Zukunft Putz, Teil 3 Bauen im Bestand
Im vierten und letzten Teil unserer
Serie steht die Zukunft im Fokus der Betrachtung. Über künftige Ereignisse zu spekulieren, war für die Menschen schon immer ein beliebtes Gedankenspiel. Denn: Von Natur aus noch nicht determiniert, bietet die Zukunft gleichermaßen Raum für Hoffnung wie auch für Sorgen und Ängste. Vor allem in einer Zeit, in der selbst Staatsoberhäupter unsere Zukunft als unsicher bezeichnen und Zeitenwenden zurückbringen, was eigentlich bereits überwunden schien. Und doch: Schon das Orakel von Delphi war als Geschäftsmodell erfolgreicher, als es in der Vorhersage der Menschengeschicke war.
Naturgemäß entzieht sich die Zukunft der Betrachtung durch wissenschaftliche Untersuchungsmethoden. Damals wie heute können wir lediglich auf Vorhandenes und verfügbares Wissen zurückgreifen. So beantworten Expert:innen jedwede Fragestellung nach dem Kommenden lediglich auf Basis von Wahrscheinlichkeiten, die sich aus der Abwägung unserer bisherigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie des aktuellen Experten:innenwissens ergeben. Zukunftstheorien oder -szenarien sind also Wahrscheinlichkeitstheorien, die sich auf Erkenntnisse aus der Vergangenheit und Gegenwart, bestenfalls auch auf die Meinung und das Wissen von Vielen stützen und „Ideen in Richtung Zukunft skalieren.“
Wenn wir also die Stadt oder Architektur der Zukunft ins Visier nehmen, bzw. überlegen was diese leisten muss, stellt sich die Frage nach den dringendsten Handlungsfeldern auf Basis der aktuell erkennbaren Entwicklungen: Hier stellen Erderwärmung, Rohstoffknappheit und Urbanisierung wesentliche Diskussionsfelder dar, die beispielsweise im Thema der „Schwammstadt“ kumulieren. Stadt und Architektur können wir als Schwamm mit einer flexibel durchlässigen Schutzschicht denken, um die Temperatur in der Stadt deutlich zu senken. Die Struktur besteht möglicherweise aus organischen Materialien, etwa aus Bioverbundstoffen aus Pilzen oder Algen, die sich flexibel anpassen lassen.
Dass die gesamte Gesellschaft – aber vor allem Gestaltende und Planende – ihr Mindset ändern muss und Gebäude als Materialdatenbank denken sollte, als Materialleihgabe der Natur ist weitgehend Konsens. Wir sollten die Dinge künftig nur noch so planen, dass wir die Werkstoffe nach Gebrauch modifizieren, weiterentwickeln, wiederverwenden oder aber an das „geschlossene System Erde“ zurückgeben können. Dabei sollte der Long-Term Ansatz, etwa im Kirchenbau mit einem Lebenszyklus von 500 Jahren und länger genauso möglich sein, wie ein Short-Term Ansatz von wenigen Wochen oder Jahren. Wichtig ist und bleibt der intelligente und nachhaltig gestaltete Kreislauf!
Beide hier exemplarisch skizzierten Handlungsmodelle setzen einen zukünftig konsequent nachhaltigen Umgang mit Baumaterial voraus. Im Mittelpunkt steht hier nicht der Mensch, sondern die Natur. Deshalb müssen ihre Ressourcen in der Planung ebenso intelligent wie verantwortungsvoll und schonend eingesetzt werden. Ob wandlungsfähig, reaktiv, modular oder multifunktional bleibt zunächst offen, aber das Material und dessen Verwendung wird künftig immer ein „Mehr“ leisten müssen – Planung muss noch ganzheitlicher werden!
