Netzwerkbogenbrücke, Stuttgart-Fasanenhof
Die neue Stadtbahnbrücke unweit des Stuttgarter Flughafens ist die weltweit erste integrale Netzwerkbogenbrücke, die vollständig an Zuggliedern aus kohlenstofffaserverstärk-tem Kunststoff aufgehängt ist. Das überzeugte auch die Jurymitglieder des Deutschen Ingenieurbaupreises und des Deutschen Brückenbaupreises, die das innovative Bauwerk zum Siegerprojekt kürten.
Im Vergleich zu klassischen Stabbogenbrücken ist die Netzwerkbogenbrücke Dank des Einsatzes von Carbon-Hängern deutlich steifer. Das wiederum hat zur Folge, dass die Durchbiegung unter dem Einfluss der Verkehrslast deutlich geringer ausfällt und die Brücke verhältnismäßig hohen Belastungen standhalten kann. Dies ist insbesondere bei Eisenbahnbrücken von großer Bedeutung, denn ist die Durchbiegung unter entsprechender Krafteinwirkung zu groß, besteht die Gefahr einer Schienenkrümmung und der Zug entgleist.
Foto: Andreas Schnubel
Die Verkehrsführung in Stuttgart ist eine Wissenschaft für sich – davon können die vielen Tausend Pendler, die sich dort täglich durch ein Wirrwarr an Baustellen, Umleitungen und Tunnel kämpfen, nur ein Lied singen. Getoppt wird dies nur noch von der irrwegigen Infrastruktur rund um den im Jahr 1936 errichteten Stuttgarter Flughafen im Leinfelden-Echterdingen. Da ist zum einen die permanent überlastete A8 mit dem Knotenpunkt „Echterdinger Ei“ und zum anderen die ebenfalls hochfrequentierte B27, die an diversen Gewerbegebieten und all jenem vorbeiführt, das im Stuttgarter Talkessel keinen Platz mehr gefunden hat. Als sei die Lage hier nicht schon prekär genug, wurde im Zuge des Großbauprojekts „Stuttgart 21“ Anfang der 2010er-Jahre die S-Bahn-Verbindung zum Flughafen gekappt. Um Reisende aus dem Stuttgarter Zentrum sowie aus den Stadtgebieten Degerloch, Möhringen und Fasanenhof nicht dauerhaft vom Luftverkehr und dem Messegelände abzuschneiden, wurde eine neue S-Bahn-Anbindung benötigt. Die herausfordernde Verkehrslage ließ dabei lediglich eine Variante zu, bei der die Trasse von der Bestandshaltestelle Stuttgart-Fasanenhof ausgehend in einer engen Kurve über die sechsspurige A8 mit ihren vier Ein- und Ausfädelspuren geführt wird. Auf Basis jener Rahmenbedingungen wurde folglich im Jahr 2012 ein geladener Wettbewerb ausgelobt, den das Stuttgarter Ingenieurbüro „schlaich bergermann partner“ (sbp) mit dem Entwurf einer eleganten Netzwerkbogenbrücke für sich entschied.
In hohem Bogen spannt sich die integrale Netzwerkbogenbrücke über die A8: Das Tragwerk der Brücke besteht aus zwei parallelen Stahlbögen und der an Carbonseilen abgehängten längs- und quergespannten Betonfahrbahnplatte
Foto: sbp/Andreas Schnubel
Geht nicht, gibt’s nicht
Bereits die erste Entwurfsskizze sah eine integrale Bogenbrücke mit kreuzweise verspannten Trägern vor, die die A8 stützenfrei überspannen sollte. Lorenz Haspel, leitender Ingenieur bei sbp, erinnert sich: „Nachdem wir den Wettbewerb für uns entscheiden konnten, habe ich mich dazu bereit erklärt, die Leitung für dieses Projekt zu übernehmen. Die Realisierung jener integralen Brücke war alles andere als leicht, denn schließlich handelt es sich hierbei um einen relativ seltenen Brückentyp.“ Obgleich die Bauherren das elegante Brückendesign befürworteten, bemängelten sie die insgesamt hohen Baukosten. Somit waren die Ingenieure gefordert, eine entsprechende Entwurfsanpassung vorzunehmen. Um weiterhin an der Idee einer Netzwerkbogenbrücke festhalten zu können, wurden mehrere Möglichkeiten einer Baukostensenkung eruiert. Dabei sah eine Option vor, statt der vorgesehenen Stahl-Zugelemente vorgespannte Hänger aus kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen zu verwenden: „Wir haben damals gemeinsam mit der TU Berlin CFK-Werkstoffe erforscht. Das wiederum führte uns zu der Idee, die Brücke mit Carbon-Hängern auszustatten, zumal wir hierdurch Baukosten sparen konnten“, so Lorenz. In einem weiteren Schritt traten die Ingenieure mit dem Schweizer Andreas Winistörfer, Gründer und CEO von Empa-Spin-Off Carbo-Link, in Kontakt. Das Unternehmen stellte bereits seit über 20 Jahren CFK-Rückhaltestangen für Baukräne her und erklärte sich bereit, die 72 benötigten Carbon-Hänger für die Brücke zu produzieren.
