Lese-/Schaureise


Gewiss weil Carlo Scarpas Hauptwerk in Norditalien, hier zudem in Venedig, konzentriert ist, war er zu seinen Lebzeiten nicht sehr bekannt. Heute kann man durchaus davon sprechen, dass sein umfangreiches Werk bestens rezipiert ist und seiner Person eine Verehrung entgegengebracht wird wie wenigen anderen europäischen Architekten des 20. Jahrhunderts.

Publikationen hat es in der Vergangenheit viele gegeben. Manche stellten das gebaute Werk in den Vordergrund, andere Grundlagen seines Entwerfens und seiner architektonischen Haltung. Nun ist ein – man muss es gleich schreiben – ein schwergewichtiges Buch erschienen, das „sämtliche Bauten“ zeigt, aber keineswegs den Anspruch erhebt, ein Werkverzeichnis zu sein. Mehr als 200 aktuelle Fotografien zeigen die Arbeiten: Wohnhäuser, Banken, Museen, Neu- und Um- und Erweiterungsbauten und Sonderbauten (Mausoleen, Tickethäuschen, Skulpturengarten oder die profane Sanitäranlage eines Campingplatzes, den der Rezensent einmal besuchte, ohne den Architekten erkannt zu haben!).

Es gibt einen längeren Essay, der verschiedene Aspekte des Werks, aber auch der Biografie des Architekten behandelt, sowie kurz vor Ende authentisch lebendige Gespräche mit dem Besitzer einer Tischlerei, mit der Scarpa die meisten seiner Holzarbeiten machte. Und mit den Eignern einer Schlosserei, die vorsichtig darauf hinweisen, dass viele Arbeiten Scarpas längst verloren wären, würde man sie nicht teils aufwendig pflegen und instandsetzen. Dass das wunderbare Bilderwerk dahingehend wirkt, dass wir jetzt vielleicht mit offeneren Augen suchen und bewusster entdecken, dafür schon mal Dank. Dass das handwerklich perfekte und für intellektuelles Meditieren über das Machen ideale Werk zumindest höchst erstaunlich ist und die Lese-/Schaureise ein großes Lernen, auch dafür Dank! Be. K.

Emiliano Bugatti, Jale N. Erzen, Carlo Scarpa. The Complete Buildings. Prestel, München 2024, 352 S., 280 Farbfotos
55 €, ISBN 978-3-7913-7714-8

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