Von Ausblicken ­und Einblicken
8 House Kopenhagen/DK

BIG heißt nicht groß, es heißt größer – zumindest seit es Bjarke Ingels gibt. Mit dem 8 House hat Dänemark sein größtes Wohngebäude bekommen: 476 Einheiten bieten Räume für neue Bewohner, 10 .000 m² Fläche stehen für Büros bereit und zum Joggen muss man nicht einmal das Gebäude verlassen.

Mancher Leser der DBZ erinnert sich vielleicht an die Ausgabe 12/2008, in der wir ebenfalls ein Projekt des Architekturbüros BIG, Bjarke Ingels Group, vorstellten, die Mountain Dwellings. Nun ist ein weiterer Baustein des neuen Stadtteils Ørestad fertig gestellt worden, das 8 House, wieder nach den Plänen von BIG. Eine gute Gelegenheit, sich dort einmal genauer umzuschauen.

Ørestad liegt auf der Insel Amager, zwischen dem Flughafen und der Kopenhagener Innenstadt, eine Stadt vom Reißbrett, etwa 600 m breit und fünf Kilometer lang. 1994 wurde ein internationaler Städtebauwettbewerb ausgeschrieben, den ein finnisches Architekturbüro – heute ARKKI – gewann. Der Entwurf sieht vor, die Gebäude in vier Bereichen zu konzentrieren und dort eine große und hohe Dichte zu erreichen, die anderen Teile bleiben weitgehend frei für Grün- und Wasserflächen. Der neue Vorort ist bestens angebunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Tivoli und Hauptbahnhof sind in zehn Minuten  erreichbar – und das mit Konzept: Ausgangspunkt für die Entwicklung des neuen Areals war eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur vor dem Baubeginn der Gebäude: Sechs Metrostationen erschließen nun die neue Stadt und sorgen für kurze Wege. Irritierend ist, dass es für die Autos der Anlieger viel zu wenige Parkmöglichkeiten gibt. Doch das gehört dazu, die Anbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist somit auch Erziehungskonzept für das Umweltbewusstsein der Bewohner und vor allem der Berufspendler. In 15 bis 20 Jahren sollen 60.000 Menschen in Ørestad arbeiten, 20.000 Menschen dort wohnen, 20.000 Studenten studieren jetzt schon an der Universität.

Gebäudekonzept
Den südlichen Abschluss Ørestads, also das letzte Gebäude vor dem Naturschutzgebiet Kalvebod Fælled und der dahinterliegenden Köge Bucht, bildet das 8 House. Bei einer Kapazität von fast 500 Wohnungen ist es eigentlich ein Stadtteil für sich. Genau darin bestand die Herausforderung für das Team von BIG: Ein Gebäude funktioniert, wenn es klar strukturiert und einfach ist, eine Stadt hingegen lebt von Vielfalt, Komplexität und überraschenden Momenten.

Der Städtebau sah eine Blockrandbebauung vor – das ergibt sich schon aus den geforderten Dimensionen – gleichzeitig sollte das Gebäude eine direkte fußläufige Verbindung ermöglichen zwischen Ørestad-Zentrum mit Metrostation im Osten und dem neuen Hein Heinsens Platz im Westen. Diesen Knotenpunkt von Gebäude und Weg nahm das BIG Team wörtlich und formte aus dem Rechteck eine Acht, durch deren Mittelpunkt der öffentliche Fußweg führt. Die Gebäude-Taille formt auf der Ost- und der Westseite zwei urbane Platzsituationen, von denen die anliegenden Geschäfte profitieren. Neben der Blockrandbebauung ist ein Turm geplant, der das Ensemble komplettiert, dieser ist bislang jedoch noch nicht realisiert. Damit wird voraussichtlich begonnen, wenn alle Wohnungen im 8 House belegt sind.

