Ästhetik, Konstruktion und Nachhaltigkeit als Einheit
Mit einer zunehmenden Fokussierung auf die Graue Energie bei der Herstellung von Baustoffen lohnt im Bereich der Tragwerksplanung vor allem eine Betrachtung der Geschossdecken – machen sie doch etwa 40 % des gesamten Tragwerks aus! Mögliche Einsparpotenziale wurden am Projekt „Hortus“ in Allschwil bei Basel in Zusammenarbeit zwischen der Bauherrin SENN, den Architekten Herzog & de Meuron und ZPF Ingenieure seit dem Jahr 2020 entwickelt. Das Projekt wird derzeit realisiert; die Fertigstellung ist für das Jahr 2024 vorgesehen.
Das Projekt „Hortus“ steht für House
of Research, Technology, Utopia and
Sustainability und setzt den Fokus auf innovative und ambitionierte Nachhaltigkeitskonzepte
Visualisierung: Herzog & de Meuron
Der Bausektor ist für rund 40 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, die Zementindustrie allein für 8 % [1]. Etwa die Hälfte davon stammt aus dem Betrieb und der Nutzung von Gebäuden („operational carbon“), die andere Hälfte aus deren Erstellung und der damit verbundenen Produktion von Werkstoffen und Baumaterialien („embodied carbon“). Auch das Abfallaufkommen wird im Wesentlichen durch den Bausektor verursacht [2].
Seit der ersten Ölkrise in den 1970er-Jahren liegt der Fokus im Bausektor auf der Reduktion des „operational carbon“, konkret auf der Steigerung der Effizienz von Anlagen und der Reduktion von Energieverlusten, z. B. von Wärme über die Gebäudehülle.
Zukünftig wird es aber neben der weiteren Optimierung der Betriebsenergie zwingend notwendig sein, sich auch auf die Reduktion des „embodied carbon“ zu konzentrieren. Eingeschlossen sind sämtliche Bausteine des Lebenszyklus, d. h. von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung von Materialien und Bauteilen bis hin zum fertigen Gebäude sowie dem Rückbau der gesamten Bausubstanz am Ende des Lebenszyklus.
Ästhetisch ansprechend fügen sich die Deckenelemente aus Holz und Lehm in den Raum ein. Der dichte Lehm wirkt dabei als Brandschutz und sorgt gleichzeitig für ein gutes Raumklima, da er Feuchtigkeitsschwankungen auszugleichen vermag
Visualisierung: Herzog & de Meuron
Gewohntes überdenken
Aus der Fokussierung auf die Grauen Emissionen ergibt sich die übergeordnete Frage, mit welchen Materialien ökologisch nachhaltige Bauwerke errichtet werden können und müssen. Gleichzeitig sollten diese auch der ökonomischen Nachhaltigkeit gerecht werden. Denn – und das hat sich in der Vergangenheit leider sehr oft gezeigt – das Streben nach einer ökologischen Bauweise endet sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Bauherrschaften zu oft dort, wo eine – auch oft subjektiv empfundene – wirtschaftliche Schmerzgrenze erreicht ist.
Fakt ist auch, dass die Ansätze des nachhaltigen Bauens zur Erreichung der Klimaziele [3] auch über die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der eingesetzten Systeme in die Breite getragen werden müssen, um eine entsprechende Hebelwirkung zu erzielen. Einzelne Leuchtturmprojekte begeistern Fachleute und Laien gleichermaßen, regen zur Nachahmung an und sensibilisieren unsere Gesellschaft für die Problematik im Allgemeinen. Als Einzelobjekte sind sie jedoch nicht in der Lage, einen nominell spürbaren positiven Effekt auf die Treibhausgasemissionen zu erzielen.
Das Deckensystem besteht aus
einem Holzrahmen mit eingelegten Massivholzbalken, zwischen denen
Lehm in Form eines Gewölbes eingestampft ist. Es wurde speziell für das Projekt entwickelt
Visualisierung: Herzog & de Meuron
Eine Erkenntnis aus einem aktuellen Projekt – „Hortus“ in Basel – ist die Notwendigkeit, den Planungsprozess umzukehren. Der Gedanke der ökologischen Nachhaltigkeit muss zwingend bereits in der frühesten Projektphase berücksichtigt werden und nicht erst, wenn eine städtebauliche und darauffolgende gebäudetypologische Studie bereits abgeschlossen ist. Denn werden die Weichen zu spät gestellt, ist – analog zur Ökonomie eines Projekts – nur noch Schadensbegrenzung möglich. Ein zu spät in das Projekt eingebrachter Gedanke hat insbesondere bei der ökologischen Nachhaltigkeit oft keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die Gesamtbilanz. Es ist daher unumgänglich, gewohnte Planungsabläufe zu überdenken und die Ökologie als wesentlichen Grundbaustein bereits in die Zielformulierung des Projekts zu integrieren.
Rolle der Tragwerksplanung
Wir als Tragwerksplaner nehmen dabei eine zentrale Rolle ein: Die von der Tragwerksplanung mitgeplanten Elemente sind in der Regel in Summe für ca. 65 % des CO2-Fußabdrucks eines Gebäudes verantwortlich [4]. Der Anteil der Geschossdecken am gesamten Tragwerk beträgt knapp 40 % [5]. Dies verdeutlicht, dass es sich lohnt, gerade diese Bauteile zu optimieren, um einen möglichst großen Effekt auf die Gesamtbilanz zu erzielen.
