Raumprobe, Stuttgart

Vom Tierknochen bis zum Alu-Schaum

DBZ-Chefredakteur Michael Schuster im Gespräch mit Artdirektor Jörg Schmitt

Die Materialwelt der Raumprobe umfasst 60 000 Materialmuster sowie etwa 50 000 Materialfotos. Es gibt wöchentlich 4 500 Besucherinnen und Besucher auf der Homepage, und in der Onlinedatenbank sind über 4 500 Materialien registriert. 2013 wurde der erste Materialpreis ausgelobt, ein Materialien fokussierender Wettbewerb, der im jährlichen Wechsel besondere Materialien und deren Anwendung im Projekt auszeichnet. Seit 2017 ist die Raumprobe anerkannter Bildungsträger der AKBW. 2023 wurde die Raumprobe 18 Jahre und fusionierte mit der Material Bank, mit der man fortan gemeinsame Wege geht.

Lieber Jörg, seit wann gibt es die Raumprobe, seit wann bist Du dabei und was sind Deine Aufgaben?

Die raumprobe wurde 2005 von Hannes Bäuerle und Joachim Stumpp gegründet. Ich kenne die raumprobe seit Anfang an und habe bereits die erste räumliche Inszenierung damals direkt nach dem Studium mit Freunden umgesetzt. Seit 2013 bin ich bei der Raumprobe beschäftigt. Tatsächlich sind meine Aufgaben sehr vielfältig: Ich bin Artdirektor, das heißt, alle Kreativleistungen gehen über meinen Tisch. Weiterhin leite ich die Redaktion und erstelle in diesem Zusammenhang unseren Newsletter, schreibe Artikel für die Homepage und auch externe Beiträge für Magazine.

Ich berate recherchierende Personen in Bezug auf Materialien, unterstütze bei der Materialrecherche, aber vor allem auch bei der Projektierung, sowohl Recherchierende aus der Gestaltung, aber auch Unternehmen. Ich verantworte den Materialpreis, der im jährlichen Wechsel ausgerufen wird und einmal Materialien in den geraden Jahren und in den ungeraden Jahren Materialieneinsatz, also Architektur- und Innenarchitekturprojekte, auszeichnet.

Außerdem moderiere ich Veranstaltungen, gebe Führungen durch die raumprobe und unterstütze die Geschäftsleitung in vielen Bereichen oder vertrete sie. Sprich die Aufgaben sind so vielfältig wie die Materialbibliothek als solche.

Vielleicht kannst Du für diejenigen, die noch nicht bei Euch in Stuttgart waren, die Ausstellung und deren Umfang beschreiben.

Organisiert wie eine Bibliothek, umfasst unsere Materialausstellung 4 500 bis 5 000 Material­tafeln, auf denen wir eine beeindruckende Vielfalt an Materialien der Baubranche präsentieren. Hinter jeder Tafel befinden sich jeweils weitere Muster, sortiert nach Farbstellungen, Materialstärke und anderen Parametern, sodass wir insgesamt mehr als 60 000 Materialmuster in der Ausstellung haben. Täglich bekommen wir neue Muster zugeschickt, da sich Kollektionen ändern oder es neue Materialien gibt. Aus diesem Grund sind wir 2019 umgezogen. Seitdem haben wir zwei Ebenen mit 1 200 Quadratmeter Ausstellungsfläche.

Gibt es bei dieser Vielzahl von Materialmus­tern eine Gliederung und wenn ja, wie sieht die aus?

Jede Person, die zu uns kommt, hat natürlich eine andere Herangehensweise an die Recherche. Die einen suchen nach einem Material oder einem Werkstoff, andere kommen über die Anwendungsklasse oder über eine Farbigkeit, das ist komplett individuell. Deshalb bieten wir auch unterschiedliche Herangehensweisen an. Im Erdgeschoss beispielsweise sind die Materialien nach materialübergreifenden Selektionen sortiert, die sich an häufig genutzten Suchbegriffen auf unserer Datenbank orientiert. Im ersten Stock sind die Materialien nach Materialklassen sortiert, man kann beispielsweise nach einem Holz oder einem Textil oder nach Metall suchen. Weiterhin gibt es hier auch noch die Möglichkeit, nach Anwendungsbereichen zu suchen, also beispielsweise nach Fassadenmaterialien, Bodenbelägen, textilem Bodenbelag, nach fugenlosem Bodenbelag und vielem mehr. Abschließend gibt es noch einen Premiumbereich, hier haben Unternehmen die Möglichkeit, sich großflächig zu präsentieren und ein ganzes Regal zu bespielen.

