KI in der Architektur

Bleibt die künstliche Intelligenz eine Modeerscheinung oder wird sie die Grundlagen der Architektur auf den Kopf stellen? Das Fragen sich natürlich auch die Software-Unternehmen der Branche. Ein Gespräch mit Yves Padrines, CEO der Nemetschek Gruppe und
Daniel Csillag, CEO von Graphisoft über die Potenziale vom frühen Entwurf bis hin zur ­Baustellenlogistik und dem Gebäudebetrieb.

Die modellbasierte Planung und BIM gehören für viele inzwischen zum Tagesgeschäft. Und immer komplexere Projekte sind ohne passende digitale Werkzeuge und Dienstleis­tungen nicht mehr denkbar. Was wird nun der nächste wichtige Schritt nach BIM?

Yves Padrines (YP): BIM gewinnt weiterhin an Bedeutung. Wie stark, hängt aber vom jeweiligen Markt ab. Schauen wir auf den Grad der Digitalisierung im Bauwesen, gibt es Märkte wie Norwegen, USA oder Australien, die in diesem Punkt weiter sind als viele andere Länder – gerade in Europa. Blicken wir zum Beispiel nach Asien, Singapur oder Hongkong, ist BIM für fast jedes Projekt vorgeschrieben – selbst für kleinere private Bauprojekte. Das ist anders als in Deutschland, wo BIM bisher nur für Infrastrukturprojekte und öffentliche Bauten verpflichtend ist. Ich bin dennoch sehr zuversichtlich: BIM wird immer wichtiger werden. Insbesondere Open BIM.

Aber wie lässt sich eine stärkere BIM-Nutzung in unserer heterogenen Bauwelt erreichen?

YP: Es gibt einen großen Bedarf und eine hohe Nachfrage nach mehr Interoperabilität aus dem Markt. Der Bausektor ist stark fragmentiert und vereint so viele Akteure, dass eine Technologie- und disziplinenübergreifende Zusammenarbeit zum Schlüssel bei der Optimierung der Workflows wird. Das bedeutet, dass irgendwann jeder von einer Cloud-Plattform oder Desktop-Anwendung zu einer anderen wechseln kann und es parallel sichergestellt ist, dass die richtigen Daten zur richtigen Zeit der richtigen Person bereitstehen. Ich bin überzeugt, dass dies die Projekte verbessern wird, sowohl in der Planungs- und Bauphase als auch bei der Verwaltung von Gebäuden. Die weitere Integration von BIM und verstärkt auch KI-Anwendungen sind die aktuell wichtigsten Themen.

Hinzu kommt die Frage: Wie schaffen wir es, die Nachhaltigkeit noch stärker in der Branche zu verankern? Das Ziel als Nemetschek Group ist, gemeinsam mit allen Marken unsere Kundinnen und Kunden zu unterstützen, eine zukunftssichere Welt zu gestalten. Das können wir vor allem durch mehr Effizienz und Nachhaltigkeit erreichen – insbesondere mit Blick auf die ressourcenhungrige Bauindustrie.

Künstliche Intelligenz wird auch im Bausektor als große Chance verstanden. Wo sehen Sie das Potenzial für die Branche?

Daniel Csillag (DC): Künstliche Intelligenz könnte zukünftig von großer Bedeutung sein und bedeutenden Einfluss auf die Baubranche nehmen. Wie das funktionieren kann, zeigt etwa die Automobilindustrie. Deren Serienfertigung unterscheidet sich jedoch erheblich von den Prozessen am Bau. Außer beim seriellen Bauen oder im Massenwohnungsbau sind die Gebäude einzigartig und jedes Bauwerk eine individuelle Konstruktion.