Fragt man, um weitere Standpunkte zu erfassen, zum Beispiel unter chat.openai.com die künstliche Intelligenz (KI) chatGPT zum Thema „künftige Fassadengestaltung“, so antwortet sie unter Nutzung des weltweiten Expert:innenwissens: „Es ist weder richtig noch fair, allgemeingültige Annahmen darüber zu treffen, was alle Menschen von zukünftigen Fassaden erwarten können. Unterschiedliche Personen können unterschiedliche Erwartungen und Vorlieben haben, wenn es um die Gestaltung und den Bau von Gebäuden geht. Es ist wichtig, bei der Planung und dem Bau von Fassaden die Bedürfnisse und Vorlieben aller Beteiligten zu berücksichtigen, einschließlich der Gebäudeeigentümer, Bewohner und der breiteren Öffentlichkeit.“ Aus dem vorher Gesagten ließe sich noch ergänzen, dass bei der KI die Lernkurve noch in die Richtung justiert werden muss, dass wir als Menschen nicht mehr primär der Maßstab sind. Dennoch ist der von chatGPT ausgeführte Aspekt der subjektiven Einschätzung und einer Betrachtung aus dem Blickwinkel der Gestaltung natürlich absolut richtig. Weiter heißt es: „Im Allgemeinen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die Menschen erwarten, dass zukünftige Fassaden funktional, dauerhaft und ästhetisch ansprechend sind. Sie erwarten auch, dass die Fassaden energieeffizient und nachhaltig sind und mit Materialien und Methoden gebaut werden, die die Umwelt nur minimal belasten. Darüber hinaus erwarten die Menschen, dass künftige Fassaden anpassungsfähig und flexibel sind und sich im Laufe der Zeit an veränderte Bedürfnisse und Vorlieben anpassen lassen.“ Damit bestätigt die KI – in beachtlichen ca. 20 Sekunden schriftlich formuliert – was eingangs bereits mit den Aspekten Flexibilität und Wandlungsfähigkeit erwähnt wurde. Die KI nennt neben der Funktion die Ästhetik als wesentliches Kriterium, denn schlussendlich wollen wir Menschen in atmosphärisch starken und angemessenen Orten leben. Ein Aspekt, der leider oft hinter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zurücksteht und damit zu Unrecht wenig berücksichtigt wird. Ist die KI hier also weiter als manch ein menschliches Gehirn? Bewusste Gestaltung muss wieder und vielleicht sogar noch stärker an Bedeutung gewinnen. Und zwar in allen Stadt- und Ortsteilen und nicht nur bei Gebäuden von hohem Repräsentationswert. Nicht die sogenannte „Autorenarchitektur“, sondern vielmehr eine ganzheitliche, kontextuelle Betrachtung des Stadtraums mit allen seinen Komponenten tut Not. Und hier darf der menschliche Maßstab sehr gerne wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Gliederungen, Rhythmik und Materialvielfalt sind genauso Aspekte wie Studien zur Kommunikation und zur Aufenthaltsqualität im Stadtraum. Wie bewegen wir uns im Raum und wie kommunizieren wir? Was schafft Nähe und Behaglichkeit, Vertrauen und Identität? Welche Rolle können Farbe und Material zur Steigerung von Identität und Atmosphäre, von Orientierung oder auch Ergonomie beisteuern? Gerade aus den Erfahrungen mit der Pandemie sollte uns klar geworden sein, welchen Stellenwert der atmosphärisch starke Ort, die Stadt als Wohnzimmer mit Aufenthaltsqualität für Menschen, die sich dort treffen, austauschen, handeln, spielen und leben, haben sollte. Die gestaltete Stadt als soziale Komponente ist unter anderem der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält.
Zurück zu unserem neuen und zukunftssicheren Dialogpartner ChatGPT. Auf die Frage, wie relevant die bestehende Architektur im Vergleich zu neuen Gebäuden sein wird, antwortet ChatGPT: „In Europa wird der Schwerpunkt bei der Planung und dem Bau neuer Gebäude wahrscheinlich weiterhin auf Energieeffizienz und Nachhaltigkeit sowie auf Ästhetik liegen. Bestehende Gebäude müssen ebenfalls nachgerüstet und modernisiert werden, um ihre Energieeffizienz und Nachhaltigkeit zu verbessern. In diesem Sinne ist die bestehende Architektur von Bedeutung, wenn es darum geht, zu überlegen, wie sie angepasst und aktualisiert werden kann, um diese Ziele zu erreichen. Es ist jedoch auch wichtig zu erkennen, dass die bestehende Architektur eine bedeutende kulturelle und historische Ressource darstellt. Es kann der Wunsch bestehen, ältere Gebäude zu erhalten und zu schützen, sowohl wegen ihres architektonischen und kulturellen Wertes als auch wegen ihres ökologischen Nutzens. In vielen Fällen kann es nachhaltiger sein, bestehende Gebäude nachzurüsten und zu renovieren, als sie abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen.“
Spannend ist, dass die KI die Bedeutung bestehender Architektur in der Zukunft als kulturellen und historischen Wert derart hoch aufhängt. Es geht dabei um kulturelle Codierungen als identitätsstiftenden Faktor, aber auch um die von uns immer wieder zitierte Aussage von Odo Marquardt: „Zukunft braucht Herkunft“. Wir können Architektur und Stadt nur fortschreiben, wenn wir Bestehendes berücksichtigen und Neues subtil in Richtung Zukunft entwickeln. Das soll nicht heißen, dass es keine Brüche, Kontraste oder Störung in der Ordnung geben soll. Stadt ist ein dynamisches System und somit ist auch der Zufall ein Parameter. Aber wir brauchen immer auch eine gestalterisch geplante Klammer, die an unser kulturelles Gedächtnis, an unsere Sehgewohnheiten appelliert.