Stadt im Haus
Das Entwurfskonzept überträgt die Prinzipien der Stadt auf das Gebäude, und zwar nicht nebeneinander, sondern übereinander. Dabei ergibt sich automatisch, dass das Erdgeschoss als Ladenzone genutzt wird, da diese die direkte Verbindung zur Straße und somit zum Kunden benötigt. Bewohner eines Gebäudes leben jedoch ungern auf Straßenhöhe: Eine Schichtung entsteht. Gewerbeeinheiten benötigen eine gewisse Gebäudetiefe, die größer ist als die der Wohnungen. Daraus ergab sich eine freie Fläche vor den Wohnungen im ersten Geschoss. BIG entwickelte die Idee, diese Fläche als Terrasse zu nutzen und die ersten beiden Wohngeschosse als moderne Reihenhausvariante anzubieten – mit eigenem Vorgarten an der Eingangsseite. Die freie Fläche bietet zudem den Platz für einen umlaufenden Weg, der den gesamten Gebäudekomplex erschließt und der uns bei der Betrachtung des 8 House immer wieder begegnen wird.

In der nächst höheren Schicht über den Reihenhäusern finden sich je nach Lage im Gebäude bis zu sechs Etagen mit eingeschossigen Apartments, in der obersten Schicht schließt das 8 House mit zweigeschossigen Reihenhäusern ab. Aus dem Prinzip der optimalen Nutzbarkeit verorten die Architekten die Büronutzung auf der Nordseite. So bekommen die Arbeitsplätze keine blendende Sonnenstrahlung und der Bedarf an Kühlung wird auf natürliche Weise minimiert. Um die Südsonne und die Aussicht zu den Wohnungen und in den Hof zu bringen, wird die Gebäudehöhe der Südwest­ecke der Acht auf Null gebracht, eine offene Ecke entsteht, die gleichzeitig Start- und Endpunkt des um das ganze Gebäude verlaufen­den öffentlichen Weges ist.

Um den Flächenverlust im Gewerbebereich zugunsten der offenen Südecke zu kompensieren, wurden die Büronutzungen im Norden „angehoben“: Vier Geschosse mit Büros bilden die Basis für darüberliegende Wohnungen. Diese erhalten wiederum durch die höhere Basis die Möglichkeit der Orientierung nach Süden und damit eine bessere Belichtung und den erwünschten Ausblick in die Landschaft.

Dazwischen
Durch die Form der Acht wurden aus einem großen Innenhof zwei einzelne. Landschaftlich gestaltet mit zwei Themen haben sie jeweils einen eigenen Charakter. Im Süden erzeugen Rasenterrassen ein geometrisches Muster, im Nordhof bilden runde Grashügel Orte zur freien Nutzung.

Sympathisch ist der Umstand, dass das Landschaftskonzept im Südhof durchbrochen werden musste: Eine Kindertagesstätte beansprucht einen eigens umzäunten Teil. Das passt zwar landschaftlich nicht ins Konzept, zeigt aber, dass das Gebäude belebt ist und dass sich durch die Anforderungen der Bewohner ungeplante Entwicklungen ergeben – und das entspricht wiederum dem ange­strebten Organismus einer Stadt.

Stadtzentrum im Gebäude
Das Zentrum der Acht ist als besonderer Punkt – auch für Passanten – hervorgehoben. Im Kreuzungspunkt der Linien führt ein neun Meter breiter, öffentlicher Weg durch das Gebäude, dessen Wände in Gold schimmern und der mit einer Lichtinstallation aus Neonröhren die Blicke nach oben zieht. In diesem Kreuzungsbereich befinden sich die Gemeinschaftseinrichtungen: Räume, Gästeapartments, Lounges und eine Dachterrasse, auf der gegrillt werden kann oder Feiern stattfinden können. In der Sprache von BIG heißt dieser soziale Bereich „Social Tower“, denn er zieht sich vom Erdgeschoss bis hinauf auf das Dach. Ein durchgängiges Atrium verbindet die Nutzungen.

