Dem Schlichterspruch fehlt das wirkliche Plus
Paradoxer Schlichterspruch im Streit um Stuttgart 21 ist fast unbrauchbar. Von Rüdiger Sinn, Stuttgart 22.01.2018Der Schlichterspruch von Heiner Geißler beim Streitobjekt Stuttgart 21 (S21) wäre genial gewesen, wenn der Schlichter gleichzeitig einen Baustopp verhängt hätte, bis alle relevante Daten für die tatsächliche Funktionstüchtigkeit des Bahnhofs ermittelt worden wären. So wird weitergebaut, obwohl noch lange nicht alle Fakten auf dem Tisch sind.
Es war über weite Strecken ein Demokratie-Lehrstück was Heiner Geißler als Schlichter beim Bahnhofsprojekt S21 vollbrachte. Mit dem Schlichterspruch könnten beide Seiten gut leben, wenn Geißler ein wichtiges Element dezidiert gefordert hätte: den Baustopp. Beim achttägigen Faktencheck war es Schlichter Heiner Geißler gelungen, beide Parteien an den Tisch zu bringen. Die Kontrahenten sprachen miteinander, es herrschte ein kritisch engagiertes aber doch sehr respektvolles Streiten um die Sache. Nach markigen Sprüchen des 80-jährigen Streitbaren erlangte das Zuschauen gar Kultstatus. Dem Informationssender Phoenix bescherte das traumhafte Einschaltquoten, der Sender präsentiert auf seinem youtube-Kanal gar „Best of Heiner Geißler“. Dort sieht man den knitzen Alten mal fauchen, rüffeln oder Gesagtes kritisch hinterfragen. Denn wenn einer der Schlichtungsteilnehmer ausscherte brachte er mit intelligenten Kommentaren die Beteiligten beider Seiten immer wieder zur Räson.
Mit diesem Vorgehen war Geißler immer wieder bestrebt, zu den Fakten zurückzukehren. Der ehemalige CDU-Generalsekretär hatte ein feines Gespür dafür, die Zuschauer mitzunehmen. Das brachte ihm hohe Sympathiewerte ein. Ein hohes Gut, zugleich aber auch ein Fluch. Denn damit erlangte Geißler viel Macht, die eigentlich seiner Funktion nicht zuträglich war. Die Schlichtung war eine Faktenschlichtung, ein Offenlegen der Möglichkeiten beider Projekte. Es hätte aber keine Empfehlung von demjenigen ausgesprochen werden dürfen, der während der Schlichtung einen ungeahnten Bonus bei der Bevölkerung erlangte und somit eine echte Autorität darstellt auf den alle hören. Oder aber, der Schlichterspruch hätte wasserdicht sein müssen.
Davon kann aber keine Rede sein. Nach dem Urteil kam bei den Menschen an: Am Konzept des Tiefbahnhofes wird festgehalten, die Bahn muss sich zwar einem Stresstest unterziehen, um die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs zu beweisen, die Mängel werden beseitigt, aber es wird weitergebaut. Weiterbauen, obwohl die Fakten noch nicht auf dem Tisch sind? Diesen Lapsus hätte sich Geißler nicht leisten dürfen, denn das entspricht zum einen nicht dem Konzept von Geißler, mit der er zur Schlichtung antrat (Baustopp während des Faktenchecks), zum anderen könnte das teuer kommen – für alle, das Land, den Bund, die Bürger. Angenommen der sogenannte Stresstest – eine Simulation über die Betriebsprüfung im unterirdischen Bahnhof, den die Bahn nun absolvieren muss – bringt zu Tage, dass der Bahnhof mehr kostet. Viel mehr – so viel mehr, dass das Projekt finanziell nicht mehr tragbar ist. Es bliebe nur noch der Ausstieg und der wird durch das Weiterbauen und die Vergabe von Bauleistungen immer unmöglicher und könnte zum finanziellen Fiasko werden.
Einen Baustopp bis zu dieser endgültigen finanziellen Klärung hatte Geisler sowohl der Landesregierung als auch der Bahn nicht abringen können, er hätte aber darauf bestehen müssen oder dies in seinem Schlichterspruch vermerken. Hier heißt es dazu aber nur: „Aller Vorraussicht nach wird der Bau des Bahnhofs S21 fortgesetzt werden. Ein Baustopp bis zur Landtagswahl ist sowohl von der Bahn wie von der Landesregierung abgelehnt worden.“
Das Bestreben im Geißlerschen Sinne – die Schlichtung zu einer Befriedung werden zu lassen – ist ihm mit dem Schlichterspruch somit nicht gelungen. Denn es ergibt sich zwar eine Konsequenz (nämlich Nachbesserungen) aus den Vorwürfen gegen das Konzept S21, zu einem Baustopp bis die Fakten durch den Stresstest auf dem Tisch sind, kommt es hingegen nicht.
Und genau darin liegt der Mangel. Der generöse Spruch von Ministerpräsident Mappus, „alle kamen an den Tisch, alles kam auf den Tisch“, ist so falsch, wie die Zahlen, die kurz nach der Schlichtung für die Nachbesserungsarbeiten im Raum standen. Von über einer halben bis zu einer Milliarde sprachen reflexhaft die Grünen, die CDU setzte ihre Schätzung – ebenfalls reflexhaft – viel tiefer, auf 150 Millionen, an. Und Bahnchef Rüdiger Grube sagte gar, dass er mit keinen Mehrkosten rechne. „Wir werden den Stresstest aber sehr ernst nehmen und unsere Hausaufgaben machen“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn.
Die Reaktion auf den Schlichterspruch viel auf Seiten der Protestgegner eindeutig aus: Dem Schlichter wird Respekt gezollt, der Schlichterspruch selbst aber abgelehnt, ein Baustopp gefordert. Geißler suchte also eine Art Kompromiss, fand den aber offensichtlich nicht. Der Schlichterspruch war nur einen Hauch entfernt von der Genialität eines Salomonischen Urteils. Da hilft es nur wenig, dass der Schlichter „S21 Plus“ – also eine Nachbesserung – ins Spiel bringt. Die Gegner konterten am Samstag schon mit einer weiteren Demonstration und dem Slogan „Widerstand Plus“.