Unter dem Putz liegt die Revolution
Monolithische Bauweise für den Mehrgeschossbau

Mehrgeschoss-Mietwohnungsbau im Passiv­-haus-Standard funktioniert hierzulande meist mit gigantisch dicken Dämmschichten. In einem Frankfurter Stadtteil versuchten Archi­­-
tekten und Ingenieure einen anderen Weg
zu gehen: Dort vereinigt ein neu entwickelter Planziegel tragende und dämmende Funktion.


Betrachtet man die Entwicklung von ökologisch inspirierten Gebäuden, lassen sich zwei Idealtypen heraus destillieren: Legen die Planer ihren Schwerpunkt auf die Maximierung des solaren Eintrags, so vergrößern sie die Gebäudehülle. Man erinnert sich beispielsweise an Thomas Herzogs spektakuläres Wohn­haus in Regensburg mit seiner lang
gestreckten, extrem flach geneigten Südfassade. Liegt die Priorität hingegen darauf,
den Transmissionswärmeverlust zu verringern, so trachten Architekten und Ingenieure, ein möglichst kompaktes Volumen mit minimierter Hülle zu bauen. Die Gebäude sehen aber recht konventionell aus, so als wollte man die Akzeptanz solcher letztlich immer noch im Experimentalstadium befindlichen Bauweisen nicht durch allzu gewagte Formen erschweren. Das erste Passivhaus Deutschlands, eine Anlage von vier Reihenhäusern in Darmstadt-Kranichstein, 1991 fertig gestellt nach Plänen der Architekten Bott, Ridder, Wes­termeyer, kommt ebenso im herkömmlichen Gewande daher wie die 1992 errichtete erste Niedrigenergiesiedlung der Republik in Niedernhausen bei Wiesbaden. Dessen unge­achtet hat sich einige Kilometer weiter und gut 15 Jahre später die Stadt Frankfurt a. M. gleichsam zur Passivhauptstadt Deutschlands gekürt. Die Abgeordneten im Römer entschie­den, künftig alle öffentlichen Gebäude im Passivhaus-Standard zu bauen. Und das betrifft nicht nur hoch wärmegedämmte Amts­stuben, sondern auch Kindergärten, Turnhallen und Jugendhäuser. Sogar die im städtischen Eigentum befindliche ABG Holding, Herrin von über 50 000 Wohnungen und 35 000 weiteren Mieteinheiten, bleibt von diesem Beschluss nicht ausgeschlossen. Sie gilt inzwischen als ein Vorreiter der Passiv­hausbauweise.

In Kalbach wurde eine Wohnanlage wurde im Auftrag der ABG-Tochter FAAG in diesem Standard realisiert. Für das Dorf, das die Stadt 1972 eingemeindet hatte und das so zur Vorstadt geworden ist, legte der Bebauungsplan traditionelle Gestaltungsmerkmale fest: Das Satteldach war ebenso Bestandteil des B-Plans wie die rote Dacheindeckung, aneinander gereihte, getrennte Gauben oder die auf drei Seiten begrünte Fassade. Es gelang den Architekten Brigitte und Ernst-Ulrich Scheffler und ihren Team einige Befreiungen – etwa eine durchgehende Dachterrasse oder Spaliere für Obstbepflanzung – durchzusetzen, mit anderen Wünschen bissen sie bei den Behörden auf Granit. Insgesamt wirken diese fünf, zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Geschoss hohen Häuser mit ihren 50 Wohnungen wie ein althergebrachtes Weiterbauen am Dorfrand. Ein Stück Gebrauchs­architektur mit fünf, einen begrünten Hof mit Spielplatz umschließenden Häusern, unauffällig, orientiert allein am Wohnwert für die künftigen Mieter unter Berücksichtigung der Erstellungskosten. Freilich, das ist nicht alles. Zwar ist unbekannt, ob vielleicht in Kalbach unter dem Pflaster der Strand liegt, doch bei dieser Wohnanlage verbirgt sich hinter der dezenten Putzhaut eine kleine bautechnische Revolution. Ein höchst ambitioniertes, bislang einmaliges Experiment in Deutschland, das den beteiligten Architekten wie Ingenieuren – Bollinger + Grohmann übernahmen die Tragwerksplanung und die bauphysikalische Beratung, die gebäudetechnische Planung kam aus dem Büro Baumgartner - in enger Kooperation nicht nur viel Fleißarbeit, sondern vor allem Erfindungsgeist beim Entwickeln von Großform und Details abverlangte.

