Stadt in der Stadt

Wohnen im ehemaligen Industrieviertel,
Molenbeek-Saint-Jean/BE

Vor den Toren Brüssels ist mit Duchesse ein Projekt von besonderer Tragweite entstanden: Das Brüsseler Büro Notan Office bezeichnet das Ensemble selbst als „microcity“, als kleine Stadt in der großen, die auch eine Hommage an die belgische Industriearchitektur ist.

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen – wer sich dabei noch mit dem Zug in ferne Lande begibt, sowieso. Gesetzt dieses Falles kann es passieren, dass man vor den Toren Brüssels wortwörtlich auf dem Abstellgleis landet und bei einem etwas unfreiwilligen Abendspaziergang die kontrastreiche Architektur Belgiens für sich entdeckt. Jenes Spiel mit den Gegensätzlichkeiten kommt nicht von ungefähr, ist doch dies seit jeher ein untrennbarer Bestandteil der Identität dieses Landes. Der föderale Staat Belgien liegt auf der Bruchlinie des germanischen und lateinischen Kulturkreises, weshalb dort drei Sprachräume koexistieren: der flämische im Norden, der französische im Süden und der deutsche im Osten. Innerhalb dessen ist die offiziell zweisprachige Metropole Brüssel zu einem Schmelztiegel der Kulturen geworden. In der Architektur kommt die kulturelle Vielfalt durch eine spannungsreiche Formen- und Farbensprache mit eklektisch gestalteten Fassaden unterschiedlicher Epochen zum Ausdruck, wie Frédéric Karam erklärt. Der Architekt, der gebürtig aus dem Libanon stammt und in der Schweiz aufgewachsen ist, schätzt den Dia­log zwischen Tradition und Gegenwart. „Ich habe in der Vergangenheit an den verschiedensten Orten in der Welt gelebt, aber erst als ich hier ankam, habe ich so etwas wie Heimat verspürt. Die Diversität dieses Landes fasziniert mich jeden Tag aufs Neue. In der Architektur spiegelt sich das durch eine große Bandbreite an Typologien und experimentellen Details wider. Für mich ist dieser Ansatz sehr spannend.“

Die Stadt in der Stadt

Das Gespür für’s Feine war auch bei der Entwicklung von „Duchesse“ in der Gemeinde Molenbeek gefragt. Auf der Parzelle inmitten eines ehemaligen Industrieviertels galt es den baulichen Bestand einer Wohnnutzung zu überführen und durch entsprechende Um- und Zubauten zu ergänzen. Hierbei stellte sich zunächst die Frage nach der Machbarkeit einer Sanierung der Gründerzeitbauten – schließlich befanden sich diese in einem miserablen Zustand. „Nach unserer ersten Besichtigung ist bei einem Gebäude die Stuckfassade förmlich in sich zusammengefallen. Im Inneren sah es sogar noch schlimmer aus“, erinnert sich der Architekt heute. Letztendlich beschlossen Karam und sein Team den straßenseitigen Bestandsbau zu sanieren – inklusive einer Rekonstruktion der Stuckarbeiten und Deckenmalereien. Demgegenüber wurden die dem Hof zugewandten Bestandsbauten zugunsten zweier Neubauten abgebrochen – ihnen folgte ein längsseitiger Geschosswohnungsbau und ein Duplexgebäude mit Sheddächern. Um den allseitig geschützten Innenhof ist damit ein Ensemble aus drei prägnanten Gebäudevolumen entstanden. Über den der Straße zugewandten Bestandsbau gelangt man in den begrünten Hof, der als offene Begegnungszone fungiert. In Anlehnung an die umgebende Bebauung wurde sowohl der mittlere Wohnbau als auch die Duplexgebäude in Massivbauweise mit einer Schalung aus weißen und roten Fliesen errichtet. Während für den kernsanierten Bestandsbau und den Wohnbau kleinere Wohnungen für Singles, Paare und Kleinfamilien konzipiert wurden, finden in den Duplexgebäuden auch Großfamilien Platz. „Die Idee hinter diesem Projekt war, eine Stadt in der Stadt zu entwickeln und damit den Charakter dieses Quartieres abzubilden. Wenn man sich auf dem Grundstück bewegt, dann findet eine Entwicklung von öffentlich zu halböffentlich und privat statt – das gilt auch für die Blickbeziehungen. Die Wohnbereiche sind allesamt zum Innenhof hin orientiert. Die Sanitäranlagen sowie die Haustechnik finden in den lichtärmeren Gebäudebereichen entlang der Parzellengrenzen Platz.“