Kannst Du sagen, nach welchen Suchbegriffen­ am häufigsten gesucht wird?

Am häufigsten wird nach den Begriffen Ökologie, Nachhaltigkeit, Brandschutzzertifizierung und akustische Wirksamkeit gesucht, das sind die relevantesten Suchbegriffe. Brandschutz beispielsweise dahingehend, dass insbesondere im öffentlichen Bereich über die Materialität sehr schnell geklärt werden kann, ob ein Material angewendet werden kann oder nicht. Entscheidendes Kriterium ist hier beispielsweise die Brandschutzzertifizierung. Akustische Wirksamkeit resultiert ganz stark aus der Bauweise der vergangenen Jahrzehnte. Räume sind großzügiger, offener geworden. Beton war ein sehr relevantes Material, wodurch die Räume auch schallhärter wurden. Es musste nachgerüstet werden. Die Fragestellung ist sehr häufig, wie schaffe ich es, einen Raum trotzdem akustisch angenehm, akustisch wirksam auszugestalten? Und das ist tatsächlich mittlerweile auch zu einer eigenen Disziplin geworden. Sehr häufig werden uns dazu Fragen gestellt. Am häufigsten werden uns aber Fragen rund um das Thema Nachhaltigkeit gestellt, das ist der Suchbegriff, der am häufigsten eingegeben wird. Die meisten Materialien, die wir zugeschickt bekommen, haben einen Bezug zu dem Begriff Nachhaltigkeit. Es ist ein Begriff, der sich nicht nur bei uns in der Materialwelt, sondern natürlich auf ganz viele Ebenen des politischen und gesellschaftlichen, kulturellen Lebens bezieht. Bei dem Begriff der Nachhaltigkeit arbeiten wir auch mit textlichem Wissen, um in diesem Bereich auch noch mal lexikalisch zu unterstützen, weil das ein schwer zu fassender Begriff ist.

Was ist das außergewöhnlichste Material, das Euch zugeschickt wurde, wo selbst Ihr gesagt habt, was ist das denn?

Das ist eine gute Frage. Also ad hoc fällt mir ein Material ein, das uns, ich glaube 2020, erreicht hat. Normalerweise erreichen uns ja nur Materialien, die auf dem Markt sofort verfügbar sind. Bei Studien im Materialpreis ist das anders. Da kam eine Studentin auf uns zu mit einem Plattenmaterial, das transluzent oder auch opak sein kann, aus Tierknochen.

Aus Tierknochen?

Ja, aus Tierknochen. Es ging wirklich um die Oberfläche und die Erscheinung. Und ihre Herangehensweise war auch eine nachhaltige, ja, oder eine fragenaufwerfende. Weil sie die Frage gestellt hat oder in den Diskurs gebracht hat, ein Material oder ein Tier ganzheitlich zu nutzen. Nicht nur das Schnitzel zum Verzehr zu nutzen, sondern wenn schon ein Tier für menschliche Bedürfnisse sterben muss, warum nutze ich nicht dann das ganze Tier als solches? Die Studierende hat aus Knochenmehl ein Verbundmaterial entwickelt, was Knochenelemente miteinander verbindet. Das hat mich persönlich berührt und auch wirklich zum Nachdenken gebracht.

Weiß Du, ob das Thema in irgendeiner Art und Weise weiterentwickelt wurde?

Das weiß ich tatsächlich nicht, das wäre mal interessant herauszufinden. Viele Studien, die uns im Materialpreis erreichen, sind Studien, die nachhaltig gedacht sind. Die Studien von Studierenden sind teilweise vorreitend im Vergleich zu großen Unternehmen. Ein Grund könnte sein, dass man die Möglichkeit hat, sich innerhalb einer Studie zu fokussieren, sich ein einzelnes Element rauszu­picken und weiterzuentwickeln. Ein weiterer Grund könnte sein, dass der wirtschaftliche Aspekt bei diesen Studien im ersten Step keine relevante Rolle spielt.

Ein Grund wird auch sein, dass es keine Leitplanken gibt und man dadurch bedingt nicht die Möglichkeit hat, sich weitergehende Gedanken zu machen.

Ab und zu schaffen es solche Studien bis zur Produktreife, in diesem speziellen Fall war die Studie aber auch nicht darauf angelegt, dass es zur Serienfertigung kommen sollte. Das Thema Studien ist ein interessantes Thema. Aktuell ist es spannend anzusehen, wie an der Universität Stuttgart sehr viel im Bereich Holz weiterentwickelt wird und sich aus einem Material, das wir eigentlich seit Tag und Jahr kennen, Innovationen entwickeln. Das finde ich faszinierend, und das sind Materialien, die mich besonders reizen.