Ausgangpunkt war der Wunsch von Scheffler + Partner, den geforderten Standard nicht mit der gängigen additiven Bauweise zu erreichen. Nicht die 17,5 cm Kalksandstein und dann 40 oder gar 50 cm Dämmung – wie sie inzwischen in der Republik üblich geworden sind, sondern ein integriertes Verfahren, das gleichzeitig tragende, wärme-, brand- und schallschützende Funktion in sich vereint. Also einschalig, monolithisch oder – in Anlehnung an Charles Jenks, der von einer semantischen Doppelcodierung als Kennzeichen der postmodernen Architektur sprach - eine technische Multicodierung eines Bauteils.

Beim Hersteller Unipor mit seinem neuentwickelten Planziegel Coriso fand man den geeigneten Baustoff, aus dem solche ressourcensparenden Träume sind: ein Leicht­hochlochziegel mit einer feinen, ja fast fragil wirkenden Kammerstruktur, wobei die Kammern mit Basaltwolle gefüllt sind. Der U-Wert beträgt 0,137 W/m2K. Laut Hersteller ist der Stein „ein vollständig unbelasteter und ökologischer Naturstoff“. Bisher wurde der Ziegel nur im Einfamilienhausbau verwendet, im Geschosswohnungsbau fand er noch keine Anwendung. Diese Lücke schließt nun die Wohnanlage in Kalbach, wobei, so die Forschungen von Lamia Messari-Becker, Projektleiterin bei Bollinger + Grohmann, das Mauerwerk aus dem Planziegel nicht nur öko-

logisch, sondern auch ökonomisch äußerst effizient ist. Bei ihrer Berechnung der Lebenszykluskosten schnitt die monolithische Bauweise gegenüber Stahlbetonwänden mit Wärmedämmverbundsystem bei vergleichbarem U-Wert fast um die Hälfte besser ab.

Gebaut wurde trotz Gebäudehöhen von 12 bis 14,6 m ganz einfach. Außenwände einschalig mit einer Dicke von 49 cm, Innenwände bei Treppenhäusern und Aufzügen aus Stahlbeton (bei den Fahrstühlen wegen des Schallschutzes doppelwandig ausgeführt), in den Wohnungen die tragenden Innenwände aus Mauerwerk, die nicht tragenden aus Gipskarton. Die Decken wurden zweifach gespannt und schlaff bewehrt. Bei den Planziegeln mit ihrer geschliffenen Oberfläche verwendet man für die Lagerfugen einen dünn aufzutragenden Spezialmörtel, wodurch sich – die Stoßfugen sind ohnehin verzahnt - die Wärmedämmung verbessern lässt. Allerdings lässt der Ziegel nur einen beschränkten Anteil von Wandöffnungen zu, die Lasten würden bei den verbliebenen geschlossenen Flächen ansonsten zu groß. Das legt eine exakte Planung nahe. Thermische Ungenauigkeiten bzw. die alltäglichen Bautoleranzen lassen sich hier mit einem Mehr an Dämmschicht nicht mehr ausgleichen. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, die verschiedenen Anforderungen – familien- und seniorengerechter Geschossmietwohnungsbau, barrierefreie Zugänge, Balkone, Terrassen, Satteldach, Tiefgarage, Vollunterkellerung – mit der Passivhausbauweise und dem Baumaterial wärmebrückenfrei zu verbinden.
Das ideale Passivhaus ist von der Außenwelt thermisch vollisoliert. Die gänzlich optimierte wärmebrückenfreie Konstruktion, welche die wärmeabgebende Hülle ununterbrochen dämmt, verstößt gegen das Vermummungsverbot: sie kennt weder Fenster, noch Türen, weder Vor-, noch Rücksprünge – und geneigte Dächer mit Gauben schon gleich gar nicht. Jeder Übergang von Warm zu Kalt und umgekehrt bedeutet eine Unterbrechung und damit eine entsprechend größere Anforderung an die Planung, solche Schwächungen der Gebäudehülle auszugleichen.