Bauen im Bestand wird in Europa, in Deutschland, ganz besonders, das große Zukunftsfeld sein. Hier sind wir in unserer Aussage klar aufgestellt. Die Herausforderung liegt zunächst in der intelligenten und gut gestalteten Sanierung und Weiterentwicklung sowie in der thermischen oder auch grünen Ertüchtigung der Bestandsbauten. Aufbauten, Dachausbauten, Nachverdichtung, Umnutzung oder auch nur temporäre Umnutzung leerstehender Büroflächen werden die Themen der nahen Zukunft sein. Soziale Aspekte werden mit gestalterischen und baulichen verschmelzen und Grundlage der Urbanisierung einer lebenswerten städtischen und ländlichen Entwicklung sein. Urbanisierung bedeutet in Deutschland, Stadt, Peripherie und den ländlichen Raum zusammen zu denken. Die Transformation der Gesellschaft, digital bis mobil, wird sich nur im Gesamtsystem darstellen lassen.
Wie wir also in Zukunft leben, wohnen, planen, gestalten und bauen wird aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und mittlerweile auch von openai.com-Quellen gut zusammengetragen. Anders als die KI, sehen wir bereits die Natur und Umwelt im Mittelpunkt künftiger Überlegungen, die menschliche Perspektive ist nur noch eine Komponente dieses Betrachtungswinkels.
Es werden heute von gestaltenden, architekturschaffenden und diversen anderen Institutionen unterschiedliche Szenarien, Denk- und Handlungsmodelle als Angebot oder als konkreter Vorschlag zum Bauen und Wohnen präsentiert. Auch wir als Institut für Zukunftsforschung in der Gestaltung beteiligen uns an diesem Dialog und gehen mit Experten:innen aus Handwerk, Architektur, Design aber auch aus ganz anderen, nicht bauspezifischen Branchen wie z.B. der Soziologie immer wieder in den Dialog zu Zukunftsfragen.
Beim Projekt renderingCODES wurden aus mehr als einhundertdreißig vielfältigen Stellungnahmen und Szenarien von Teilnehmenden, aus unterschiedlichen WorkLabs, vielen Gesprächen und Foren unterschiedliche Zukunftsthemen und Thesen für die Zukunft der Gebäudehülle, spezifisch für den Putz ermittelt. Der Fokus liegt hier ganz bewusst und einschränkend auf Europa, vielleicht sogar auf dem eher nördlichen Teil Europas mit den doch sehr spezifischen Anforderungen an Stadt und Gebäudehülle. Unter Berücksichtigung aktueller gesellschaftlicher, geopolitischer und/oder technischer Rahmenbedingungen, Wandlungen und Veränderungen wurden Standpunkte als sechs renderingCODES mit jeweiligen Unterpunkten, sogenannten futureCODES, als Szenarien ausgehandelt. Die daraus resultierenden Impulse, Entwicklungsthesen, Handlungsempfehlungen oder Entwicklungsmaßnahmen für die Gebäudehülle – grundsätzlich und für den Putz der Zukunft spezifisch – sind als Früherkennung und Folgeabschätzung für die nahe und fernere Zukunft zu verstehen.
Die genauen und detaillierten Ausführungen haben wir in DBZ 9, 10 und 11/2022 unterschiedlich beleuchtet. Diese können Sie bei Interesse unter putz.de nochmals ausführlich studieren. Die Fachgruppe Putz & Dekor des Verbands der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie stellt sich den aktuellen Zukunftsfragen und wird auch weiterhin den Fragen nach den renderingCODES der Zukunft mit allen Beteiligten aus Handwerk, Handel, Industrie, Planung und Gestaltung nachgehen und auch in Zukunft Szenarien als Handlungsangebote für Sie vordenken.↓
Autoren:Prof. Markus Schlegel, Gründer und Leiter des Institute International Trendscouting an der HAWK HildesheimHon. Prof. Meike Weber, Fakultät Gestaltung Cluster Farbe/Licht/Raum HAWK Hildesheim, Architektin und Kulturmanagerin