Kannst Du eine Tendenz erkennen, dass klassische, alte Materialien eine Renaissance erleben und welche sind das?

Relativ viele, würde ich sogar behaupten, beispielsweise Stein, Lehm, Holz und Stroh. Gerade entdecken wir viele archaische Materialien ­wieder, die eigentlich seit Jahrzehnten in der Architektur und Innenarchitektur, also in der Baubranche, zu finden sind, aber aufgrund von technischem Fortschritt vielleicht in Vergessenheit geraten sind  weil es eben Naturmaterialien sind, die nur einen beschränkten Einsatzbereich hatten oder nicht so langfristig UV-beständig oder einsatzfähig waren und gealtert sind. Technische Entwicklungen und Verfahren haben es ermöglicht, diese aus einem Kunststoff oder aus einem Hybrid zu entwickeln, weiterzuentwickeln, sodass es uns der technische Fortschritt ermöglicht hat, alles Mögliche im Grunde überhaupt zu ersetzen oder zu imitieren. Und dadurch sind eben viele natürliche Materialien und Prozesse verloren gegangen. Und die erleben gerade eine relativ große Renaissance.

Dann könnte man rückblickend die These aufstellen, dass diese Weiterentwicklungen, beispielsweise Verbundwerkstoffe, gar keine Innovationen waren. Heute gehen wir den, wie ich finde, richtigen Weg und wollen Produkte wieder sortenrein trennen. Was fällt dir bei dem Stichwort kreislauffähige Materialien ein und seit wann sind diese stärker in das Bewusstsein gekommen?

Der technische Fortschritt hat uns ermöglicht, ein Material zu entwickeln, das beispielsweise im Außenbereich nicht bemoost. Ein wesentlicher Nachteil bei diesen Materialien, die entwickelt worden sind, um sich der Natur zu widersetzen, ist, dass sie nicht gut altern, sie entwickeln keine Patina. Irgendwann haben sie nicht mehr gefallen und dann hat man sie weggeworfen. Darum hat sich niemand Gedanken gemacht, das war so und das passiert heute noch, dass wir Dinge einfach nur nutzen, um sie wegzuwerfen. Das hat die Menschheit so lange gemacht, bis sie festgestellt hat, dass das so nicht mehr funktioniert, eigentlich noch nie funktioniert hat, aber das jetzt in einer Menge passiert, dass wir da einfach umdenken müssen. Deshalb sind immer mehr und mehr Materialien auf den Markt kommen, die wiederverwertet werden können. Inzwischen überlegt man sich im Ideal­fall bevor man ein Material auf den Markt bringt, wie kann ich dieses Material anschließend einer weiteren Nutzung zuführen.

Ein anderes Thema sind beispielsweise Messestände. Wenn der Messestand einen Kratzer hatte, wurde er weggeschmissen oder eingestampft. Weil auch der Aufwand, den umzubauen, umzuplanen, aufzubewahren, wieder zurück zu transportieren, zu hoch war, dachte man.

Mittlerweile hat sich der Blickwinkel glücklicherweise so verändert, dass immer mehr Menschen dieses Prozedere hinterfragen und zu der Erkenntnis kommen „Ja, eigentlich blöd. Geht doch auch anders.“ Der Nachwuchs macht es uns vor. Vermehrt kommt es zu der Fragestellung, wie können wir anders mit unserem Leben, unserem Verbrauch, unserem Gestaltungsansatz umgehen? Ziel muss es sein, dass Materialien länger oder dauerhaft im Einsatz sind.

Lass uns etwas spezieller auf ein paar Materialien eingehen. Neulich habe ich das erste Mal von Aluminiumschaum gehört. Wofür braucht man dieses Material und seit wann kennst Du es?

Es handelt sich um ein sehr spezielles Material, das nur wenige Einsatzbereiche hat; es wird vor allem im Leichtbau eingesetzt. Verwendung findet es als Fassadenmaterial, wird aber auch in der Automobilbranche verwendet. Ich kenne das Material seit 2013. Das Besondere an Aluminiumschaum ist, dass es als Leichtbaumaterial konzipiert ist und im Grunde genommen aus einem Aluminiumblech entsteht. Normalerweise bestehen Leichtbaumaterialien aus einem Kernmaterial, das ist entweder eine Wabenplatte aus Papier, aus einem Kunststoff oder aus einem Kork. Oftmals haben Leichtbaumaterialien eine Wabenstruktur, eine sehr hoch perforierte Struktur, die oben und unten mit einer Decklage abgedeckt ist.

