„Das ganze Universum ist aus Kurven gemacht!“
Der Kurvenmacher Oscar Niemeyer verstarb am 5. Dezember 2012 in Rio de Janeiro 22.01.2018Zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag am 15. Dezember 2012 starb Oscar Niemeyer im Samaritano-Hospital in Rio de Janeiro. Der Tod sei, so eine Sprecherin, gegen 22.00 Uhr eingetreten; eine Präzisierung, die diesem ansich doch erwartbaren Ereignis die Größe verleiht, die ein über 100-jähriger, international bekannt und immer noch tätiger Architekt wohl erwarten darf.
Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho war eine lebende Architekten-Legende, die in den letzten Jahren vielfach schon totgesagt worden war. Aber der Mann, der als Wegbereiter der Moderne in der brasilianischen Architektur gilt, und der mit über 600 realisierten Bauten wohl eines der größten Architekten-Oeuvre hinterlassen hat, hat bis zum Schluss gekämpft. Und gearbeitet. Seine berühmteste Arbeit, die Gebäude für die brasilianische Hauptstadt Brasília (zwischen 1957 und 1964), wurden 1987 als Ensemble zum Weltkulturerbe erklärt. Wen wundert es, dass im Bundesstaat Rio de Janeiro ab heute drei Tage Staatstrauer gelten?! Legenden, Mythen, Wahrheiten: Wann erscheint – endlich – die große Biografie zu Niemeyer?
Oscar Niemeyer begann mit 25 Jahren relativ spät sein Studium an der Escola Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro, das er 1934 abschloss. Gleich anschließend arbeitete er im Büro des gebürtigen Franzosen Lcio Costa, mit dem zusammen er zahlreiche Projekte realisierte und über den er in Kontakt mit Le Corbusier kam, der ihn später zu seinem Assistenten machte.
1945 schloss sich Niemeyer der brasilianischen Kommunistischen Partei an, und noch bis in seine letzten Tage war der Mann mit einem Büro an der sündhaft teuren Copacabana davon überzeugt, das „die Kommunisten […] die einzigen [sind], die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen.“ Ob Niemeyer damit allerdings vor allem die gebaute bessere Welt meinte, eine, die sich den Zwängen des rechten Winkels entzieht, der Diktatur der geraden, harten inflexible Linie, ist nur zu vermuten. Sein Parteiaustritt 1990 deutet auf seine eher theoretische Auffassung von einer marxistischen Arbeit an der Gesellschaftsverfassung. “No es la línea recta la que me atrae, dura, inflexible, creada por el hombre. La que me atrae es la curva libre y sensual. La curva que encuentro en las montañas de mi país, en la sinuosidad de sus ríos, en las nubes del cielo y en las olas del mar. De curvas está hecho el universo, el universo curvo de Einstein.” („Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten Frau. Das ganze Universum ist aus Kurven gemacht. Das gekrümmte Universum Einsteins.“ Dt. in: Paroles d’Architecte, Mailand 1996).
Niemeyer lehrte unter anderem an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), kehrte jedoch, nach erzwungenem Exil, das er in Frankreich nahm, erst nach der 1979er Generalamnestie 1982 nach Brasilien zurück. Die Zeit des Exils nutzte der immer zeichnende Mann für die Realisierung der Zentrale der Parti communiste français in Paris, für die Maison de la Culture in Le Havre oder das Verlagshaus von Mondadori in Mailand.
Niemeyer setzte früh auf Stahlbeton als Baumaterial, dem er neue Anwendungsmöglichkeiten erschloss, meist in gewagt schmalen Querschnitten oder Radien, die das Material eigentlich gar nicht er möglicht.. Dass das in seinem gesamten Werk eine scheinbare Wiederholung in ständiger Selbstreferenz ergibt, die sich allein vor Ort, vor und in dem jeweiligen Gebäude differenziert, ist in unserer bilderzentrierten Welt selbstverständlich. Dass diese Selbstreferenz aber auch Ausdruck eines schier unermesslichen Selbstbewusstseins war, aus dem heraus Oscar Niemeyer sich selbst als Marke erfunden hat, sollte man im Auge behalten. Dass seine Bauten immer auch etwas von Futurismus evozierten, ist mit Blick auf die Rationalisierung unseres Raumdenkens ebenfalls verständlich: Weicht einer ab vom Mainstream des orthogonalen/rektangulären Denkens, ist er entweder ein Narr oder eben Avantgarde.
„Die Architektur“, so Oscar Niemeyer, „besteht aus Traum, Phantasie, Kurven und leeren Räumen.“ Das umreisst exakt den Avantgarde-Anspruch und die Zukunftszugewandtheit des Architekten, der, wie unter Zwang stehend, mehr als 600 Bauten in rund 75 Jahren in die Welt gesetzt hat; einige davon zumindest im kollektiven Gedächtnis unsterbliche Meisterwerke, andere längst dem Verfall anheim gegeben. Wer wie Niemeyer sich so sehr verausgabte, dem wird dieses Werden und Vergehen einerlei gewesen sein, dass er jetzt selbst gegangen ist, bedeutet vielleicht auch, dass der Mann, dessen Tochter Ana Maria in diesem Jahr, also schon vor dem Vater ging, endlich seinen Frieden gefunden hat. Be. K.
