Offener Brief an die Bundesbauministerin

Business as usual? Ein offener Brief an die Bundesbauministerin

In der gerade erschienen DBZ März 2022 veröffentlichten wir einen Meinungsbeitrag unter dem Titel "Vierhunderttausend". Darin fragten wir u. a. die Bundesbauministerin, ob die 400.000 jährlich anvisierten Wohnungsneubauten denn nicht das große Ziel  CO2-Reduktion bis 2030 konterkariere, von Ressourcen- und Energieverbräuchen einmal ganz abgesehen. Auch die Behauptung, der schnelle Wohnungsbau böte Innovationspotential, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bauindustrie stärke wurde stark bezweifelt.

Noch hat sich die Ministerin auf diesen Artikel nicht zurückgemeldet – einige KollegInnen schon, zustimmend, ablehnend. Gemeldet hat sich allerdings ein Architekturbüro aus Darmstadt, werk.um Botta Lückgen Steffen und Partner Architekten und Innenarchitekt baugewerbliche PartG mbB, die uns und sicherlich vielen weiteren KollegInnen einen offen Brief an die Ministerin in Kopie zusandten. Diesen veröffentlichen wir hier nun und hoffen auf weitere Beiträge zu diesem so drängenden Thema. Das ohne klare Positionierung der bauenden Zukunft Business as usual bleibt.

werk.um, Darmstadt, schreibt:


Sehr geehrte Frau Bundesministerin,

seit Jahren bemühen wir uns in unserem Architektenalltag, jede Tonne CO2 zu sparen – und nun will die Ampelkoalition wirklich jedes Jahr 400.000 Wohneinheiten neu bauen?  

Die von vielen Seiten – insbesondere seit dem Wahlkampf – vorgetragenen Konzepte zur Lösung einer Wohnungsknappheit leiden doch unter einem Problem: Mit einem wesentlichen Grund für den vermeintlichen Mangel an Wohnraum setzt man sich weder politisch, noch gesellschaftlich oder medial auseinander, dem offensichtlich nicht aufhaltbaren Zuwachs an Wohnfläche-pro-Kopf.  

Vielleicht hat man Angst, die Wählerschaft würde nicht hören wollen, dass die große Party des immerwährenden Wachstums zu Ende ist? Und so macht man weiter, wie man es seit Jahrzehnten gemacht hat: mit Forderungen nach und mit dem Bau von neuen Wohnungen. Hat denn noch niemand – darunter auch Sie – wahrgenommen, dass diese Vorgehensweise weder zu einer Entspannung auf dem Wohnungsmarkt führt noch klimaverträglich ist?  

Denn obwohl alle am Bau Beteiligten Anstrengungen unternehmen, um jeden Quadratmeter Wohnfläche energetisch effizienter anzubieten, sind wir den so dringend notwendigen Klimaschutzzielen bislang kein Stückchen nähergekommen. Dieses müssen wir nun in einer immer kürzer werdenden Restzeit mit dem vielfachen Aufwand nachholen.  

Als Architekten versuchen wir seit über 25 Jahren, auf verschiedene Art und Weise einen Beitrag zum nachhaltigen Bauen zu leisten. Das beinhaltet statt Abriss bevorzugt Sanierungen und Umbauten oder die Entwicklung zukunftsfähiger und flexibler Wohnprojekte bis hin zu einer sorgfältigen Materialwahl, bestenfalls aus nachwachsenden Rohstoffen, und einer ganzheitlichen Betrachtung von Gebäuden. Darüber hinaus realisieren wir mobile Schulen in Holz, die sogar je nach Bedarf an einen anderen Bestimmungsort umziehen können, und sind an Forschungsvorhaben zur Erhöhung der Wohnflächeneffizienz beteiligt („OptiWohn“, u.a. gefördert durch das BMBF).

Der Umstand, dass der Gesamtenergieverbrauch des Sektors Bau bisher nicht gesenkt werden konnte, ist für uns frustrierend, aber auch nicht verwunderlich! Die überwiegende Zahl von Bauherren hört uns gerne zu, wenn wir Möglichkeiten zu nachhaltigen Konzepten vorschlagen, aber umgesetzt werden diese nur in Teilen. Warum? Weil die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen eher das „Mehr“ und Hightech als ein „Weniger“ mit Lowtech fördern.  

Es ist offensichtlich, dass ein durch Energieeffizienzmaßnahmen lediglich „verbrauchsoptimierter“ Quadratmeter Neubau definitiv nicht in Richtung eines nachhaltigen Lebens führt. Die vergangenen zehn Jahre haben es bestätigt: Die Möglichkeiten des technologischen und konstruktiven Fortschritts wurden überschätzt; die mühsam erzielten Effizienzgewinne sind leider immer nur allein in ein stetig höheres Komfort- und Flächenniveau geflossen. Ein wesentlicher Baustein der Nachhaltigkeit, die Suffizienz, die Genügsamkeit, blieb unberücksichtigt.

