Vierhunderttausend

Deutschland ist gebaut. Dachte man. Wenn aber die Politik von 400 000 neuen Wohnungen jährlich spricht, dieses Volumen als Ziel gar ausgibt, dann scheint etwas nicht zu stimmen. Hier ein Versuch, einmal anders auf die Zahl zu schauen.

Wieviel Material braucht man, um eine Wohnung zu bauen? Wieviel Energie, um das Material zu gewinnen, es zu einem Halbzeug zu machen, zu transportieren und auf einer Baustelle zu bewegen? Und mit welchem Anteil fossiler Energie wird hier gearbeitet? Geht man von einer durchschnittlich 70 m² großen Wohnung aus, würde man jährlich – folgte man den Mantras der alten und – Überraschung! – der neuen Regierung – 28,5 Mio. m² Wohnfläche schaffen. Das sind 2 850 ha, eine Fläche, mehr als doppel so viel wie der beschauliche Ort Bad Soden am Taunus. Oder, in Fußballfeldern … besser, in Shopping Malls: 136-mal die Bruttofläche der Mall of Berlin neue Wohnfläche pro Jahr. Umgerechnet in Beton kommt man bei einer durchschnittlichen Geschossanzahl von 3 auf etwa 12 Mio. m³ (nur Boden und Decke!), bei 55,25 Mio. m³ Transportbeton jährlich (2020). Dazu kommen die Außen- und Innenwände, Fassaden- und Wand-/Bodenaufbauten, Metalle, Kunststoffe, Glas und Holz. Pro Jahr.

400 000 neue Wohnungen will man bauen. In den letzten Jahren wurde dieses Ziel, das 2015/2016 plötzlich im Raum stand, nicht erreicht. Im Jahr 2020 wurden rund 306 000 Wohnungen fertiggestellt; immerhin eine Steigerung, bezogen auf die Vorjahre. 2015 hatte die damalige Kanzlerin mit ihrem „Wir schaffen das“ den Fokus der Politik wie auch den einer vielstimmigen gesellschaftlichen Diskussion auf die Zuwanderung gelenkt, die Rede war von Hunderttausenden ZuzüglerInnen, die untergebracht werden sollten. Auch, weil man sie brauchte (und heute noch braucht), um den Wachstumszielen – ebenfalls mittlerweile grüne Politik – dafür Arbeitende zur Verfügung zu stellen.

Bevölkerungszahl schrumpft langfristig

Nun ist Deutschland, was die Bevölkerungszahlen angeht, in den letzten Jahren eher geschrumpft und Prognosen bis 2040 gehen von weiteren leichten Schrumpfungen aus. Wieso dann weiter festhalten am Neubauziel 400 000? Weil Wohnungen fehlen, ganz einfach. Wirklich so einfach? Schaut man auf die offiziellen Zahlen, sieht das Problem mangelnden Wohnraums anders aus. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung BBSR standen 2017 bundesweit rund 2,14 Mio. Wohnungen leer – das entspricht 5,2 % aller Wohnungen. 2016 waren es noch 1,98 Mio. Diese Leerstandsquote hat in den Ballungszentren allerdings eine deutlich geringere Dramatik, hier ist der Leerstand eher marginal. Was den Wohnungssuchenden aber auch nicht hilft. Interessant ist zudem, dass neben Schrumpfungsprozessen – vor allem in den sogenannten Neuen Bundesländern – auch der Neubau nicht unerheblich dafür verantwortlich ist, das Leerstände entstehen. Bis 2030, so jedenfalls die Studie des BBSR „Künftige Wohnungsleerstände in Deutschland“ von 2020, muss man mit gut 3 Mio. leerstehenden Wohnungen rechnen. Auch gehen die AutorInnen in der Studie davon aus, dass allein erhaltungsbedingt rund 1 Mio. Wohnungen in diesem Zeitraum „rückgebaut“ werden müssen; Abriss nannte man das einmal.

Das Angebot in den Städten ist knapp, ständiger Zuzug verschärft das Problem. Geld allerdings ist vorhanden, Minuszinsen und steigende Inflation schreien nach Invest. Und so wird gekauft, was zu kaufen ist, angeboten, was anbietbar ist. Auf Rückbau folgt der Neubau in Masse, eintönig dicht, ­teuer. Betongold. „Wohnen ist ein Grundbedürfnis“: So beginnt so fundamental wie unverbindlich zugleich der zum Bauen und Wohnen gehörige Absatz im Koalitionsvertrag 2021-2025, und weiter heißt es, man werde „das Bauen und Wohnen der Zukunft bezahlbar, klimaneutral, nachhaltig, barrierearm, innovativ und mit lebendigen öffentlichen Räumen gestalten.“ Also alles. Wobei, und hier kommen wir zum Anfang: Wie soll das alles zu schaffen sein mit 400 000 Neubauten? Hat sich nicht eben gerade die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland gebaut ist? Dass Neubau durch keinerlei Maßnahmen CO2-neutral zu haben ist, so lange der Anteil fossiler Energie in allen Gewinnungs-, Produktions- und Verwertungsphasen noch so hoch ist? Und schreiben nicht längst die Verbände, die es wissen müssen – BDB, BDA, VDI und BAK, sogar Teile der Industrieverbände – man müsse vorrangig auf den Bestand schauen, wolle man die Klimaziele erreichen? Und die Baukultur? Im letzten Heft (DBZ 02|2022, S. 12ff.) sprachen wir mit Mr. Baukultur Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der in Potsdam ansässigen Bundesstiftung Baukultur, über die „Bauerei“ und darüber, dass wir die graue Energie doch in goldene Energie umwandeln könnten … wenn wir nur wollten!

