Allein im Materialstrom
„Das Buch ist überall im Hintergrund. … Es liegt bei Brentano, dem großen Buchhändler in der Fifth Avenue, wie man das hier macht, horizontal aufgestapelt wie Sardinenbüchsen, als bescheidner Stapel, neben dem Kubikmeter des augenblicklichen Bestsellers über George Washington.“ Das Buch, über das Sigfried Giedion (1888–1968) hier 1941 an seine Frau Carola Giedion-Welcker (1893–1979) schreibt, ist Giedions eigenes, „Space, Time and Architecture“, eine bis heute immer wieder rezipierte Monografie über das, was führende nordamerikanische und westeuropäische Architekturtheoretiker im Diskurs über die Moderne für zentral hielten; und als zentral propagierten. Womit schon angedeutet ist, dass der Schweizer und Weltenbürger Giedion – studierter Maschinenbauer und Kunsthistoriker – zentral für das steht, was wir heute kritisch hinterfragen und also wieder im Diskurs lebendig halten: die Moderne der internationalen Architektur.
Nun hat es, nach dem großen Privatnachlass 1972 knappe 35 Jahre später „Restbestände“ gegeben, die die Familie dem gta Archiv überließ und die sich als „wahre Fundgrube“ (gta) entpuppen sollten. Und damit war ein Lebenswerk-Universum zugänglich, das etwa 16 000 Briefe, 10 000 Fotos und Negative, umfangreiche Notizen, Kunstwerke und Arbeitsmaterialien sowie eine große Bibliothek umfasste. Zeit, den Blick neu zu fokussieren oder ihn gar zu erweitern?
Die vorliegende, unglaublich dichte Monografie zur Welt der Giedions versucht letzteres, sie erweitert, ist soetwas wie ein Zwischenresumée. Insbesondere anhand der Briefauswahl – ganz oder in Auszügen –, der privaten Fotografien, eingestreuten Erläuterungen und einer sehr dezent eingeflochtenen Biografie öffnet sich die Perspektive auf den CIAM Generalsekretär und seine ebenfalls schreibende und das Netzwerk aus Künstlern, Architektinnen, Schriftstellern und Kuratorinnen bauende Frau mittels eines intimen Bildes auf das Paar und seiner Wegbegleiter. Zeitgeschichte wird lebendig, deren Schwerpunkt die 1920er- bis 1940er-Jahre sind.
Nein, eine Chronologie ist nicht gewollt, die Herausgeberin schaut auf Einzelaspekte, die den Dialog zwischen Carola Giedion-Welcker und ihrem Mann ausmachen könnten. Wir sind hier ein wenig alleingelassen im Strom des Materials, das auf beinahe jeder Seite gelesen, geschaut, weitergedacht werden will. Die intellektuelle Biografie (1989 von Sokratis Georgiadis) wurde hier in ein kongeniales Layout übertragen, das es uns Lesenden erlaubt, der Giedion-Welt recht nahe zu kommen, ohne ihr real nahe zu sein.
Nun sollten die ersten Forschungsarbeiten mit dem hier Gezeigten, Angedeuteten verknüpft werden, um einer Romantisierung, einer Idealisierung nicht nur der Giedion-Beziehung entgegenzutreten. Denn tatsächlich wartet die intellektuelle Welt dieser frühen Modernejahre noch immer auf eine grundsätzliche Kritik am elitären Denken einer Wirtschafts- und Kulturelite (nicht zu verwechseln mit der Avantgarde) über die westliche Kultur insgesamt. Ein grandioses, ein vielleicht zu opulentes Buch mit großem Suchtfaktor! Dickes Lob an die Gestalter und Macher, deren Arbeit auch vier Jahre nach meiner Entdeckung noch nicht eingeholt wurde. Be. K.