Um den Passivhaus-Standard zu erreichen, mussten allein 60 konstruktive Details mit Hilfe der Finite-Elemente-Methode thermisch simuliert und der gegebenenfalls erhöhte Transmissionswärmeverlust ermittelt werden. Die thermische Simulation gab dar­über hinaus auch Aufschluss über die zielgerechte Entwicklung von Details. Bei den Fensteranschlägen etwa wurde mit U-förmigen, eine Dämmschicht umschließenden Anschlag­steinen nach einer neuen Lösung gesucht und dann thermisch überprüft. Dass bei diesem Projekt Tragwerksplanung und Bauphysik in einer Hand lagen, bewährte sich. Entscheidungen, die das Tragwerk betreffen, haben vielfach energetische Auswirkungen. Und die Tragwerksingenieure von Bollinger + Grohmann waren bereits bei dem erwähnten ersten Passivhaus wie bei der ersten Niedrigenergiesiedlung Deutschlands Projektbeteiligte. Wobei, wie man bei Bollinger + Grohmann gerne einräumt, ein Lernprozess zu bewältigen war: von monolithischen Verbindungen, wie sie die Tragwerksplaner lieben, zu thermisch getrennten Konstruktionen, wie sie der Passivhaus-Standard fordert, war es ein arbeitsreicher Weg.

Erläutert sei das am Pfettendach in Kalbach: Ein Satteldach mit Gauben in Holzkonstruktion ist keine große Sache. Erst mit der geforderten Wärmebrücken-Freiheit wird die Sache diffizil. Denn dann kann an die Mittel­pfette nicht direkt angeschlossen werden, sonst ergäbe es eine Wärmebrücke. Bollinger + Grohmann entwickelte deshalb eine Konstruktion mit einem zusätzlichen, dreieckigen Kantholz, das die Neigung der Sparren (Doppel-T-Profile aus Kerto-Holz) aufnimmt, und einer zusätzlichen Dämmschicht von 10 cm, um den direkten Übergang vom Warm- in den Kaltbereich zu verhindern.

Das vom Bauherr auferlegte Raumprogramm führte zu einigen Entscheidungen mit erheblichen energetischen Auswirkungen: Wegen der Anforderung nach Barrierefreiheit und der Erschließung über die Tiefgarage, die sich U-förmig vor allem unter dem Hof befindet, aber auch drei direkte und zwei indirekte Zugänge zu den Häusern hat, mussten die Treppenhäuser und die Aufzüge bis ins Untergeschoss und zwar innerhalb der gedämmten Gebäudehülle geführt werden. Außerhalb dagegen sollten die Hauskeller liegen. Die Konstruktion ist vielfältig: An den Außenwänden ist deshalb der Übergang vom Erd- ins Kellergeschoss perforiert – in Stützen und Bereiche mit Dämmung aufgelöst. Wobei man, erinnert sich schmunzelnd Architektin Brigitte Scheffler, mit den Tragwerksplanern „um jedes Stützchen feilschen“ musste. Waren es also beim Übergang von Ziegel- zu Stahlbetonwänden die Stützen, waren es bei den gemauerten Innenwänden Kimmsteine, die zur geforderten thermischen Entkopplung verwendet wurden. Dagegen wurden die Treppenhaus- und die Aufzugswände nicht aufgelöst, sie gehen durch bis zu der mit einer Dämmung unterfütterten Bodenplatte und werden seitlich gedämmt.

Dass die vorgesetzten Stahlbalkone thermisch getrennt wurden, versteht sich beim Passivhaus-Standard von selbst, bei der Brüstung der Dachterrasse wurden Iso-Körbe verwendet. Beheizt werden alle als Zwei- oder Dreispänner organisierten Wohnungen durch eine kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung. Die Raumtemperatur ist individuell regelbar, in der Nähe der Fenster ist pro Raum ein zusätzlicher kleiner Konvektor angebracht. Die Abluft wird über Küchen, Bäder, WC und Nebenräume abgesaugt, wobei als besonderes Bonbon für die Mieter ein Trockenschrank in den Bädern eingebaut wurde, der über die Abluftanlage funktioniert. Eine solarthermische Anlage auf dem Satteldach erwärmt das Brauchwasser. Die realisierten Komponenten übertreffen insgesamt weit die Passivhaus-Vorgaben in Bezug auf die energetische Qualität der Gebäudehülle und Gebäudetechnik. Die Maßnahmen zur thermischen Trennung waren umfassend und zahlreich. Diese waren allerdings nicht auf die monolithische Bauweise zurückzuführen, sondern viel mehr auf die konstruktiven und raumprogrammtechnischen Vorgaben wie etwa beheizte Treppenhäuser oder die Übergänge in die Tiefgarage. Mit den in Kalbach und in anderen Frankfurter Wohnungsbauprojekten im Passivhaus-Standard gewonnenen Erfahrungen soll nun eben dieser de facto für Reihenhäuser definierte Standard überarbeitet werden.

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