Also Wohnen zuerst, dann die Stadt, dann das ganze Andere

Der Bestand fehlt im Papier, das zuständige Bundeswirtschaftsministerium hat das Wachstumsdogma offenbar schon geschluckt, gegen mehr Arbeitsplätze darf ja niemand etwas haben. Aber hatten wir uns nicht alle ein Bundesministerium gewünscht, das aus dem Schatten eines Innenminis­teriums heraustritt und mit eigener, sachkundiger Stimme und gleicher Augenhöhe im Kabinett vorträgt? Hatten wir. Und haben verhalten – weil noch im Zustand aufmerksamer Erwartung – auf das geschaut, was dann kam: ein Ministerium, noch auf der alten Webseite des Innenministeriums versteckt und mit einem Namen, der schon mal Programm ist: Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. Also Wohnen zuerst, dann die Stadt, dann das ganze Andere. Dienstchefin ist die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Klara Geywitz, die zusammen mit dem jetzigen Kanzler Scholz 2019 als „Tandem“ für den Parteivorsitz antrat und gegen das Team Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans unterlag. Das Bauwesen wird für Klara Geywitz ein Arbeitsfeld sein, in das sie sich einarbeiten muss. Als ehemalige Prüfgebietsleiterin am Landesrechnungshof Brandenburg startete sie jüngst mit der Aussage, 400 000 sei eine Zahl, die „abrechenbar“ sei, was nichts anderes heißt als: Wir bauen soviele Wohnungen, bis wir 400 000 zusammen haben. Pro Jahr.

Die 400 000 soll und kann allerdings, so die Ministerin, der Bund alleine nicht leisten. Immerhin ist er – und damit wir alle – förderbedingt schon bei den 100 000 Sozialwohnungen involviert, die die neue Koalition als Teil des Gesamtvolumens Neubau anvisiert. Vom Förderprogramm Energieeffizientes Bauen der KfW hat sich der Bund in einer Nacht- und Nebelaktion schon Wochen vor dem Antragsende verabschiedet: Längst seien die Energieeinsparklassen Standard im Bauen, hier wolle man fortgeschrittener Technologien/Bautypen fördern. Welche das sein werden, wurde nicht bekannt gegeben. Und auch hier wäre doch ein Hinweis auf das Vorhandene, das Potential im Bestand die Chance gewesen, an den Bau- und Architekturdiskurs in diesem Land anzuschließen! Fehlt hier die fachliche Beratung in der Kommunikation? Immerhin lieferte die Ministerin ein Stichwort, das im Zusammenhang mit der großen (Bau-)Aufgabe Output-Steigerung Neubauten länger schon genannt wird: Man wolle verstärkt auf das Serielle Bauen setzen. Doch anstatt hier die Themenfelder Nachhaltigkeit, Kos-teneffizienz, Flexibilität etc. aufzumachen, hebt die Ministerin auf die mit dieser Bauweise verbundene Reduzierung des Baulärms in den Innenstädten ab. Nun ja.

Verbote soll es keine geben, eher … Ja was eigentlich?!

400 000, je öfter ich diese Zahl schreibe, umso weniger will sie einleuchten, umso weniger kann man verstehen, wie aus einer vor Jahren in die Welt gesetzten Horizontlinie eine dauerhafte Meßlatte, Ziellinie hat werden können. Sicher, die Wirtschaft profitiert vom Neubau, zunächst einmal. Ob die Wohnungssuchenden davon etwas haben werden, kann bezweifelt werden, die Erstellungs- und Materialkosten, die Preise für Baugrund und steigende Baustandards sind im Höhenflug, etwaige Zinserhöhungen in fünf oder 15 Jahren könnten private, aber natürlich auch institutionelle Bauherrn in extreme finanzielle Schwierigkeiten bringen, mit allen Folgen für die Gesellschaft insgesamt. Was, und hier endet der Gedanke zur sechsstelligen Zahl/Jahr, die Koalition sich unter dem Bauvolumen Neubau Wohnungen typologisch vorstellt? Nichts, jedenfalls findet sich nichts dazu im Vertrag. Verbote soll es nicht geben (Stichwort „freistehendes EFH“). Ermöglichen will man. Immobilienerwerb als Altersvorsorge? Könnte sein, doch gleichzeitig ist der Stopp der Förderungen der KfW für energieeffiziente Neubauten ein gegenteiliges, zumindest verwirrendes Signal. „Wird der Traum vom Eigenheim für Tausende Bauherren zum Albtraum?“ fragt die Kölner Prinz von Preussen Grundbesitz AG rhetorisch? Ja, das könnte er werden. Wir brauchen eher nicht den „richtig großen Exportschlager“ Bau-Know-how (Ministerin), sondern das Können, dem Bestand gekonnt neues Leben einzuhauchen. Das schafft Identifikation, belebt Innenstädte und Randbezirke, ermöglicht ein weites Spektrum im Preis- und Kostensegment und schont die Umwelt, macht Klimaziele realistischer. 400 000? Ein paar würden schon reichen, gute Ideen beispielsweise. Be. K.

www.bmi.bund.de/DE/bauen-wohnen
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