Ein im Projekt „Hortus“ durchgeführter detaillierter Vergleich verschiedener Deckensysteme zeigt, was in Ingenieurkreisen ohnehin bekannt ist: Statisch sinnvolle Bauteilquerschnitte führen zu effizienten Tragwerken. Die seit langer Zeit bewehrte und auch heute noch aus Kosten- und Einfachheitsgründen viel zu oft eingesetzte Betonflachdecke ist weder effizient noch leicht rückbaubar und erzeugt einen sehr schlechten CO2-Fußabdruck. Generell sollten Materialien so eingesetzt werden, dass sich ihre Eigenschaftsvorteile bestmöglich entfalten können. Eine dogmatische Verurteilung einzelner Materialien ist nicht zielführend.
Lernen aus der Vergangenheit
Die im Objekt „Hortus“ entwickelte Holz-Lehm-Decke kann als moderne Interpretation einer klassischen Kappen- oder Hourdisdecke verstanden werden. Die Decke, bei der vor Ort aus dem Aushub gewonnener Lehm zwischen die Holzbalken aus reinem Schnittholz gestampft wird, weist eine hervorragende Ökobilanz auf und erfüllt in Kombination mit dem gewählten Bodenaufbau alle Anforderungen an ein Deckensystem für einen Bürobau. Die Masse des Lehms egalisiert einen häufigen Nachteil von Holzbalkendecken: Holz ist zwar aufgrund seines geringen Eigengewichts ein sehr effizienter Baustoff mit hoher Tragfähigkeit, aber aus diesem Grund erfüllen Holzdecken die geforderten Schallschutzwerte oft nur mit zusätzlichen Maßnahmen, in der Regel in Form von beschwerenden Schüttungen, die auf die Decke oder zwischen den Balken eingebracht werden. Durch die bewusste Anordnung des selbsttragenden Lehms an der Unterseite der Decke fungiert dieser nicht nur als seitlicher Brandschutz für das Holz, sondern auch als thermische Masse im Sinne eines passiven Systems über die Nachtauskühlung. Im Objekt „Hortus“ wird der Lehm in Form eines Gewölbes eingebracht und folgt damit dem oben genannten Grundprinzip, Materialien ihren Eigenschaften entsprechend einzusetzen und Bauteile aus dieser Logik heraus effizient und nachhaltig zu konstruieren. Der Lehm trägt die Lasten analog zu einer gemauerten Bogenbrücke über reine Druckkräfte ab. Für das Material ungünstige Zug- oder Schubkräfte werden vollständig vermieden. Der fast intuitiv erfahrbare Kraftfluss wird ablesbar und ist bewusst Teil des gestalterischen Ausdrucks.
Robotergestützte Produktion eines Mockups – so wird eine historische Bauweise zukunftsfähig
Foto: Ephraim Bieri
Überführung in die Zukunft
Für das Projekt „Hortus“ wurde in der Frühphase unter Beizug des Lehmbauexperten Martin Rauch und seinem Team (Lehm Ton Erde) ein 1 : 1 Mockup erstellt. Durch den damit durchgeführten Brandversuch in der Brandversuchsstelle in Linz unter der Leitung der Brandschutzspezialisten von IGNIS Fire-Design-Consulting konnte der Decke eine Feuerwiderstandsdauer von 60 Minuten (REI60) attestiert werden. Dies reicht in der Schweiz für den Einsatz in Gebäuden mittlerer Höhe bis 30 m. In Deutschland erfüllt die Decke damit bereits die Anforderungen der Gebäudeklasse (GK) 4. Abklärungen für Zulassungen darüber hinaus bis einschließlich GK 5 sind im Gange. Um die eingangs erwähnte Hebelwirkung hinsichtlich der Klimaziele zu erreichen, muss das Deckensystem wirtschaftlich umsetzbar sein. Um in diesem Punkt eine ernsthafte Konkurrenz zu den klassischen und in Bezug auf die ökologische Nachhaltigkeit deutlich schlechteren Systemen zu bieten, wurde das Start-up Rematter AG gegründet. Mit robotergestützten Fertigungsverfahren verbindet Rematter eine der ältesten Bauweisen mit modernsten digitalen Fertigungsmethoden und bringt die Stampflehmbauweise in die heutige Zeit.
Autor: Tobias Huber,
ZPF Structure AG
www.zpfing.ch
Foto: ZPF Ingenieure
Quellen
[1] Langen, K. 2019; Bauwirtschaft und Klimaschutz: Stahl, Beton und Zement verschlingen Energie; Deutschlandfunk Kultur
[2] Statistisches Bundesamt, Abfallbilanz, Wiesbaden, verschiedene Jahrgänge
[3] Europäisches Klimagesetz, Netto-Null bis 2050
[4] SIA 2032 Graue Energie – Ökobilanzierung für die Erstellung von Gebäuden
[5] Werner Sobek Stuttgart; Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), Heft 12 (Sonderdruck)