Grüne Fassaden unter Strom
Bis zum Jahr 2030 soll sich nach Plänen der Bundesregierung der Solaranteil am Energieverbrauch mehr als verdreifachen. Zu schaffen wird das nur mit technologischen Neuerungen sein: So muss Photovoltaik, kurz PV, flächendeckend längst nicht nur auf Dächern, sondern auch an den Gebäudefassaden Einzug halten. Damit das gelingt, gibt es derzeit das Forschungsprojekt „SolarEnvelopeCenter“, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert wird. Sind Teile der Fassade zudem begrünt, wirkt sich das insbesondere in unseren Städten positiv auf das Klima der näheren Umgebung sowie die Artenvielfalt aus. Die Immobilie heizt sich weniger auf, Insekten siedeln sich an und die Pflanzenwände filtern Schadstoffe und dämmen Lärm.
Das Bürogebäude OWP12 am Stammsitz der Drees & Sommer SE in Stuttgart glänzt mit einem vertikalen Garten sowie einer neu entwickelten modularen Fassade, die Energie erzeugt
Foto: Jürgen Pollak
Wie sich Photovoltaikmodule erfolgreich in die Gebäudefassaden integrieren lassen, dazu wird derzeit eifrig geforscht. So fördert das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz das Verbundforschungsprojekt namens SolarEnvelopeCenter: Unter Führung des Fraunhofer ISE in Freiburg arbeiten derzeit namhafte Industrie-unternehmen und Forschungszentren an standardisierten Lösungen, wie sich PV-Anlagen technisch einfach, schnell und kostengünstig an den Gebäudehüllen umsetzen lassen.
An Bord des Forschungsprojekts ist auch das auf Bau und Immobilien spezialisierte Unternehmen Drees & Sommer SE. Das kommt nicht von ungefähr, denn mit Fertigstellung der neuen Firmenzentrale Ende des Jahres 2021, dem Drees & Sommer-Bürobau OWP12 in Stuttgart, hat das Beratungsunternehmen bereits umfangreich Erfahrungen gesammelt, was innovative Fassadenkonzepte angeht.
Neben Solaranlagen auf dem Dach sorgt die innovative Fassade mit PV-Elementen an der Süd- und Westseite für ausreichend grünen Strom und deckt etwa ein Drittel des Gebäude-Strombedarfs ab. Insgesamt wird auf knapp 700 m² Fassadenfläche ein Ertrag von rund 70 MWh im Jahr gewonnen. Dank der innovativen Fassadenkonstruktion, die sehr hohen Anforderungen an Schallschutz und Wärmedämmung standhält, ist die Außenhaut der Fassade in Kombination mit den PV-Elementen nur 210 mm dick. Auch optisch stellen die integrierten PV-Elemente eine sehr ästhetische Lösung dar.
Schlanke und energieerzeugende Fassade
als Novum am Markt
Leichtgewicht: Das Begrünungssystem wiegt wassergesättigt nur 35 kg/m²
Foto: Drees & Sommer
Die modulare Fassade wurde gemeinsam mit FKN Fassaden und dem Dämmstoffhersteller Evonik entwickelt. Die e-coFACE getaufte Lösung folgt Prinzipien der Materialkreislaufplanung. Sie benötigt zudem wenig Fläche, ist energieeffizient und erzeugt dank Photovoltaikelementen an der Süd- und Westseite Energie. Darüber hinaus erreicht die Fassade die erhöhten Schallschutz-Anforderungen für das an einem 4-spurigen Autobahnzubringer gelegene Gebäude – ein Schallschutz, der im Normalfall nur durch schwere, dicke Außenwandbauteile erzielbar wäre.
Das schmale Grundstück, auf dem der Büroneubau OWP12 beheimatet ist, erforderte eine flächeneffiziente Bauweise. Gemeinsam mit der FKN Gruppe wurde eine neuartige Lösung entwickelt, die solche Eigenschaften in einer Fassadenkonstruktion erstmalig vereint. Dank innovativer, nachhaltiger Dämmstoffe wie Vakuumisolations-Paneelen und Dämmplatten aus Siliziumdioxid bietet die Fassade hervorragende Wärmedämm- und Schalldämmwerte bei einer thermischen Hülle von nur 90 mm.
Da das für das System verwendete Paneel nicht brennbar ist, kann die Hochleistungsfassade nach Brandschutz-Klassifizierung sogar für den Hochhausbau eingesetzt werden. Bestätigt wurde die Hochhaustauglichkeit für Gebäude mit mehr als 20 m Höhe durch die Materialprüfanstalt für das Bauwesen der TU Braunschweig und durch die Erteilung einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung (abZ).