Werke (Auswahl, aus Wikipedia)
Realisierte Projekte
Ministerium für Bildung und Gesundheit (heute Kulturpalast; mit Le Corbusier, Lucio Costa, Jorge Machado Moreira und Afonso Eduardo Reidy) – Rio de Janeiro – 1937 bis 1943
Haus von Oswald de Andrade – São Paulo – 1938
Brasilianischer Pavillon auf der Weltausstellung – New York City – 1939
Casa do Baile, Tanzsaal und Restaurant – Pampulha bei Belo Horizonte, Brasilien – 1940
Nationalstadion von Rio de Janeiro – 1941
Kirche São Francisco de Assis – Pampulha, bei Belo Horizonte, Brasilien – 1943
Municipal-Theater – Belo Horizonte, Brasilien – 1946
Großer Pavillon der Biennale von São Paulo, dem Pavilhão Ciccillo Matarazzo, im Ibirapuera-Park – São Paulo – 1951 zusammen mit Helio Uchôa
Hauptgebäude der Vereinten Nationen UN-Hauptquartier (Mitarbeit als Schüler von Le Corbusier) – New York City – 1952
Edifício Copan (Copan-Gebäude; Wohnhaus für 5.000 Menschen in geschwungener, wellenförmiger Ästhetik) – São Paulo – 1953
Casa das Canoas – Rio de Janeiro – sein früheres Wohnhaus in São Conrado ist heute öffentlich zugänglich – 1954
Interbau-Wohnhochhaus – Berlin-Hansaviertel – 1957
Ermida Dom Bosco am Lago Sul – 1957
Öffentliche Gebäude von Brasília (u. a. Kathedrale von Brasilia, Nationalkongress, Alvorada-Palast, Itamarati-Palast, Planalto-Palast, Platz der drei Gewalten, Oberster Gerichtshof) – 1957 bis 1964
Casino, Casino Park Hotel, Kongresszentrum – Funchal – 1966
Hauptsitz der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), Bürogebäude und Kuppel der Versammlungshalle – Paris – 1967 bis 1972
Verlagsgebäude Mondadori – Segrate bei Mailand, Italien – 1968
Universität von Constantine – Constantine, Algerien – 1968
Nationalhotel – Rio de Janeiro – 1968
Catedral Metropolitana Nossa Senhora Aparecida – Brasília – 1970
Maison de la Culture (Kulturzentrum, ein Rundbau, genannt «Le Volcan») – Le Havre, Frankreich – 1972
Bürogebäude Sede Fata – Pianezza bei Turin, Italien – 1977 bis 1979
Sambódromo – Rio de Janeiro – 1984
Tancredo Neves Pantheon der Freiheit und Demokratie – Brasília – 1985
Memorial da América Latina – São Paulo – 1987
Museu de Arte Contemporânea (Museum für zeitgenössische Kunst, das an die Form eines UFOs erinnert) – Niterói – 1991
Museu Oscar Niemeyer – Curitiba, Paraná, Brasilien – 2002
Serpentine Gallery Pavillon 2003 – London – 2003
Konzerthalle in São Paulo – 2004
Auditório Ibirapuera – São Paulo – 2005
Oscar-Niemeyer-Auditorium – Ravello, Italien – 2010
Centro de Cultura Internacional Oscar Niemeyer, Avilés, Asturien, Spanien; Geschenk an die Stiftung „Premios Principe de Asturias“, Dezember 2010
Im Aufbau befindliche Projekte
Puerto de la Musica – Rosario, Santa Fe Argentinien (Baubeginn: 10. Oktober 2008)
Neuer Fernsehturm Brasília (2010)
Kathedrale Cristo Rei – Belo Horizonte (Baubeginn 2011)
Holoteca (Bibliothek) – Foz do Iguaçu
REC Sapucaí – Rio de Janeiro (Baubeginn 2012)
Nicht realisierte Projekte
Freizeitbad in Potsdam – 2007
Praça de Soberania – Sao Paulo, Brasilien
Auszeichnungen (Auszug)
Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Sciences (1949)
Medalha da Ordem do Mérito do Trabalho (1959)
Internationaler Lenin-Friedenspreis (1963)
Goldene Löwe der Biennale von Venedig (1963)
Premio Benito Juarez anlässlich der Hundertjahrfeier der mexikanischen Revolution (1964)
Médaille Joliot-Curie (1965)
Der Schweizer Avantgarde-Komponist Hermann Meier widmet Niemeyer das „Stück für Streicher, Bläser, Klaviere“ (1967)
Ritter der Ehrenlegion (Chevalier de la Légion d’Honneur) (1970)
Goldmedaille des American Institute of Architects AIA (1970)
Lorenzo il Magnifico-Preis der Accademia Internazionale Medicea (1980)
Kommandeur des Ordre des Arts et des Lettres (1982)
Ehrenmitglied der Akademie der Künste der UdSSR (1983)
Pritzker-Preis für Architektur (1988), zusammen mit Gordon Bunshaft
Prinz-von-Asturien-Preis (1989)
Goldmedaille des Colegio de Arquitectos de Barcelona (1990)
Cavaliero Comendador da Ordem de Sao Gregorio Magno, verliehen durch Papst Johannes Paul II. (1990)
Großkreuz des Ordens des heiligen Jakob vom Schwert (1994)
Ehrendoktorwürde der Universität von São Paulo (1995)
Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA) (1996)
Praemium Imperiale (2004)
Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (2005)
Commandeur de la Légion d’Honneur (2007)
Der Dokumentarfilm Oscar Niemeyer – Das Leben ist ein Hauch (Originaltitel: Oscar Niemeyer – A vida é um sopro) über das Leben und Werk des Architekten kam am 14. Januar 2010 in die deutschen Kinos. Der Dokumentar-Film beanspruchte zehn Jahre zur Vorbereitung und Fertigstellung. Als Wegbegleiter Niemeyers wurden unter anderem die Schriftsteller Eduardo Galeano und José Saramago, der Liedermacher Chico Buarque und der marxistische Historiker Eric Hobsbawm interviewt.
Aktuell: Moritz Holfelder. Skulpturen aus Beton: der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer. Bei DOM publishers, Berlin