Der Weg ist das Ziel
Vielleicht der interessanteste Aspekt ist der öffentliche Weg, der einmal ganz um das 8 House herumführt bis hinauf zur obersten Etage. Nach Vorbild eines Bürgersteigs kommt man vorbei an jedem Reihenhaus mit seinem klei­nen Vorgarten und erhascht einen Blick in die meist gardinenfreien Lebensräume der Bewohner. Kinder können ihre Freunde besuchen ohne auf die Straße zu müssen, Jogger ihre Runden drehen und sogar Fahrradfahrer können direkt vor der Haustür starten, denn es gibt sowohl die Möglichkeit über Treppen nach oben zu kommen als auch über Rampen. Eine Fußgängerzone am Gebäude sozusagen, sehr nachbarschaftlich, sehr kommunikativ, sehr nah dran. Im obersten Level auf der Südseite angekommen weiß man den Aufstieg zu würdigen – ein unverbaubarer Blick bis zur Köge Bucht belohnt den Wanderer – und nicht wie so oft im Immobiliengeschäft – nur die elitären Besitzer der teuersten A-Lagen-Wohnungen.

Stadt nach Plan
Kostet die Wohnfläche im historischen Kopenhagen über 4.000 €/m² (30.000 DKK), zahlt man im 8 House nur 2.800 €/m² (18.000 DKK) – wohlgemerkt nur zehn Minuten vom Hauptbahnhof entfernt. Gut die Hälfte der Wohnungen ist bislang verkauft, einen Teil der Büroflächen nutzt der Investor selbst, Café und Läden sind vermietet. Zur Zeit braucht es trotzdem Überwindung, um sich im Süden von Ørestad niederzulassen. Wie einzelne Inseln stehen hier die großformatigen Gebäude in der Landschaft und reihen sich an der Metrolinie entlang. Zwischen Nord- und Süd-Ørestad klaffen zahlreiche Lücken. Die Finanzkrise brachte manches Bauvorhaben zum Erliegen, es ist ungewiss, wann die Zwischenräume gefüllt sein werden.

Die Mitte Ørestads ist dagegen recht lebendig – die Bewohner des kreisrunden Studentenwohnheims Tietgenkollegiet von Lundgaard & Tranberg sowie das Gymnasium (3XN) bringen junge Leute auf die Straßen und die Fußballplätze der Parks. Das Tietgenkollegiet wurde zum „Schönsten Gebäude der Dekade“ gekürt, das Gymnasium soll Dänemarks begehrteste Schule sein, Wohngebäude wie die Mountain Dwellings sind voll belegt und die Metro voll ausgelastet. Abends lockt Jean Nouvels Konzerthalle musikalisch Interessierte. Also funktioniert sie vielleicht, die Stadt nach Plan, wenn sie aus Gebäuden geformt wird, die jedes für sich eine Identität besitzen und eine Vielfalt ermöglichen. Vielleicht ist es auch die Mischung von gemeinschaftlichen und öffentlichen Bereichen bei gleichzeitigen privaten Abgrenzungsmöglichkeiten: Als ich eine Bewohnerin der A-Lage des 8 Houses, sprich oberste Etage Süd-Reihenhaus, fragte, ob sie gerne hier wohne, erwartete ich an einem sonnigen Frühlingstag mit bester Sicht keine andere Antwort als eine positive – und so bejahte sie auch. Blickt man allerdings auf den Eingang ihres Vorgartens, der direkt an den öffentlichen Weg grenzt, sieht man eine rot-weiße Absperrkette: Die Architekturtouristen seien anstrengend, ganze Gruppen drängelten sich manchmal bis ans Wohnzimmerfenster, aber es sei die richtige Entscheidung gewesen, hier einzuziehen. Und so drücke ich der Dame die Daumen, dass der Architekturzirkus schnellstens weiterzieht und allenfalls Nachbarn am Vorgarten vorbeikommen, denen der Ausblick wichtiger ist als der Einblick. SG

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