Die Stadtbahnbrücke in Stuttgart ist die weltweit erste ihrer Art mit Carbon-Hängern. Durch das filigrane Netz scheint die Fahrbahn über dem Boden zu schweben
Foto: sbp/Andreas Schnubel
Kaum war jene Hürde genommen, folgte der nächste Stolperstein: Da die Carbon-Zugelemente über keine bauaufsichtliche Zulassung verfügten, galt es eine Zustimmung im Einzelfall vom Land Baden-Württemberg zu erwirken. „Wir gehen immer wieder auch Wege abseits der Norm – frei nach dem Motto: Geht nicht, gibt’s nicht. Außerdem kommt es immer wieder vor, dass es für eine bauliche Lösung kein Regelwerk gibt. Insofern ist eine solche Zustimmung im Einzelfall auch keine Seltenheit. Im Hinblick auf die Stadtbahnbrücke bestand die Schwierigkeit vielmehr darin, dass für solche Carbon-Zugglieder bislang nur wenige Versuchsergebnisse vorlagen und es somit auch keine Belege für die guten Eigenschaften des Materials im Hinblick auf eine Ermüdungsbeanspruchung vorlagen.“ Folglich beauftragte die SBB die Carbo-Link AG im schweizerischen Fehraltdorf mit der Herstellung von drei Prototypen und das Team von der „Swiss Federal Laboratories for Materials Science and Technology“ um Professor Urs Meier und Robert Widmann mit der Durchführung entsprechender Experimente. Das Vorhaben glich einer Mammutaufgabe: Schließlich galt es hierbei, eine über 100 Jahre andauernde Belastung der CFK-Hänger (das entspricht in etwa 11 Mio. Überfahrten) in relativ kurzer Zeit zu simulieren. Die aus Zeit- und Kostengründen gewählte hohe Schwingfrequenz von 4,2 Hz führte anfänglich zu einer Überhitzung des Materials. Demzufolge galt es, die Lastamplitude im Versuchsaufbau zu reduzieren, wonach die untersuchten Hänger die Lastzyklen ohne Probleme überlebten. „Der Genehmigungsprozess der Carbon-Hänger war eine recht aufwändige Angelegenheit“, erklärt Haspel. „Dass das gelungen ist, war nicht allein unser Verdienst. Das haben wir insbesondere dem Engagement von Urs Meier sowie Prüfingenieurin Astrid Kohlmann und der Bauherrschaft zu verdanken.“
Die Zugstangen haben einen Durchmesser von nur 32 mm, sind aber gleichzeitig dauerhafter bzw. ermüdungsresistenter als konventionelle Stahlseile
Foto: sbp/Andreas Schnubel
Der Augenblick zählt
Nachdem die Zustimmung für die CFK-Hänger erteilt worden war, konnte das Projekt in die nächste Phase gehen. Aufgrund der besonderen örtlichen Rahmenbedingungen wurde die 127 m lange Konstruktion samt der zwei Brückenbögen und Fahrbahnplatten ab dem Jahr 2019 neben der Autobahn vorgefertigt. „Unser Ziel war es, dass der Autoverkehr durch den Brückenbau so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund haben wir von Anfang an eine Lösung verfolgt, bei der die Fahrspuren der Autobahn komplett stützenfrei bleiben.“ Als die Brücke vormontiert war, galt es, diese in Position zu bringen: Hierfür wurde die Autobahn im Frühjahr 2020 für mehrere Stunden gesperrt und eine etwa 30 cm dicke Kiesschicht auf die Fahrbahn geschüttet. Anschließend wurde das Bauwerk über riesige Rollbretter in Position gebracht – ein besonderer Moment, wie Haspel berichtet: „Die Brücke nach all den Jahren der Planung hoch oben über der Autobahn zu sehen, war ein ganz besonderer Augenblick. Bei diesem Vorhaben war höchste Konzentration gefragt, denn schließlich standen uns hierfür nur wenige Stunden zur Verfügung.“ War die Brücke an Ort und Stelle gebracht, erfolgte die Herstellung der geneigten Stützen und der Seitenfelder sowie der technische Ausbau. Anfang 2021 wurden die Gleise verlegt und die Kabel und Signale eingebaut. Nach der finalen Einstellung der Carbonhänger wurde das innovative Bogentragwerk im Dezember desselben Jahres dem Stadtbahnverkehr übergeben.