Mit den Photovoltaikelementen ist die Fassade nur 210 mm dick. Eine konventionelle Konstruktion würde für einen vergleichbaren Schallschutz mindestens 450 mm benötigen. Die eingesparte Fläche kann anderweitig genutzt werden. Die Photovoltaikelemente der Fassade erreichen etwa 100 kWp, die gesamte PV-Anlage inklusive Dach etwa 260 kWp. Damit decken die PV-Module der Fassade etwa ein Drittel des Strombedarfs des Gebäudes, der Rest wird auf dem Dach erzeugt.
Moderne Grünfassade: temperaturregulierend und brandsicher
In Stuttgart und anderen Städten wird Fassadenbegrünung zunehmend vorgeschrieben. Drees & Sommer testet dies an einem eigenen Gebäude und will damit nicht nur Vorbild sein, sondern bei der Entwicklung der notwendigen Umsetzungsgrundlagen mitwirken. Eine grüne Wand erstreckt sich über drei Geschosse mit 12 m Höhe und mehr als 100 m². Eine vorgehängte, hinterlüftete und vergleichsweise leichte Fassadenplatte kombiniert ein flächiges Vlies-Substrat-System aus vornehmend nicht brennbaren Materialien. Ein Brandversuch zeigte 2020, dass der Wasseranteil in der Anlage die Fassade kühlt und so im Hinterlüftungsraum für niedrigere Temperaturen sorgt. Das Begrünungssystem wiegt wassergesättigt nur 35 kg/m².
Lebendige Fassadenbegrünung: dynamisches Erscheinungsbild mit ökologischen Vorteilen
Die Pflanzen wachsen in einem an der Wand angebrachten Behältnis, das mit einem Vlies-Substrat-System kombiniert wurde. Das Spezialvlies aus einem Basalt-Glas-Gemisch ist nicht brennbar
Foto: Drees & Sommer
Für ein ganzjähriges lebendiges und dynamisches Fassadenbild kommen beim gemeinsam mit der Firma Vertiko entwickelten Pflanzkonzept 2 500 Einzelpflanzen in elf verschiedenen Arten und sechs verschiedenen Farbgebungen zum Einsatz. Bewässert wird die auf den Standort an der Nordseite des Gebäudes abgestimmte Pflanzenmischung mit Regenwasser, das in drei Zisternen auf dem Gebäudedach gesammelt und über ein Freispiegelgefälle verteilt wird. Nur bei außerordentlichen Heißperioden unterstützt ein automatisch gesteuertes Nachspeisesystem die Wasserversorgung mit Trinkwasser.
Im Vergleich zu einer Standardfassade erforderte die Fassadenbegrünung nur einen geringen Mehraufwand. Aufgeschlüsselt in Unterbau inklusive Dämmung, Bepflanzung und notwendige Technik, wie automatische Bewässerung und Regenwasserspeicherung, liegen die Kosten pro Quadratmeter nur unwesentlich höher als bei vergleichbaren, hochwertigen vorgehängten Konstruktionen. Demgegenüber stehen eine Vielzahl klimatischer und ökologischer Vorteile: eine geringere Aufheizung, Ansiedlung von Insekten, Schadstofffilterung und Lärmdämmung. Dazu schaffen Blüten und Blätter ganzjährig eine angenehme Atmosphäre.
Cradle to Cradle – Bauen nach dem Kreislaufprinzip
Mithilfe eines Pflanzplans wurde ein Gesamtbild entwickelt, das im Jahresverlauf immer lebendig und dynamisch wirkt
Grafik: Drees & Sommer
Damit der Ressourcenverbrauch und das Abfallaufkommen möglichst gering ausfallen, verwirklichte Drees & Sommer mit dem Tochterunternehmen und Umweltberatungsinstitut EPEA beim Bau der OWP12 in weiten Teilen das
Cradle-to-Cradle-Prinzip, einen Ansatz für eine durchgängige und konsequente Kreislaufwirtschaft. Dieses sieht vor, dass die in einem Gebäude verbauten Materialien bei Rück- oder Umbau entweder überwiegend in der Biosphäre abgebaut oder – wie meist in der Baubranche – in Stoffkreisläufe zurückgeführt und in hoher Qualität wiederverwertet oder recycelt werden können. Dazu müssen die verbauten Produkte und Konstruktionen entsprechend sortenrein trennbar gestaltet und so „gesund“ sein, dass später keine Schadstoffe in Rezyklate oder Umwelt gelangen können. So wird der Ressourcenverbrauch reduziert und im Idealfall auf Null gesetzt.
