Horizontale Kontrapunkte: Vordächer am Lincoln Center, New York City
Das Lincoln Center for the Performing Arts in New York City ist nicht nur das kulturelle Epizentrum der Millionenmetropole, sondern genießt darüber hinaus Weltruf. Der in den 50er Jahren von Harrison & Abramovitz unter Mitwirkung von Philip Johnson entworfene Kulturkomplex fasst drei Straßenblöcke zu einer zentralen Plaza, um die sich die Metropolitan Opera, flankiert vom New York State Theater und der Alice Tully Hall gruppieren.
Die mit der kompletten Neugliederung des Lincoln Centers beauftragten New Yorker Architekten Diller Scofidio + Renfro haben das, seit einem halben Jahrhundert ungelöste Problem einer ehemals geplanten überdachten Arkade mit Vorfahrt, sehr dezent gelöst. Statt die zentrale Plaza zur Straße hin durch eine Arkade oder ein Dach zu begrenzen, entwarfen sie zwei bis über den Bürgersteig weit auskragende Glasdächer, wodurch die Plaza formal nicht beeinträchtigt wird. Durch die zurückhaltende Optik des Glases und die filigrane Stahlkonstruktion sind die beiden Vordächer kaum wahrnehmbar.
Zwei aus Einzelblechen geformte Stahlstützen gründen auf der Untergeschossebene, durchstoßen eine Fußgängerrampe und bilden den einzigen Auflagepunkt für die 27 m lange Konstruktion. In der Ansicht erzeugen die beiden geknickten Stützen ein stilisiertes Y. Sämtliche Horizontallasten der Konstruktion werden von diesen beiden Trägern aufgenommen und in die Betondecke der Fußgängerrampe abgetragen. Um die einwirkenden Kräfte aus den Windlasten gleichmäßig zu verteilen, sind die Stützen über zwei rahmenlose Verbundglasscheiben aus jeweils 4 x 12 mm Floatglas statisch wirksam miteinander verbunden. Auf den beiden Stützen liegen zwei leicht nach außen gekippte, ca. 27 m lange, ebenfalls aus Einzelblechen gefertigte Stahlträger. Ein quer durch die Stahlträger gestecktes Rundrohr verbindet diese mit dem Gebäude und garantiert zusammen mit dem Y-Trägerpaar die erforderliche Standfestigkeit.
Unter die beiden Träger sind zwölf 4,30 x 2,30 m große vierfach-VSG- Scheiben gehängt, von denen jede einzelne knapp 1,5 t wiegt. Sie werden an nur vier Punkten über speziell entwickelte Punkthalter aus hochfestem Werkstoff abgehängt. Anschließend mit Zwei-Komponenten-Injektionsmörtel kraftschlüssig vergossen, bilden Glas und Stahl einen statisch wirksamen Verbund. Jede Scheibe ist mit einem leichten Gefälle versehen und entwässert ohne Rinne zur Seite. Aufgrund der leichten seitlichen Neigung der Kragträger, die zudem nicht parallel laufen und der Neigung der Einzelscheiben ist jeder Punkthalter eine Einzelanfertigung.
Das statische Konzept der Vordächer erforderte eine hohe Passgenauigkeit der unterschiedlichen Bauteile. Die üblichen Bautoleranzen von 3 bis 5 mm für Stahlbauten mussten hier deutlich unterschritten werden und lagen bei ± 1,5 mm für die montierte Konstruktion. So wurden z. B. die Stahlträger in Längsrichtung überhöht hergestellt, um die zu erwartenden starken Verformungen durch die 18 t Eigengewicht der Scheiben zu berücksichtigen. Der gestalterische wie konstruktive Charme der Vordächer beruht somit primär auf der Unsichtbarkeit der Anstrengungen, denn der Auftritt gebührt den Gästen und den Künsten.