Übersicht in der Fülle
Was ist Bioprotopia? Zunächst einmal geht der noch junge Begriff auf „Protopia“ von Kevin Kelly zurück, einen US-amerikanischen Autor, dessen sich mit Biologismen und Gesellschaft befassende Arbeiten in viele Sprachen übersetzt sind. Dieser wollte mit der Protopia einen Gegenentwurf zur Utopia schaffen: Protopia als andauernder, in kleine, aber sehr konsequente Schritte gegliederter Prozess, dessen Ziel eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für alle Menschen auf diesem Planeten ist.
Nun ist die Bioprotopia vielleicht eine von vielen Möglichkeiten, eine durchaus mit realen Prozessen markierte Vision von einer Welt, in der Gebäude beispielsweise selbst wachsen, sich instandhalten, sich in der Nutzung verändern und natürlich Teil sind des Biotops Erde.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Fokus auf das Gebaute bedeutet hier nicht, Gebautes zu zeigen. Weder Visualisierungen noch Arbeiten, die das Bauen mit Unterstützung der Biologie (Algen, Pilze, Bakterien etc.) konkret zeigen, sind zu finden. Auch keine künstlerischen Arbeiten, die mit Pilzstrukturen Skulpturen schaffen. Es geht schlicht um den Forschungsstand. Und die Autorinnen schreiben es ziemlich zu Beginn: Wir stehen noch ganz am Anfang. Und nicht vor den schon zur Beliebigkeit degradierten Render-Bildern gebauter Utopien.
Der Sammelband unternimmt nun, grafisch höchst übersichtlich und inhaltlich gut strukturiert, die Arbeit, das vorhandene Wissen, die vorhandenen Forschungen – praktische wie theoretisch wissenschaftliche – überblicksweise darzustellen. Gegliedert in Kapitel wie „Biocellular Concret Facade, „Towards a Self-sustaining Home“, „Bacterial Hygromorphs“ oder „Photosynthetic Biocomposites“ durchwandern die Herausgeber die zurzeit (in Großbritannien) er- und beforschten Arbeitsfelder dieses großen Themas: Bauen als integraler Teil des Biotops Erde. Das Meiste ist vielleicht nicht neu, doch die Zusammenschau der vielen Arbeiten, Studien und Ansätze, die Positionen aller Protagonistinnen ergibt am Ende das sichere Gefühl, dass das „Looking Beyond ‚Net-Zero‘“ eine Möglichkeit ist, vielleicht gar die einzige? Die Zukunft einer biologischen Architektur, so die Autoren am Schluss, liegt in unser aller Hand, aber tatsächlich brauchen wir hier die kollektive Intelligenz vieler Protagonisten, um Bioprotopia zu starten, um den Prozess in Gang zu setzen. Das zu tun, dazu motiviert die Lektüre dieses mit Blick auf die Vielschichtigkeit der Thematik hervorragend einfach gemachten Buchs. Be. K.