Mit Sinn für‘s Detail

Bei der Durchwegung des „open space“ eröffnen sich dem Betrachter ungeahnte Perspektiven auf raffinierte Details. So ist dem mit weißen Fliesen verkleidetem Wohnbau die historische Fassade des Vorgängerbaus, der ansonsten bis auf das Fundament abgetragen wurde, wie eine zweite Hülle vorangestellt. Das Tragwerk des Neubaus ruht auf dem Unterzug der ehemaligen Remise, wobei der Stahlträger denselben „umarmt“. Jene Symbiose aus Alt und Neu setzt sich bei den Duplexgebäuden auf formaler Ebene fort: Diese verfügen, in Anlehnung an die dortige Industriearchitektur, über Sheddächer, welche außerdem den Neigungswinkel des Altbaus aufgreifen. „Eine Intervention in einem Baubestand bedeutet auch, kreativ auf diese Substanz einzugehen. Wenn ein Gebäude einem Neubau weichen muss, dann heißt das nicht, dass alles dem Erdboden gleich gemacht werden muss“, so Karam. Dank der Einbeziehung vorhandener Baustrukturen entsteht eine außergewöhnliche Architektur mit hohem Wiedererkennungswert. Jene Detailverliebtheit spiegelt sich in der Materialität wider: Mit Ausnahme des sanierten Bestandsgebäudes kommen sämtliche Neubauten vollständig ohne Farbanstrich aus – dies bedeutet in Konsequenz, dass jedes Gebäudedetail sichtbar freiliegt. Der Fertigungsqualität auf der Baustelle wurde somit eine besondere Bedeutung zuteil: „Bei den Roharbeiten nimmt man es auf dem Bau nicht immer so genau, so kam es auch bei diesem Projekt immer wieder zu Komplikationen. Beispielsweise mussten wir aufgrund von Imperfektionen bereits errichtete Wände einreißen und anschließend wieder an selber Stelle aufbauen. So etwas kam immer wieder vor“, so Karam.

Von der Not zur Tugend

Der Aufwand hat sich gelohnt: Dank des kreativen Umgangs mit dem historischen Bestand, den individuellen Details und einer außergewähnlichen Materialwahl ist eine spannungsreiche Architektur mit vielfältigen Raumqualitäten entstanden. Eine „asketische“ Baukunst, die ursprünglich dem begrenzten Budget geschuldet war und schlussendlich sogar zum zentralen Gestaltungsmittel erhoben wurde. Frédéric Karam erinnert sich: „Durch die besondere Gestaltung entspricht das Projekt nicht gerade dem Mainstream. Aktuell besteht ja eine große Nachfrage nach originalgetreu sanierten Altbauwohnungen – wir sind da viel experimenteller; auch in Bezug auf die verwendeten Werkstoffe. Bei Duchesse sind dadurch zum Teil sehr gewagte Materialkombinationen entstanden. Das gefällt natürlich auch nicht jedem.“ Nach der Fertigstellung Anfang des vergangenen Jahres seien die Gebäude jedoch gut angenommen worden. Bereits nach wenigen Wochen waren alle Wohnungen verkauft: „Mir wurde berichtet, dass dort jetzt viele Künstler und handwerklich tätige Menschen leben und sich ihren eigenen Kreativort erschaffen, was mir persönlich sehr gefällt. Auch sonst haben wir viele positive Resonanzen zu diesem Projekt erhalten. Das gibt mir Hoffnung, dass die Menschen offener werden für gutes Design und eine im besten Sinne nachhaltige Architektur.“ ⇥⇥Yoko Rödel/DBZ

Detailschnitt Duplexbau, M 1:25

1
Zinkbrüstung, maßangefertigt
Fassadenfließen

2
Wellfaserzementplatte (einschl. Photovoltaik-Befestigungselemente)
Unterdach (Célit4D oder Leinwand)
I-Träger, bzw Chevron 3,5/23
Wärmedüämmung aus Glaswolle
Isover Dampfbremse
Gyproc-Finish

3
Endbeschichtung 20 mm
Technischer Estrich 80 mm
Schalldämmung 60 mm
OSB 22 mm
Balken 8x20

4
Abdichtung, Blech

5
Wellfaserzementplatte
Fassadenfliesen

6
Dampfbremse

7
Obere Abdichtung, Blech

8
Anschluss, bündig
Fassadenfliesen

9
Thermoholz 20 mm
Terrassendielen, bzw. Sockel EPDM (Resitrix)
Wärmedämmung (Recticel) 120 mm'
OSB-Platte und Dampfsperre
Neigungsanpassung (1,5 cm/m)
OSB 22 mm
Balken 80x207 mm

10
Starre Isolierung

11
Endbeschichtung 20 mm
Technischer Estrich 80 mm
Schalldämmung 60 mm
OSB 22 mm
Balken 8x20


Projektdaten:

Projekt: Duchesse
Ort: Place de la Duchesse et du Brabant 29, 1080 Molenbeek, Brüssel/BEL
Typologie: Historischer Industriebau, Gründerzeitbau aus den 1880er-Jahren
Bauherr: DF Bâtiment
Nutzer: Privat
Architektur: Notan Office,

www.notanoffice.de
Team: Frédéric Karam, Arthur Wéry Bauzeit: September 2020 bis Mai 2022
Grundstücksgröße: 1 080 m²
Bruttovolumen: 3 393 m³
Baukosten: 1,7 Mio. Euro

Fachplanung:

Restaurationen Bestandsbau: Modenatures Barrero
Tragwerksplanung Neubau: Formes et structure

Hersteller

Fassade: Fliesen von Cinca,
www.cinca.pt
Fenster: Aluplast,
www.aluplast.net
Licht: Zangra,
www.zangra.com
Bodenbeläge: Belat,

www.belat-parkett.de
Sanitäranlagen: Villeroy & Boch,

www.villeroy-boch.de
Schalter und Steckdosen: Nico,

www.niko.eu

Ein vielgestaltiger und wertvoller Beitrag zur sozialen Weiterentwicklung in einem ehemals industriellen Quartier. Der qualitätsvolle Außenraum wird zur gemeinschaftsstiftenden Ressource für kreatives urbanes Miteinander.«
⇥DBZ Heftpartner Hirschmüller Schindele Architekten
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