ebenso die Wertvorstellungen unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft gilt es zu beleuchten. Entgegen der propagierten Annahme, dass unsere Lebensqualität proportional zum Verbrauch wächst, sind wir überzeugt, dass ein umsichtiger Lebensstil und hohe Lebensqualität sich nicht gegenseitig ausschließen. Intelligent gestaltete Architektur, die auch spätere Veränderungen und Anpassungen zulässt, kann nicht nur die Nutzungsdauer eines Gebäudes bis zu einer notwendigen Kernsanierung oder einem Ersatzneubau um ein Vielfaches verlängern, sondern auch viel Qualität bei geringerem Flächenverbrauch bieten.

Bei diesem Dschungel von Forderungen ist die Gefahr groß, dass sich Architektur darin verliert, dass sie technischen Möglichkeiten den Vorrang gibt und das Gebäude nicht mehr als Organismus versteht bzw. seine Zusammenhänge nicht mehr sieht. In unserer „technikgläubigen“ und umsatzorientierten Gesellschaft herrscht die Tendenz, Probleme zu isolieren und sie maschinell lösen zu wollen. Doch damit kommende Generationen unser Gebautes erhalten wollen, braucht es mehr als eine ausgeklügelte Technik. Es geht um Kernqualitäten der Architektur und um kulturelle Ansätze.

Die gewinnbringendste Art, wie wir Architektinnen und Architekten mit der Vielzahl neuer Anforderungen umgehen können, ist, sie als Anreiz und nicht als Hindernis zu verstehen und sie als „Motor“ einzusetzen. Wenn wir zusätzlich den Dialog und das vernetzte Denken von Architektur, Kultur und Nachhaltigkeit praktizieren, gelingen überraschende und überzeugende Ergebnisse.

Der Architekt

Bob Gysin ist Gründer des Architekturbüros Bob Gysin + Partner BGP Architekten in Zürich. Als Präsident des Verwaltungsrats des 45-köpfigen Büros ist er im Architekturdiskurs ebenso wie in Strategie-Entwicklungen zur Nachhaltigkeit involviert. Das Architekturbüro steht seit der Gründung für zukunftsgerichtete Architektur und zählt in der europäischen Architekturszene zu den Pionieren im nachhaltigen Bauen. Nebst Vorträgen, Jury- und Expertentätigkeiten und dem Energiesalon dokumentieren Publikationen zum Thema Nachhaltigkeit, Architektur und Kunst – u. a. Nachhaltig Denken in Architektur und Kunst, Hatje Cantz Verlag – den Anspruch, gesellschaftliches Engagement und kulturelle Relevanz miteinander zu verbinden.

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