Die Fliehkräfte, die aus der Kurvenneigung der Fahrbahn resultieren, werden über die 70 Carbon-Zugelemente in das Brückenfundament abgeleitet
Foto: sbp/Andreas Schnubel
Abseits gewohnter Wege
Mit jener besonderen Leistung haben die Ingenieure von sbp nicht nur die Fachwelt, sondern auch die Jurymitglieder des Deutschen Ingenieurbaupreises beeindruckt, weshalb diese das Bauwerk im Jahr 2022 zum Siegerprojekt kürten. Im vergangenen Jahr wurde die Stadtbahnbrücke außerdem mit dem Deutschen Brückenbaupreis in der Kategorie Straßen- und Eisenbahnbrücken ausgezeichnet. In der Laudatio wurde neben ihrer überragenden Fertigungsqualität auch der hohe Innovationsgrad sowie die guten Nachhaltigkeitseigenschaften des Tragwerks betont. Letzteres wirft Fragen auf, handelt es sich doch bei dem zur Anwendung gekommenen Carbon um ein Erdölprodukt, dessen Herstellung vergleichsweise energieintensiv ist. „Tatsächlich ist der ökologische Fußabdruck von 1 t Carbon gegenüber derselben Menge Stahl relativ groß. In dem Sinne kann man hier nicht von einem nachhaltigen Baustoff sprechen“, erklärt Haspel. „Das könnte sich in Zukunft durch umweltschonendere Herstellverfahren ändern. Für den Moment sehe ich die Anwendung von Carbon dort gerechtfertigt, wo durch seinen Einsatz an anderer Stelle eine Materialeinsparung erzielt werden kann.“
Die „Keilsche“ Brückenskizze: Der Entwurf des sbp-Chefingenieurs Andreas Keil sah von Anfang an eine integrale Bogenbrücke aus filigranen Zugelementen vor.
Abbildung: Andreas Keil/sbp
Demnach werde es in Zukunft immer wichtiger, die Bauwerke im Hinblick auf einen effizienten Materialeinsatz zu optimieren: „Wir sollten uns von dem Muster lösen, ein spezielles Material oder Verfahren in den Himmel zu loben. Grundsätzlich hat jeder Werkstoff seine Daseinsberechtigung, wenn man ihn richtig zur Anwendung bringt. Ich denke, uns ist allen klar, wie wichtig eine funktionierende Infrastruktur ist und dass hierfür grundsätzlich hohe Investitionen notwendig sind. Dementsprechend wird der Effizienz von Tragwerken auch im Brückenbau eine zunehmend wichtige Rolle zuteil. Ich möchte den Kollegen einfach Mut machen, ihre Arbeit durch Fragen wie ‚Brauchen wir das wirklich?‘ oder ‚Geht das auch anders?‘ immer wieder kritisch zu reflektieren – und wömöglich kann auch dieser Beitrag dazu anregen, konstruktiv wie gestalterisch neue Wege abseits des gewohnten Terrains zu gehen.“ Yoko Rödel/DBZ
Anschlussdetail, ohne Maßstab
1 Schlaufenende der Carbonstange, Öse aus Titan
2 Augblech, t=50 mm, Anschluss an Deck
3 Augblech beidseitig, t=25 mm, mit eingefrästen Nuten
4 Schiebebuchse mit Deckelblech, t=25 mm
5 Deckelblech, t=5 mm
6 Lasteinleitungsplatte (Halb-Bolzen), t=38 mm
7 Distanzscheiben, t=1-10 mm, zum Einlegen beim Spannvorgang
8 Deckelplatte: Bolzensicherung und Lagesicherung der Distanzscheiben, t=5 mm
9 Schrauben 2 x M12, zur Sicherung der Deckelplatte
10 Bolzen, d=90 mm:
11 Augblech beidseitig (oben), t=25 mm
12 Bogenbleche
13 Presse zum Spannen, z. B. Energpac RCH 202 (215 kN), Gewindestange – M24
14 Distanzscheiben t=5 mm
Abbildung: schlaich bergermann partner (sbp)
⇥DBZ Heftpartner formTL ingenieure für
Projektdaten
Objekt: Stadtbahnbrücke
Standort: Stuttgart-Fasanenhof
Brückentypologie: Integrale Netzwerkbogenbrücke mit Hängern aus Carbon
Bauherr: SSB, Stuttgarter Straßenbahnen AG
Planer: schlaich bergermann partner (sbp), Stuttgart,
www.spb.de
Baufirma: ARGE Adam Hörnig + MCE, www.hoernig.de
Zertifizierungen/Preise: Deutscher Ingenieurbaupreis 2022, Structural Awards 2022, Deutscher Brückenbaupreis 2023
Fachplanung
Tragwerksplaner: schlaich, bergermann, partner (sbp), Stuttgart, www.spb.de
Weitere Fachplaner: ADAM Hörnig, www.hoernig.de,
MCE, www.mce-consult.com, EMPA/CH, www.empa.ch,
MPA, mpa-tec.com,
Michael Syrjakov www.th-brandenburg.de
Hersteller
Carbo-Link, Fehraltdorf/CH,
www.carbo-link.com
Technische Daten
Stützweite zwischen Widerlagern: 107 m (Achse 20 u Achse 50)
Spannweite Bogen: 80 m
Bogenstich: 8,5 m
Gesamtlänge Überbau: 130 m
Breite Überbau: 8,5–11,7 m
Brückenfläche: 1 424 m²