Mit künstlicher Intelligenz sind wir jedoch in der Lage, die Brücke zu schlagen zwischen Massenproduktion auf der einen und individuellen Bauwerken auf der anderen Seite. Ein Beispiel: 100 Krankenhäuser sollen gebaut werden. Mit Hilfe von KI wird es viel einfacher möglich sein, systematisch und von einem Projekt zum nächsten aus Planungs- und Baufehlern zu lernen und die Abläufe zu optimieren. Aktuell wiederholen wir jedoch von Projekt zu Projekt immer wieder denselben unbefriedigenden Prozess: Das Architekturbüro liefert seine Planung und die Baufirma plant anschließend alles um. Das ist nicht immer so, aber viel zu oft. Bauunternehmen verwenden nur selten das Planungsmodell des Architekturbüros. Das Projekt wird also nochmal gezeichnet, es wird eingespart, es wird geschätzt, anschließend gebaut. Probleme sind so vorprogrammiert und auf der Baustelle kommt es später zu handfesten Streitereien. Um auf mein Beispiel zurückzukommen: Wenn die 100 Krankenhäuser gebaut sind, hatten Sie im schlimmsten Fall 100-mal die gleichen Probleme.

Mit KI sind wir in der Lage, strukturiert Daten zu sammeln und daraus zu lernen. Wir haben ein ergänzendes Alarmsystem, das uns sagt: Das Entwurfsdetail X führt zu Problemen bei der Lüftungsleitung Y. Um es erst in der Bauphase zu beheben, sind drei Wochen kostspieliger Umplanung und Nacharbeit nötig. Jedoch dadurch, dass wir alle notwendigen und richtigen Daten in einem KI-System bündeln, können wir aus Daten, Fehlern und Problemlösungen lernen! Das wird unsere Branche stark beschleunigen und dabei helfen, gegenüber anderen massenfertigenden Industriezweigen Boden zu gewinnen. Den größten Nutzen für die Baubranche sehe ich daher in den Bereichen Planung und Bauausführung, aber ebenso im anschließenden Asset Management, im Betrieb.

Und welches Potenzial bietet KI im Besonderen für Ihr Unternehmen Graphisoft, dessen Produkte und Services?

DC: Die Bereiche Entwurf und Planung sehe ich umfassend durch uns abgedeckt. Mit dem AI Visualizer für Archicad sind wir nun einen ersten Schritt in Richtung KI-Unterstützung der Architekturbüros gegangen. Wir unterstützen sie dabei, noch effizienter im Entwurf zu werden. Wenn sie sich in der Zukunft mit intelligenten KI-Systemen vernetzen – von der Entwurfsphase bis in den Gebäudebetrieb – dann können sie das Bauwesen wirklich revolutionieren!

Der AI Visualizer, so die Informationen auf Ihrer Website, ist die erste integrierte KI-Anwendung in Archicad. Er ist für die Variantenentwicklung in frühen Entwurfsphasen gedacht und wird lokal auf dem Rechner installiert. Wie ist das Feedback bisher?

DC: Wir stehen aktuell am Anfang mit dem AI Visualizer. Doch über 7 000 Archicad-Anwenderinnen und Anwender haben erfolgreich ungefähr 90 000 Varianten generiert. Ihr einhelliges Feedback: Sie verkürzen die Arbeitszeit für erste Entwurfsstudien und Vorentwürfe von etwa zwei bis drei Wochen auf zwei bis drei Tage. Diese Rückmeldung war für uns alle sehr beeindruckend!

In welche Richtung wird sich der AI Visualizer entwickeln?

DC: In Zukunft soll der AI Visualizer noch einfacher zu nutzen sein. Wir werden die Hardware-Anforderungen minimieren und Cloud-basierte Iterationen ermöglichen. Denn nicht alle Kundinnen und Kunden haben die allerneueste Technik. So geben wir auch ihnen einen Zugang zum leistungsstarken AI Visualizer. Darüber hinaus forschen wir parallel an weiteren KI-Tools, die in den späteren Entwurfsphasen eingesetzt werden können. Dafür nutzen wir auch Synergien mit unseren Schwesterunternehmen in der Nemetschek Group, um einen durchgängig digitalen Workflow zu gestalten – vom Entwurf bis in den Gebäudebetrieb.

KI ist für Sie beide also nicht nur eine Mode­erscheinung, sondern ein echter „Game Changer“?

