livMatS Biomimetic Shell, Freiburg i. B.

Auf der BUGA in Heilbronn konnte man sie sehen, die Zukunft des Bauens. Einmal aus Kunststoff (Kohlestofffaser), einmal aus Holz. Die zwei Pavillons sind Gemeinschaftsarbeiten des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE), Prof. Dr.-Ing. Jan Knippers, und des Instituts für computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD), Prof. Achim Menges. 2019 schrieben wir dazu, die Bauten seien „wegweisend, aber längst nicht zuende geforscht“. Wie es weitergeht, zeigt nun die Realisierung der livMatS Biomimetic Shell in Freiburg, über dessen Werden wir mit der Architektin Monika Göbel sprachen, die seit 2018 als Research Associate am ICD in den Projekten beteiligt ist.

Wann ist zuendegeforscht? Wenn man in einem Forschungsauftrag das Forschungsziel erreicht hat?! Oder wenn alle Fragen geklärt sind, was sehr unwahrscheinlich ist. Oder die Forscher:innen haben kein Geld mehr, Forschung zu betreiben. Jedenfalls keine, die einer Entwicklung dient. Damit ist Forschung Teil der ökonomischen lokalen bis transnationalen Entwicklung, die nicht zu verwechseln ist mit Fortschritt. Die DBZ hat das Voranschreiten der Forschungen Achim Menges über Jahre verfolgt; beharrlich ist der Architekt und längst lehrende Forscher seinen Weg gegangen, Projekt für Projekt, immer mit dem Blick auf das, was wir längst haben, aber so direkt nicht anwenden können: die Optimierung raumbildender Systeme in der Natur über Zeiträume, die evolutionär lang dauern. Entwicklungen bionischer Strukturen, die über ein Trial and Error-Verfahren Fortschritt abbilden, den wir gerne mit Effizienz oder lieber noch Effektivität beschreiben. Die Natur hat es doch vorgemacht, das perfekt einfache, totale Design. Kiefernzapfen beispielsweise, deren Reak­tion auf Luftfeuchte große Öffnungen (z. B. Fenster) in ihrer Licht- und damit auch Energiedurchlässigkeit steuert. Skelettplattenverbünde von Meereslebewesen, die ein kaum noch zu optimierendes Tragwerk darstellen usw. Es gab und gibt zahlreiche Versuchsbauten, meist aus Holz, aber auch Kohlestofffasern hatten ihre prominenten Auftritte. Aktuell nun ein Projekt in Freiburg, das vieles von dem, was über Jahre erforscht wurde, weiterschreibt, zusammenfasst etc. Der Öffentlichkeit wurde es im Juli vorgestellt, nun soll das Projekt mit Namen „livMatS Biomimetic Shell“ am Freiburger Zentrum für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien als architektonischer Inkubator für das Entwickeln innovativer, disziplin-übergreifender Forschungsideen dienen.

Der Bau selbst ist das Ergebnis von Forschung, Resultat der langjährigen Arbeit der beiden Exzellenzcluster Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) der Universität Stuttgart und Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg. In dieser Forschungsarbeit mit sichtbarem, gebautem Resultat und anstehendem Monitoring wurde über viele Detaillösungen hinaus auch der integrative Ansatz des Planens und Bauens für eine zukunftsfähige Architektur untersucht.

Überarbeitet: morphologische Prinzipien

Bei dem Pavillon im Norden Freiburgs handelt es sich um eine auf biologischen Konstruktionsprinzipien basierende Holzleichtbauweise, die, so die Planer:innengruppe, „den ökologischen Fußabdruck über den gesamten Lebenszyklus im Vergleich zu einer herkömmlichen Holzkonstruktion um ca. 50 % reduziert“. Diese ausdifferenzierte und ressourcenschonende, vollständig rückbau- und wiederverwendbare Holzsegmentschalenkonstruktion wird durch die integrative Entwicklung computerbasierter Planungsmethoden, robotischer Vorfertigungs- und automatisierter Bauprozesse sowie neuer Formen der Mensch-Maschine Interaktion im Holzbau ermöglicht.

Als eine Art Echo auf die oben genannten ersten Versuche mit Kiefernzapfen findet sich in Freiburg das in die Holzschale eingelassene, großflächige Oberlicht „Solar Gate“, das durch eine biomimetische, betriebsenergiefreie, 4D-gedruckte Verschattungsstruktur zur Regulierung des Innenraumklimas beiträgt. Zusammen mit einer geothermisch aktivierten Bodenplatte aus Recycling-Beton ermöglicht dies eine ganzjährig komfortable Nutzung mit minimaler Haustechnik. Genutzt wird der neue Raum als Erweiterung des Freiburger Zentrums für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für das Entwickeln disziplinübergreifender Forschungsideen.