Doch Ressourcenverbrauch und Emissionen von Bauen und Gebäudebetrieb (und der damit verbundene ökologische Fußabdruck jedes Einzelnen) lassen sich erst begrenzen, wenn in Systemen und den damit verbundenen nachhaltigen Lebensstilen und eben nicht ausschließlich in Dämmstärken und Wärmepumpen gedacht wird.  

Auch Ihr kürzlich vorgebrachter Vorschlag zur Beschleunigung und Vergünstigung der Bauprozesse, Modelle für serielles Bauen zu starten, mindert unserer Einschätzung nach weder die Wohnungsnot in den Städten noch klimaschädliche Emissionen.  

Ein weitaus zielführender Weg scheint uns, das Problem tatsächlich an der Wurzel anzugehen. Wenn es etwa gelänge, den Wohnflächenverbrauch pro Person durch bessere Verteilung des Bestands von 47 m² auf 46 m² zu senken, wäre eine Fläche von 80.000.000 m² verfügbar – und somit Wohnraum für 1.000.000 Wohnungen mit 80 m² Wohnfläche frei. Das ist mehr als die Anzahl von Wohnungen, die die Koalition noch glaubt, neu bauen zu müssen. Ohne weitere Ressourcen verschwendet zu haben!

Auch die von Ihnen vorgeschlagenen Umnutzungen von Gewerbeimmobilien in Wohnraum könnten Wohnraum schaffen, ohne weitere Flächen zu versiegeln und neue Emissionen auszulösen. Hier sind wir gespannt auf weitere Initiativen in diese Richtung. Eine Möglichkeit wäre z.B. das vorrangige Fördern von Nutzungs- und Umnutzungsstrategien aller vorhandenen Gebäude sowie bestehender Infrastrukturen.

Damit wir Architekten in Zukunft an unsere Bauherren nicht mehr nur appellieren können, um wirklich nachhaltige Konzepte umsetzen zu können, wünschen wir uns von Ihnen nachfolgende Leitplanken zu einer neuen Baupolitik, damit Klimaneutralität wirklich näher rücken kann:

 

1.Wir brauchen Nachhaltigkeitsziele in Bezug auf die Menschen, also „pro Kopf“, nicht pro Objekt pro Quadratmeter.

2.Jeder Ressourcenverbrauch sollte mit den wahren Kosten im Gesamtlebenszyklus des Gebäudes unter Berücksichtigung gesundheitlicher, sozialer und ökologischer Auswirkungen durch den Konsum belegt werden.

3.Darüber hinaus müssen Gebäude in Verbindung mit Verkehr, Nahversorgung, Erholung und Arbeit als Teil eines in Gänze nachhaltigen Lebensstils geplant werden. Nur so entstehen Gesamtkonzepte des nachhaltigen Lebens.

 

Nur dann wird man in Zukunft Bestandsimmobilien als wertvolle Ressource betrachten, die Bauwirtschaft zu einer Bau-Kreislauf-Wirtschaft und es wird versucht werden, Wohnraum effizienter zu nutzen. Baugebiete würden dann wohl eher nur noch in Ausnahmefällen ausgewiesen und ein Neubau würde erst dann eine Option, wenn dieser dazu dient, Bestandsimmobilien flächeneffizienter zu nutzen.

Die Kosten für Bauen und Wohnen werden zweifelsfrei steigen, doch die veränderten Bedingungen würden parallel dazu endlich ein “Weniger” und “Einfacher” fördern. Zugleich würde die Bauwirtschaft kreativ reagieren: Mit mehr attraktiven, modernen und flächensparenden Angeboten. Wir haben bereits eine Vielzahl von entsprechenden Konzepten entwickelt, einige davon auch umgesetzt und wir freuen uns dabei immer wieder festzustellen, dass Qualität Masse, Fläche und Hightech sticht.  

Wir appellieren nun an Sie als neue Bauministerin – dankbar, dass es überhaupt wieder ein neues Ministerium für diesen überaus wichtigen Bereich gibt! –, beim zukünftigen Bauen auch den Wohnflächenverbrauch pro Person vermehrt im Blick zu behalten und einzudämmen. Im festen Glauben, dass es einfacher, spannender, günstiger und ressourcensparender ist, die Wohnflächeneffizienz durch Mikroeingriffe in Strukturen, durch Umorganisation eingefahrener Mechanismen oder durch neue Geschäftsmodelle zu erhöhen als weiterzumachen wie bisher.

"Vierhunderttausend", Artikel in der DBZ 04 2022

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