Die Materialien, die in der e-coFACE-Fassade verbaut werden, erfüllen die Anforderungen entsprechender Umweltlabels wie DGNB, LEED oder BREEAM. Das grundlegende Dämmmaterial aus Siliziumdioxid ist zudem Cradle-to-Cradle Gold zertifiziert. Durch die im Detail geplante Rückbaubarkeit aller Teile ist die Möglichkeit einer sortenreinen Trennung gegeben, und die Materialien können nach ihrer Nutzungsdauer entsprechend recycelt oder wiederverwendet werden.
SolarEnvelopeCenter: Vom Schattendasein zum Platz an der Sonne
Energie produzierende Photovoltaik-Elemente ziehen sich auf der Südseite sowohl über Wände als auch Fenster
Foto: Jürgen Pollak
Zugegeben: Noch fristen innovative und grüne Fassaden und Solarmodule an Gebäudefassaden in der Breite ein Schattendasein. Während sich fast jedes Dach mit relativ geringem Aufwand mit Photovoltaik ausstatten lässt, sind herkömmliche PV-Module für Fassaden in der Regel ungeeignet. Integrieren lassen sie sich für die meisten Bauherrn nur mit einem unverhältnismäßig großen technischen und finanziellen Aufwand. Um das von der Bundesregierung ausgerufene Ziel von 200 GW Solarenergie bis 2030 zu erreichen, muss sich die installierte PV-Kapazität vervielfachen. Ohne Photovoltaikanlagen an Gebäudefassaden ist das nicht zu schaffen. Der Knackpunkt ist dabei: Derzeit fehlen die standardisierten Planungsinstrumente, um Photovoltaik sowohl technisch, aber auch wirtschaftlich an den Fassaden anzubringen.
Mit dem Forschungsprojekt SolarEnvelopeCenter will ein Netzwerk aus Industrie- und Forschungspartnern das nun ändern und entwickelt Normallösungen für PV-Integration an den Gebäudehüllen. Denn bisher handelt es sich bei PV-Anlagen an den Fassaden überwiegend um Speziallösungen, die Beteiligte sehr mühsam erarbeiten müssen. Das Forschungsprojekt will konkrete, zum Teil standardisierte Lösungen aufzeigen, die Anwendende dann je nach Projektanforderungen kombinieren und weiter ausarbeiten können. Bis Ende 2025 soll das Forschungsprojekt SolarEnvelopeCenter abgeschlossen werden. Geplant ist zudem, Teilergebnisse der Forschung als VDI-Richtlinie zu veröffentlichen, um die breite Anwendung zu fördern und damit die Solarisierung der Gebäudehülle zu beschleunigen.
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt durch das Solarforschungsinstitut Fraunhofer ISE und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) mit Sitz in Saarbrücken. Solarfachkräfte und Hersteller sind durch die Deutsche Gesellschaft für Solarenergie e.V. (DGS) und dem Photovoltaik-Systemanbieter IBC SOLAR vertreten. Für Praxistauglichkeit der erarbeiteten Standards in der Baubranche sorgen das Stuttgarter Architekturbüro wulf architekten und das Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE.
Über den Dachrand hinausdenken
Positiver Nebeneffekt: Im Innenraum sorgen die Photovoltaik-Elemente an der Glasfront für Verschattung
Foto: Maximilian Schwarz
Sicher sind derzeit Solaranlagen auf den Dächern ertragreicher, dennoch lohnt es sich durchaus auch in die Photovoltaikanlagen an den Fassaden zu investieren. Wer klimaneutral und damit zukunftsfähig bauen will, muss wortwörtlich über den „Dachrand“ hinausdenken. Bauwerkintegrierte PV-Anlagen sind wahre Multitalente. Richtig eingesetzt können sie nicht nur Strom erzeugen, sondern reduzieren Lärmeintrag, schützen vor extremen Witterungen und regulieren das Klima innerhalb der Gebäude.
Autoren: Thomas Berner, Associate Partner der Drees & Sommer SE
Christian Luft, Experte für Energiemanagement der Drees & Sommer SE
David Schenke, Senior Teamleiter und Fassadenspezialist der Drees & Sommer SE
Foto: Drees & Sommer
Foto: Drees & Sommer
Bild: privat
Bautafel
Projekt: Bürogebäude OWP12
Auftraggeber/Nutzer: Drees & Sommer
Architektur: SCD Architekten Ingenieure GmbH, Stuttgart,
Grünfassade: Vertiko GmbH, Wuppertal, www.vertiko.de
e-coFACE Fassade: FKN Fassaden, www.fkn-group.com/
Evonik, https://corporate.evonik.com
Projektlaufzeit: 07/2017 bis 12/2021
BGF: 7 000 m2