Der Entwurf der Gebäudehülle basiert auf morphologischen Prinzipien des Plattenskeletts von Seeigeln, die am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baukonstruktion (ICD) und dem Institut für Tragkonstruktion und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart seit mehr als zehn Jahren erforscht werden. Die Hülle überspannt eine Fläche von rund 200 m² und besteht aus 127 unterschiedlichen Holzhohlkassetten, die über Kreuzschraubungen kraftschlüssig gefügt wurden. „In Freiburg“, so die Architektin Monika Göbel, Research Associate am ICD, „haben wir eine Weiterentwicklung der Fertigung der Hohlkassette. Für die Holzschale auf der BUGA 2019 in Heilbronn wurde jede Kassette einzeln von einer Roboterplattform mit zwei kooperierenden Robotern gefertigt. Jetzt haben wir eine anders konfigurierte Roboterplattform, die gleichzeitig vier Kassetten mit bis zu 3,5 m Länge fertigen kann. Womit wir nun größere Elemente haben, was den Baufortschritt beschleunigt.“ Zudem wurde auf die Verzahnung der Skelettplatten (in der Natur durch fingerähnliche Zinken) verzichtet; „weil die Fräsung extrem lange dauert und natürlich auch einen Energie- und Materialverbrauch darstellt.“ Der Abbund wird nun mit einer robotergeführten Kreissäge gemacht. Zwar dauere das – manuelle – Einpassen nun etwas länger, „aber das steht in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum Aufwand für die Fräsungen“, so Monika Göbel. Diese Vereinfachung in der Produktion folgte einer Anregung aus dem am Projekt beteiligten Holzbauunternehmen.

Ökologischer Fußabdruck

Wie schon angedeutet spielt der integrative Einsatz digitaler Technologien in Entwurf und Herstellung/Montage auch in diesem Projekt eine zentrale Rolle. So konnten die einzelnen Hohlkassetten aus der Gesamtgeometrie entworfen und schließlich in der Werkstatt vorgefertigt und vor Ort montiert werden. Die Elemente bestehen aus einer äußeren und inneren Decklage aus Dreischichtplatten mit Holzfaserweichplatten zwischen umlaufenden Randbalken aus Brettschichtholz, die als Module gefertigt und zusammengesetzt werden. Der Mehraufwand in Planung und Ausführung wird durch integrative computerbasierte Planungsmethoden, robotische Fertigung und automatisierte Montage kompensiert, was zu einer Reduktion des Ressourcenverbrauchs und des ökologischen Fußabdrucks führt.

Von dieser Welt: „Solar Gate“

Das „Solar Gate“, ein wetterresponsives Beschattungssystem am nach Süden ausgerichteten Oberlicht, reguliert das Gebäudeklima, indem es das Gebäudeinnere im Sommer vor hohen Wärmelasten abschirmt, während es im Winter solare Gewinne zulässt. Die passive Anpassung basiert auf einer langjährigen Zusammenarbeit der Universitäten Stuttgart und Freiburg zur Erforschung des biomimetischen Prinzips des feuchtigkeitsgesteuerten Öffnens und Schließens von Pflanzenzapfen, das durch die hygroskopische Eigenschaft des Materials und dessen anisotrope Struktur ausgelöst wird. Die 424 sich selbstformenden Beschattungselemente bestehen aus einem Mix von natürlichen und künstlichen Polymeren (in welchem Verhältnis war im Gespräch nicht zu erfahren) und befinden sich in dem ca. 10 m² großen Kastenfenster am Oberlicht. Sie wurden im 4D-Druckverfahren unter Berücksichtigung der Umwelt- und Standortbedingungen so programmiert, dass sie ganzjährig den Energiefluss steuern, ohne dass dafür irgendeine ­Betriebsenergie benötigt wird. „Die Elemente wurden noch mit Kleindruckern produziert“, so Monika Göbel, „aber hier ist man schon dabei, in architektonischem Maßstab zu fertigen.“

Der Weg in die Baupraxis

Natürlich stellt sich immer die Frage, wie man die Forschungsergebnisse in die Baupraxis überführen kann. „Für die Praxis eigenen sich schon mal die Fassadenelemente, robuste Low tec, die überall angewandt werden kann und die zudem gestalterisch ansprechend sind“, so Monika Göbel. Auch auf die Frage der optimalen Ausrichtung von Bauten in ihrem Umfeld habe man gute Erkenntnisse gewonnen. Zudem „bewerben wir uns im Exellenzcluster demnächst für die zweite Phase mit dem Fokus auf die Anwendung im Bestand. Hier wird der Blick auf das Flächenpotenzial der Dachlandschaften gerichtet. [...] Natürlich ist die Bauform deutlich expressiv, hat eine bionische und damit ganz eigene Schönheit. Die aber spielt die Themen, die im großen Kontext nachhaltigen Bauens eine zentrale Rolle spielen.“

Auch könne „die transportable Fertigungsplattform des Exzellenzclusters, die zusammen mit der Firma BEC von uns entwickelt und gebaut wurde“, für weitere Projekte eingesetzt werden. „Wir bauen demnächst eine komplette Struktur, einen Neubau für den Exzellenzcluster IntCDC an der Uni Stuttgart in Vaihingen. Da werden ein Faserträger und die Hohlkassetten zur Anwendung kommen. Damit schaffen wir rund 3 000 m² Laborfläche unter etwa 3 700 m² Dachfläche aus Hohlkassetten. [...] Aktuell sind wir hier in der Leistungsphase 5.“ Womit man schon wieder knapp vor der Baupraxis gelandet ist. Wir schauen uns das Ergebnis an, demnächst, hoffentlich! Benedikt Kraft / DBZ

www.icd.uni-stuttgart.de, www.itke.uni-stuttgart.de

Projektpartner

ICD Universität Stuttgart (Prof. A. Menges)

ITKE Universität Stuttgart (Prof. J. Knippers)

Exzellenzcluster IntCDC, Universität Stuttgart

Exzellenzcluster livMatS, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Prof. Dr. Jürgen Rühe, Prof. Dr. Thomas Speck)

Müllerblaustein HolzBauWerke GmbH (Jochen Friedel, Johannes Groner)

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