YP: KI ist definitiv keine Mode, sondern ein Meilenstein. Sie wird der ganzen Baubranche helfen, effizienter und nachhaltiger zu werden. Der damit verbundene Wandel, also wie wir künftig planen, bauen und später Gebäude verwalten, hat bereits begonnen und definiert in der Zukunft einen neuen Effizienzstandard. Und das vor allem mit Blick auf die Herausforderungen des ökologischen Wandels und einen nachhaltigen Gebäudelebenszyklus. Ich bin davon überzeugt, dass insbesondere die generative KI eine viel größere Revolution darstellt als die Verbreitung des Internets in den 1990er-Jahren.

DC: Ich sehe es wie Yves. Für mich ist künstliche Intelligenz weder Hype noch Mode, sondern eine tiefgreifende Revolution. Ganz sicher: Wir werden vielversprechende KI-Entwicklungen sehen, die dann doch wieder verschwinden. Aber eben auch jene mit viel Potenzial. Es liegt also an uns, die Spreu vom Weizen zu trennen und die wirklich guten Anwendungen zu fördern und weiterzuentwickeln. Wenn über die kommenden zehn Jahre davon nur 25 oder 20 % Bestand haben, können diese uns aber die Augen öffnen.


Wo im Gebäudelebenszyklus kann KI uns in der Zukunft vorranging unterstützen?

YP: Sie wird uns in allen Lebenszyklusphasen eines Gebäudes unterstützen.  Betrachten wir die Bauindustrie, so fällt auf, wie niedrig ihr Digitalisierungsgrad ist. Dennoch ist KI nichts Neues für uns. Wir alle nutzen seit einigen Jahren maschinelles Lernen und umfangreiche Datenanalysen. Schauen wir auf den Gebäudebetrieb, das Asset Management oder das Energiemanagement, so sind hier bereits KI-Lösungen im Einsatz. Und auch wir integrieren sie zum Beispiel in Spacewell Energy, einer unserer Anwendungen aus der Nemetschek Group.

Es ist also offensichtlich, dass KI-Unterstützung auch in unserer Branche wichtiger wird und gro­ßen Mehrwert bietet. Ich würde sogar behaupten, KI spielt bereits heute und noch weitaus mehr in Zukunft eine Schlüsselrolle im Gebäudelebenszyklus. Sie hat das Potenzial, unsere Entwurfstechnologien, die Bau- und die Betriebsphase in mehrfacher Hinsicht zu revolutionieren.

Wie Daniel schon sagte, kann KI die Architektur- und Fachplanungsbüros bei ihrer Arbeit unterstützen. Durch KI werden effizientere Planungen möglich. Denn Datensätze lassen sich analysieren und vielfältige sinnvolle Entwurfsalternativen daraus entwickeln, die Varianten mit hoher Architekturqualität ermöglichen – und parallel wichtige Aspekte wie Energieeffizienz, optimiertes Tragwerk und Kosten- sowie Ressourceneffizienz vereinen.

Darüber hinaus sind Simulation und Modellierung Schlüsselanwendungen. KI-gestützte Simulations- und Modellierungstools können bereits in der Planung vorausberechnen, wie sich Gebäude und Infrastrukturbauwerke unter veränderten Bedingungen verhalten, zum Beispiel anderen Wetterbedingungen, bei Nutzungsänderungen oder veränderten statischen Belastungen. Das hilft den Planenden, potenzielle Probleme früh im Entwurfsprozesses zu erkennen und belastbare Entscheidungen zur Optimierung des Bauwerks zu treffen.

Ein dritter Anwendungsbereich der KI ist die Bauphase. Künstliche Intelligenz in Kombination mit Robotik wird hier verschiedene Aufgaben automatisieren, zum Beispiel die Baustelleneinrichtung und den Baustellenbetrieb, die Logistiksteuerung oder die Montage. Autonome Fahrzeuge und autarke Drohnen lassen sich für die Vermessung der Baustelle, die Überwachung des Baufortschritts oder für den Materialtransport einsetzen. Und auch für Sicherheitsaspekte wie die Baustellenüberwachung kann KI schon heute unterstützen. Sie wird also dazu beitragen, die Effizienz erheblich zu steigern, Arbeitskosten zu senken und die Sicherheit auf den Baustellen zu erhöhen.