Ein Sandwich-Material besteht im Grunde genommen aus einem Kernmaterial und zwei Plattenmaterialien, die miteinander verbunden werden. Es können unterschiedliche Werkstoffe sein, aber selbst wenn es der gleiche Werkstoff ist, handelt es sich um drei Elemente, die miteinander verklebt werden müssen. Diese Verklebungen sind nicht immer dauerhaft. Bei Aluschaum ist es so, dass in die Mittellage des Alublechs Druckluft eingebracht wird. Dadurch schäumt sich das Material auf eine gewisse Materialstärke auf. Das führt dazu, dass man innen ein poröses, leichtes Kernmaterial hat und die Decklagen beide Male geschlossen sind. Es handelt sich um ein massives Material, das nicht miteinander verklebt ist. Also ist es letztlich sortenrein und kann auch wiederverwendet und recycelt werden.

Trotzdem sorgt es für viele Diskussionen. Weil ich natürlich in der Aluminiumerstellung enorm viel Energie verbrauche und auch viel Luft oder Energie benötige, um den Schaum aufzublasen. Bei der Verwendung von Aluminiumschaum ergeben sich unter nachhaltigen Aspekten die Fragestellungen Energieverbrauch versus Materialverbrauch oder Energieverbrauch versus Materialeinsparung.

Wir hatten beim Materialpreis eine Einreichung mit einem 4D-gedruckten, zellulose-gefüllten Biokunststoff. Ist es die Zukunft, Naturmaterialien - in diesem Fall Zellulose - mit einem Biokunststoff zu verbinden?

Jetzt ist die Frage, wie visionär man ist oder wie sehr man in seinen Erfahrungen, Traditionen verhaftet ist. Also tatsächlich, glaube ich, ist es schon die Zukunft. Und ich glaube, wir sind jetzt gerade an einem Zeitpunkt, wo sich relativ viel umstellen wird und wir so etwas häufiger sehen werden.

Dass man aus einem Material dreidimensional druckt, ist ja relativ neu. Dass wir uns der Natur bedienen und Biomaterialien oder natürliche Materialien nehmen oder dass wir uns von der Natur aufgrund ihrer Architektur inspirieren lassen, das wird uns jetzt häufiger begegnen. Durch die Weiterentwicklung des 3D-Drucks passiert in diesem Bereich enorm viel. Früher waren die Dinge vielleicht technischer, jetzt werden sie aufgrund von Naturfasern auch wieder haptischer. Wir werden uns die Natur weitaus häufiger als Vorbild nehmen, um das in unserem Alltag im Sinne der Nachhaltigkeit zu verwenden.

Das war ja schon fast ein schönes Schlusswort. Aber eine letzte Frage hätte ich dennoch. Jetzt haben wir so viel über Materialien gesprochen, aber ein Material würde mich dennoch interessieren. Was ist denn eigentlich dein Lieblingsmaterial? Wenn man von einem Lieblingsmaterial bei dir sprechen kann.

Als ausgebildeter Innenarchitekt bin ich natürlich Ästhet. Deshalb mag ich Materialien, die visuell einfach sehr ansprechend sind, gerne. Auf der anderen Seite mag ich Materialien, die überraschen. Die kreativ sind und vielleicht ein Verfahren aus einem Bereich mit einem Werkstoff aus einem anderen Bereich zusammenbringen und somit das Material oder das Verfahren weiterentwickelt wird. Und wenn dann am Ende etwas herauskommt, dass ich vielleicht nicht auf den ersten Schritt lesen kann, oder so weitergedacht ist, dass ich die einzelnen Bestandteile nicht rauslesen kann, und dabei was Wunderschönes rauskommt, mag ich das einfach fantastisch gerne. Außerdem gehören natürliche Materialen zu meinen Lieblingsmaterialien.

Beispielsweise ein Terrazzo, der ein ganz klassisches Material ist, aber gerade sehr zeitgemäß umgesetzt wird, indem Recyclingmaterialien eingesetzt werden. Also eine Komponente des Recyclings mit integriert wird und, als Zuschlag, eben nicht ein reiner Stein, sondern Abfälle aus der Glasproduktion zum Einsatz kommen oder Walnusskerne, solche Materialien mag ich. Ich mag weiterhin Materialien, die eine gewisse Handwerklichkeit haben, wie Seidenmalerei auf Holz oder Stroh als hochwertige, ästhetische Wandverkleidung. Das sind Materialien, die mich besonders beeindrucken, weil sie aus dem Zusammenspiel von Visionen, Handwerk und Kreativität entstehen.

    Interview: Michael Schuster/DBZ

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