„Wenn man den Wert der Zusammenarbeit erkennt, ist es möglich, die vorhandenen digitalen Brüche zu überwinden.“

Sigrid Brell-Cokcan ist Gründerin und Leiterin des Lehrstuhls für individualisierte Bau­produktion (IP) und des Forschungsinstituts „Center Construction Robotics“ an der RWTH Aachen, das sich der Erforschung von Industrie- und Baurobotern für Anwendungen im Bauwesen widmet. Wir sprachen über die gesetzten Ziele und deren Bedeutung für ­alle am Bauprozess Beteiligten.

DBZ: Frau Brell-Cokcan, wie kamen Sie zu Ihrem Forschungsansatz?

Sigrud Brell-Cokcan: In den letzten Jahren hatte ich das Glück, als Architektin die Digitalisierung an innovativen Bauten selbst mitzuerleben. Während der Bauphasen hat mich damals schon gestört, dass die Umsetzung im Vergleich zur digitalen Planung noch genauso funktioniert wie vor 100 Jahren. Es gab und gibt wenig Automatisierung bzw. nur 1  % der Daten der Architekten kommt an der Baustelle an, bei den Baufirmen sind es ca. 10 %. D. h., was auch immer ich an meinem Rechner gemacht habe, ist nie so digital in die Umsetzung gekommen bzw. die Daten werden immer wieder neu erhoben oder gehen verloren. Dieser Prozess war immer ineffizient: Obwohl wir eine hochentwickelte, ­digitale Planung haben, waren die Baustellen für mich eine große Enttäuschung. So wollte ich nicht mehr arbeiten, weshalb ich mich auf die Forschung konzentriere.

Worum geht es an Ihrem neuen Lehrstuhl?

Der neue Lehrstuhl „Individualisierte Bauproduktion“ an der RWTH Aachen beschäftigt sich genau mit dieser Schnittstelle zwischen digitaler Planung und automatisierter Ausführung. Es geht darum, sukzessive mehr Daten mithilfe von einem Assistenzsystem oder intelligenten Maschinen von der Planung auf die Baustelle übertragen zu können. Der Lehrstuhl beschäftigt sich mit solchen digitalen Lücken entlang der Wertschöpfungskette mit dem Fokus auf der Vorproduktion und der Baustelle. Wir haben auch das „Center Construction Robotics“ gegründet, an dem wir mit der Industrie direkt gemeinsam forschen und arbeiten, weil wir neue Technologien nur interdisziplinär im Austausch mit anderen Fachdisziplinen weiterentwickeln können.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Unser Ziel im „Center Construction Robotics“ ist es, mit Prozessinhabern und Technologie­befähigern an einem Tisch konsortial zu forschen. Nur die Prozessinhaber alleine können das Problem des digitalen Bauens nicht lösen. Die Technologiebefähiger allein ebenso wenig, weil sie die Bauprozesse zu wenig kennen. Wir von der RWTH sehen uns als Vermittler zwischen diesen zwei Welten, die in der Praxis relativ weit auseinanderliegen. D. h., wir entwickeln gemeinsam mit diesen zwei Gruppen Workshops zu Themen der Digitalisierung, stellen die entsprechenden Fragen von beiden Seiten. Das Center funktioniert fakultätsübergreifend – dazu gehören Maschinenbauer, Bauingenieure und Architekten. Jede ­Fakultät kennt die Sprache der eigenen Kultur, und das ist der Vorteil, den wir in einem solchen Konsortium der Wertschöpfungskette einbringen können. Nur mit der gesamten Wertschöpfungskette – wenn man also den Wert der Zusammenarbeit erkennt – ist es möglich, die vorhandenen digitalen Brüche zu überwinden.

Wir müssen in Zukunft Partnerschaftsmodelle entwickeln, denn das Bauwesen wird geprägt vom Nachtragswesen und einer Beschwerdekultur und dieser Vergabekultur des „Billigstbieter-Prinzips“ – alles Faktoren, die für die Entwicklung der Bauwirtschaft hinderlich sind. Wir müssen dahinkommen, dass wir ein Verständnis über die gesamte Wertschöpfungskette bilden. Das versuchen wir in der Forschungsarbeit auf einem neutralen Terrain der RWTH Aachen umzusetzen. Dabei schauen wir auch, welche Prozesse von anderen Produktionstechniken in das Bauwesen übertragbar wären; aber auch, welche individuellen Prozesse vom Bauwesen in die Produktionstechnik überführt werden können.

Wie wird sich der Bauprozess verändern?

Die Vollautomatisierung, wie man sie eventuell aus der Automobilbranche kennt, wird in der Baubranche nicht stattfinden, weil wir es immer mit sehr vielen Einflussgrößen und einer relativ unstrukturierten Umgebung zu tun haben. Wenn wir von Automatisierung sprechen, meinen wir unterstützende Assistenzsysteme für den Menschen. Das Aufwerten der Arbeit und auch des Berufsimages ist uns wichtig und wir denken, dass das mit der Digitalisierung und Automatisierung möglich ist.

Welche Ziele haben Sie sich in der Forschung gesetzt?

Gerne würde ich die Vision von Villemard „Chantier de construction électrique“ aus dem Jahre 1910 real werden lassen – auf dem Bild steuert ein Architekt eine mechanisierte Baustelle und hat die Kontrolle darüber. Diese Vision finde ich erstrebenswert. Die Entwicklung eines Gebäudes nicht bis zum Ende so intensiv betreuen zu können, wie ich das in der Anfangsphase, im Entwurf, mache, ist ein großer Störfaktor. Zu oft habe ich erlebt, was passiert, wenn man das Projekt aus der Hand gibt. Meine Forschung soll dazu führen, dass es nicht mehr wichtig ist, ob der Architekt, der Bauingenieur oder z. B. ein Handwerker auf der Baustelle steht und diese leitet, weil sie alle in der Lage sind, mit den unterstützenden Assis­tenzsystemen selbst bauen zu können. Ein Beispiel: Sobald jemand einen 3D-Drucker und die gewünschte Zeichnung hat, kann jeder das Entworfene als Objekt drucken lassen.

Was entgegnen Sie auf die Frage: Was macht der Architekt mit einem Roboter?

Seit 2006 arbeite ich in der Forschung und jetzt habe ich das Selbstbewusstsein, als Architektin zu sagen, dass ich die Prozesse kenne und dass ich weiß, wie wir aus Nutzersicht wollen, dass Maschinen funktionieren; wie ich den Informa­tionsaustausch haben möchte, denn die müssen auch meine Sprache verstehen.

Welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden?

Wir müssen die Grenzen in den Köpfen einzelner Fachgebiete aufbrechen und Brücken schlagen zu den anderen Fakultäten. Wir beginnen im nächsten Jahr mit einem Master „Construction & Robotics“, in dem wir Studierende aus Informatik, Maschinenbau, Bauingenieurwesen und Architektur aufnehmen. Wir wollen nicht, dass diese Grenzen der Fachgebiete in den Köpfen der Entwickler für die Bauindustrie sich überhaupt festsetzen. Die Ausbildung soll solche Grenzen erst gar nicht ermöglichen.

Das Gespräch führte DBZ Redakteurin Mariella Schlüter am 29. November 2019 per Telefon.

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