Schauen wir abschließend auf die Betriebsphase eines Gebäudes, so ermöglicht KI die intelligente und vorausschauende Wartung und das durchgängige Monitoring der Gebäudetechnik – zum Beispiel durch die Analyse von Sensor- und Betriebsdaten und die Abwägung daraus resultierender Maßnahmen. KI wird uns helfen, die Energieflüsse und -verbräuche zu verbessern, was erhebliche Energieeinsparungen zur Folge hat und zur Verringerung der Umweltauswirkungen von Gebäuden beiträgt.

Kurzum: KI hat das Potenzial, jede Phase im Gebäudelebenszyklus zu revolutionieren, von der Planung über die Bauphase bis zum Betrieb und Management. Um sämtliche Optionen zu nutzen, ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Architekten, Ingenieuren, Fachhandwerkern und anderen Experten am Bau nötig. Unsere Kunden sind kreativ. Sie sind Künstler. Sie sind die Ingenieure ihrer eigenen Ideen. Deshalb ist ein ethischer und verantwortungsvoller Umgang mit künstlicher Intelligenz so wichtig für Nemetschek!

Eine Frage mit der Bitte um spontane Ergänzung: „KI wird die Art und Weise, wie wir in Zukunft bauen, verändern, weil ...?“

YP: … sie uns helfen kann, eine Art „erweiterter Architekt“ oder „erweiterter Bauingenieur“ zu werden. Denn KI verleiht uns zusätzliche Qualitäten, die essenziell und wertvoll für die Projektarbeit werden. Sie hat sich in kürzester Zeit zu einem mächtigen Werkzeug entwickelt und wird zum Eckpfeiler einer intelligenten, datengesteuerten Entscheidungsfindung. KI ist also unerlässlich für eine Branche, die nach Exzellenz, Innovation und Nachhaltigkeit strebt.

DC: … sie uns hilft, das Delta, den Abstand, zwischen Bauwirtschaft und Softwareindustrie, verarbeitender Industrie und Automobilindustrie zu verringern. Anders als diese Industriezweige planen und bauen wir immer wieder Unikate. Vielleicht können wir bei diesem Punkt nicht mit der Automobilindustrie gleichziehen. Aber wir werden einen großen Schritt in ihre Richtung gehen!

Wie könnte die AEC-Welt in zehn Jahren aussehen? Wird die Softwarelandschaft noch vielfältiger sein, werden weniger Anbieter sogar komplette Lösungen anbieten? Oder besteht die Gefahr, dass Konzerne wie Google, SAP & Co. den Markt übernehmen – wie sie es schon in anderen Bereichen getan haben?

YP: Wenn ich das heute schon wüsste, wäre ich ein gemachter Mann! Sicher ist aber, dass einige der Start-ups von heute in zehn Jahren groß und erfolgreich sein werden. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära mit bahnbrechenden Technologien, die die Art, wie wir arbeiten, bauen und leben, grundlegend verändern werden. Digitalisierung und Umweltschutz sind dabei zentrale Aufgaben, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen. Und mit Blick auf die großen, wichtigen Player setzen wir darauf, dass wir mit ihnen erfolgreich zusammenarbeiten können.

DC: Ich kann Yves nur beipflichten, möchte aber einen Aspekt ergänzen: Ich glaube nicht, dass wir schon in zehn Jahren jene harmonisierte Bauwelt haben werden, die sich viele bis dahin wünschen. Das bedeutet, dass das Bauen in China, in Europa, den USA oder Asien weiterhin sehr unterschiedlich aussehen wird. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass branchenfremde Konzerne wie Amazon, Google oder SAP in unsere Branche einsteigen. Denn die Einstiegshürden sind sehr hoch. Es wird also weiterhin einige wichtige Akteure in der Branche geben. Und einer davon werden wir sein. Doch jede Prognose bleibt vage; wie Yves schon sagte, ist das nur schwer vorherzusagen. ⇥

Interview: Tim Westphal

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